Gastautor / 07.02.2016 / 06:30 / 0 / Seite ausdrucken

Das Antidepressivum zum Sonntag (9)

Archi W. Bechlenberg über Claus Abtonny - Rastloser Treibsand

Der Nachtbusfahrer Bernie McNasty, den alle nur Bernie nennen, hat seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen. Sein Leben spielt sich zwischen Busdepot und Busdepot und zwischen Grünphasen und Bremslichtern ab, und er ist damit durch und durch zufrieden, denn Menschen mag er nur in Form von Passagieren mit Dauerkarte, die ihn nicht ansprechen.

Eines Nachts, kurz nach Antritt der Schicht, bleibt Bernies Bus durch einen technischen Defekt liegen. Ein Defekt, der nicht so leicht zu beheben ist; Lünkerstellen am Kurbelwellengehäuse sind porös geworden, und der Öldruck im Motor sinkt rapide. Eine Weiterfahrt ist unmöglich.

Nicht alleine für den Protagonisten des Romans eine Katastrophe. Im Bus sind sechs Passagiere, die ebenfalls alle vor Tagesanbruch an ihren Zielen sein müssen. Da ist der Teilchenphysiker Dr. Sam Heckenberger, in dessen Keller ein entscheidendes Experiment läuft, das er wegen der enormen, damit verbundenen Gefahren nicht in seinem streng abgeschirmten Institut durchführen durfte. Da ist die junge Doreen; sie trägt eine seltene Joghurtkultur bei sich, die unbedingt gekühlt werden muss. Da sind drei ältliche Nonnen, denen der Ausgang gestrichen würde, wenn sie nicht rechtzeitig an ihrer Klosterpforte klingeln. Für Schwester Angela kommt hinzu, dass sie unbedingt eine 'Pille danach' aus der Abteiapotheke benötigt. Da ist dieser schweigsame, kleine Mann, von dem nur ein enormes Doppelkinn unter dem tief ins Gesicht gezogenen Basecap zu sehen wäre, säße er nicht ohnehin in der letzten Reihe. Er blickt ohne Unterlass auf die an der Busdecke angebrachte Uhr und zählt mit lauter Stimme jede Sekunde mit. Und da ist noch seine Reisetasche aus hellem, naturfarbenen Canvas, die sich von innen her langsam rötlichgrün verfärbt und unter der sich eine größer werdende schwarzglänzende Lache bildet.

Für alle Anwesenden hat durch die Panne ein Wettlauf gegen die Zeit begonnen. Nur wenige Stunden bleiben, um das Detonieren der zunehmend explosiver werdenden Stimmung im Bus zu verhindern...

Klaustophobisch, nervenfetzend, ja, über weite Stellen lesenswert - so kann man den neuen Thriller von Claus Abtonny am besten beschreiben. Meisterhaft versteht es der Erfolgsautor von Ich und die Stimmen (1956), Die Augen im Asphalt (1961), Kritik der diätetischen Vernunft (1967-70), Geh, wohin dein Pferd dich trägt (1992) und Reif!!! (2011), existenzialistische Ängste, reine Wollust und die Popkultur der frühen 1980er Jahre derart zu komprimieren, dass es unmöglich erscheint, diese jemals wieder voneinander trennen zu wollen. In dem unscheinbaren Nachtbus am Rand eines Industriekomplexes, der später eine entscheidende Rolle weit über das Kulissenhafte hinaus spielt, lässt Abtonny die gesamte menschliche Tragödie lebendig werden, so, als sei der legendäre, auf Vexierspiele spezialisierte Autor Al Dente (1911-1988) in ihm wiedergeboren.

Gleich von ersten Satz an ("Als Bernie an diesem Abend seinen Bus startete, ahnte er nichts von dem, was kommen würde.") schließt Abtonny an die antike epikureische und hedonistische Philosophie an und verfolgt ihre zeitweise sehr dünne Traditionslinie über die ersten Fahrminuten hinweg bis in unsere Zeit und legt damit eine Gegengeschichte der Philosophie des "Just in Time" vor. Denn nicht nur die Protagonisten dieser Nacht sind Opfer der Zeit; auch die Midway-Ferguson Motorenwerke sind dem enormen Druck von Sekunden und Minuten erlegen, was letztendes die eigentliche Ursache der sich anbahnenden Katastrophe ist: Lünkerstellen am Kurbelwellengehäuse entstehen nur dann, wenn bei der Produktion ein zu enger Zeitrahmen gesetzt wurde. In einem parallelen Erzählstrang übt Abtonny ätzende Kritik an diesen spätkapitalistischen Produktionsmethoden bei Fortbewegungsmitteln und verwirrt den Leser damit vom einen aufs andere Mal; etwas, das kaum jemand so meisterhaft beherrscht wie eben Abtonny.

Doch Abtonny wäre nicht er, würde er dem Leser nicht noch eine weitere Hürde in den Weg stellen. Eine dritte, parallel erzählte Geschichte verfremdet das Kernthema "Zeit" erneut, und dies mit einer Wucht, die ihresgleichen sucht.

Bei einer Radtour werden Molle und Daniel durch Hundegewinsel auf den alten Torfhof gelockt. Sie sind entsetzt. Hier lebt jetzt ein Hundezüchter, dem man schnellstens das Handwerk legen muss. Damit nicht genug - die 16-jährige Konfirmandin Paloma und ihr gleichaltriger Freund Winni erwarten ein Kind. Der gutaussehende Mittdreißiger wird auch von anderen Frauen umschwärmt, will sich aber auf keine feste Beziehung einlassen, und wenn doch, dann nur mit Verfallsdatum...

Bis zur letzten Seite ist der Leser in Abtonnys Inferno gefesselt und gefangen, er kann das Buch nicht mehr aus der Hand legen, bevor er die Lösung der völlig verfahrenen Situation erfahren hat. Was dann - hier zeigt sich Abtonnys Meisterschaft auf dem Höhepunkt - auch den atemlosen Leser mitten in das Geschehen zieht, aus dem es kein Entrinnen gibt: Er vergisst über das Buch jegliche Zeit und kommt irgendwohin zu spät. Stoff für weitere Werke des gnadenlosen Autors.

Claus Abtonny: Rastloser Treibsand, Thriller (2016), 456 Seiten, Paperback, Kafiol-Verlag Tübingen/Wien/London/Ybbs, 24,95 €

Nochmehr kluges Lesefutter finden Sie in Arich W. Bechlenbegrs Herrenzimmer.

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