Der schmerzliche Absturz und der Phantomschmerz der Amputationen von Bequemlichkeit, Sicherheit und Luxus kann dem einfachen Leben eigentlich nichts anhaben, wenn es dafür Raum gibt. Und das ist meist das Problem.
In meinem letzten Newsletter sprach ich vom einfachen Leben, dem es gelingt, dem drohenden Kollaps unserer fragilen Systeme zu entgehen, weil es sich im Grunde schon da befindet, wo der Zusammenbruch letztlich hinführt. Der Unterschied liegt darin, ob man vom Ereignis unvorbereitet getroffen wird oder nicht. Der schmerzliche Absturz und der Phantomschmerz der Amputationen von Bequemlichkeit, Sicherheit und Luxus kann dem einfachen Leben eigentlich nichts anhaben, wenn es dafür Raum gibt. Und das ist meist das Problem. Denn unvorhersehbare Ereignisse treffen auch die, die eine konkrete Vorahnung haben, sich aber am falschen Ort befinden.
Freiwilliger Verzicht und gleichzeitiger Gewinn von Einfachheit – das klingt wie die zen-buddhistische Standard-Losung aus dem Munde eines Unternehmensberaters. Und auf den ersten Blick glaubt man eine grüne Romanze im Vierseitenhof wahrzunehmen, wo der Verzicht eine Art Novizen-Eifer entfacht, mit dem wir heiteren Geistes den Kampf gegen den Mangel aufnehmen und die Dreifelderwirtschaft neu erfinden können. Genau das meine ich nicht. Das ist Quatsch mit grüner Soße, den uns die Politiker fast aller Parteien seit einigen Jahren gern vorsetzen, wenn sie über Klima, Industrie und Konsum, Lebensmittel, Medizin und Mobilität phantasieren.
Konstruierte Nachhaltigkeit war nie nachhaltig
Denn diese Klientel, die das einfache Leben ihrer Volkserzieher-Idole richtig liebhat und den Verzicht zum Akt moralischer Überlegenheit verklärt, hat den Biomarkt mit tausend veganen Produkten aus aller Welt, das subventionierte elektrische Lastenfahrrad und das Smartphone aus China, die Windkraftanlagen auf bewaldeten Anhöhen, die auf einem 3.500 Tonnen schweren Stahlbetonsockel stehen, den Amazon-Prime-Lieferservice und das Digital-Detoxing-Seminar auf Lanzarote auf der gewissensreinen Agenda stehen. Ohne ihre Nachhaltigkeits-Prothesen könnten diese Menschen genauso wenig leben wie die It-Girls ohne ihre Instagram-Accounts. Genau an diesen intellektuell ausgebremsten Orten, wo man zivilen Gehorsam pflegt und eben das tut, was die „Zivilgesellschaft“ und ihre Zeichensetzer vorgeben, hat der aufgeblähte Staat – der alles andere als nachhaltig ist, aber für sichere Beschäftigung und Bezahlung sorgt – immer recht.
Konstruierte Nachhaltigkeit war nie nachhaltig, sie ist das Lebenskonzept von Filterblasenkindern, denen man seit ihrer Geburt gesagt hat, dass alles gut wird. Irrtum, Scheitern, Gewalt und Absturz gehören nicht zum Erfahrungsschatz dieser Menschen, ebenso wenig die Demut vor der Unzuverlässigkeit des Schicksals, der wissenschaftlichen Prognosen und ihrer eigenen Ideale. Die Elaborate ihrer übersteigerten Lebenskonzepte sind eben nicht Avantgarde, sondern die selbstbetrügerische, brüchige Dekadenz von Hochnäsigen, die die vermaledeite Komplexität ihres widersprüchlichen Lebenswandels einfach nicht wahrhaben wollen.
Das einfache Leben, das ich meine, rechnet mit dem Schwarzen Schwan und sieht den Elefanten im Raum. Die Moralattitüden der vergangenen Jahrzehnte haben unsere „Eliten“ aber dazu verführt, die Zeichen zu ignorieren und die Mahner verächtlich zu machen. Sie haben sich anderen Zeichen verschrieben: den Klimaschäden, dem Rassismus, den Geschlechterstereotypen. Jedoch stehen die Zeichen auch auf: Wohlstandsverlust, Rekordarbeitslosigkeit, Hungersnot und Krieg. Welche Zeichen sollen wir denn jetzt liken?
Gerührtheit von der eigenen Gerührtheit
So wurde aus Deutschland ein Angsthasen-Zuchtverein. Nun bibbern schon alle präventiv vor der Kälte, dem knurrenden Magen, der Atombombe. Aber schuld daran ist nicht Putin, sondern die eigene Arroganz und Gerührtheit von der eigenen Gerührtheit. Man ist ja so gut und hasst nur die Schlechten, was moralisch „total okay“ ist.
Mitte der Siebziger Jahre erschien die deutsche Fassung von „Das Große Buch vom Leben auf dem Lande“, mit dem der Autor John Seymour in durchaus idealisiertem Stil ein Selbstversorgerleben beschrieb, das im Grunde das Wissen alter Agrar-, Garten- und Viehwirtschaft in die Neuzeit übertrug. Es wurde zur Bibel der entstehenden Ökobewegung und erfüllte damals eine gesellschaftliche Sehnsucht nach dem einfachen Leben als Abkehr von Konsum-Mechanismen, die zerstörerisch angelegt sind. Seymour schaffte es mit seinem Buch, eine breite bürgerliche Leserschaft anzusprechen, die nun begann, in ihren Gärten nach seinen Prinzipien zu wirtschaften. Das waren die Prepper der Siebziger... auch die hat man anfangs verlacht.
Ich sah meine Mutter oft mit dem Buch in der Hand im Garten herumlaufen und begann bald, selbst darin zu lesen. Mein Eindruck war damals: Auch die Rückkehr zu einem einfachen Leben braucht einen dicken Wälzer und bleibt recht kompliziert. Denn wie man ein Schwein zerlegt, das wusste auch mein Vater nicht, obwohl er in einem Gasthaus aufgewachsen war. Auch wenn man für ein vereinfachtes Leben ohne Abhängigkeiten viel Wissen und dieses Buch benötigte, schaffte es John Seymour, Optimismus zu verbreiten und Lust darauf, autark zu sein.
Bräsige Abende vor verwelkten Tankstellenblumensträußen
Vielleicht ist das der große Unterschied zu heute, wo uns von menetekelnden Misanthropen die Zukunft madig gemacht wird. Da geht es nicht mehr um Gestalten und Mitmachen, sondern um Verwalten und willfährig sein. Die Ökobewegung der Siebziger Jahre wollte Spaß haben und Alternativen erlebbar machen. Ein einfaches Leben sollte Erfüllung und Sinn bringen, Entbehrungen waren nicht im Fokus. Das unterscheidet sie von den heutigen Ökologisten, die im Verzichtszwang ihre schulmeisterliche Aufgabe gefunden haben und einen Verwaltungsakt daraus machen, die Lebensqualität der Menschen herunterzuschrauben – alles nur zum Guten.
Dazu passt das neue Buch von Karl Lauterbach „Bevor es zu spät ist“ – ein Vademekum für bräsige Abende vor verwelkten Tankstellenblumensträußen. Der Untertitel ist ein echter „Lauterbacher“: „Was uns droht, wenn die Politik nicht mit der Wissenschaft Schritt hält.“ Antwort: Dann würde die Politik die Wissenschaft nicht in den Schwitzkasten nehmen und instrumentalisieren können, wie es der Autor und sein Vorgänger im Ministeramt leider getan haben. Ein Zitat aus der Einleitung:
„Die Einschränkungen zur Bekämpfung der Pandemie, unter denen wir alle so gelitten haben, waren geringfügig und zeitlich sehr begrenzt im Gegensatz zu dem, was wir in der Klimakrise erwarten müssen. Der jetzt vor uns liegende Klimawandel – oder wie gesagt besser: die Klimakatastrophe – wird sogar noch viele solcher Pandemien mit sich bringen.”
Die Fakten liegen auf dem Tisch, die Techniken haben wir, jetzt muss nur noch die Politik handeln, meint Lauterbach und empfiehlt sich selbst als Großinquisitor.
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