Vor 75 Jahren fand in einer Villa am Berliner Wannsee eine Konferenz statt, in der die wichtigsten Vertreter der NS-Administration den Holocaust planten, die „Endlösung der Judenfrage“. Das Protokoll ist nur in einem einzigen, in der Nachkriegszeit beschädigten Exemplar des Auswärtigen Amts erhalten. Als Protokollführer fungierte Adolf Eichmann, geboren 1906 in Solingen, aufgewachsen in Linz an der Donau, Jugendfreund Ernst Kaltenbrunners, Mitarbeiter von Vacuum Oil, des österreichischen Zweiges von Standard Oil, späteres Mitglied der SS, Leiter der Abteilung IVB4 im Reichssicherheitshauptamt, Referat „Judenangelegenheiten“, Emissär in „Judenangelegenheiten“, Beauftragter für (forcierte) jüdische Auswanderung, Transportkoordinator der Vernichtung der Juden; nach dem Krieg Hühnerzüchter in der Lüneburger Heide, dann Ingenieur und Mitarbeiter von Mercedes-Benz Argentina; hingerichtet 1962 in der Nähe von Tel Aviv. Auch das jährt sich bald, zum 55. Mal. Papiere über den Kenntnisstand bundesdeutscher Behörden über ihn, Adolf Eichmann, werden bis heute von der Bundesregierung zurückgehalten.
Doch auch seine frühere Rezeption ist und bleibt umstritten, seit er im Eichmann-Prozess 1961 in das Interesse der gesamten Welt geriet; er, der gewissenhafte Mitarbeiter der NS-Verwaltung.
Als ein solches Chamäleon hat Eichmann sich im Prozess präsentiert.
Drei wesentliche Werke dieser Rezeption stammen aus den Federn prominenter Intellektueller und Schriftsteller: Hannah Arendt, Harry Mulisch und Günther Anders ein weiteres stammt aus seiner eigenen Feder („Ich, Adolf Eichmann“, Hrsg. Rudolf Aschenauer, Druffel, Leoni, 1980).
Die Eichmann-Rezeption kann also nicht falsch sein. Jeder sieht, was für sie oder ihn auf der Grundlage eigener Erfahrung sichtbar ist. Je größer die Vor-Erfahrung, desto mehr wird durch diese das „Urteil“ gewichtet. So sieht Hannah Arendt den banalen Bürokraten, Günther Anders den immerhin absichtsvollen Technokraten in einer Welt der Technokratie, der der Versuchung der Entfremdung erliegt. Bestürzend, dass Günther Anders' „Technokratie der Atombombe“ sich heute lesen lässt wie eine Paraphrase auf das Internet und die „Globalisierung“. Bestürzender noch, dass erst sein zweiter Brief an Adolf Eichmanns Sohn Klaus das Lamento allmählich beendet und die Wurzel dessen akzeptiert, was noch am deutlichsten, von den frühen Rezeptionen, aus Harry Mulischs Einschätzung hervorgeht: nämlich die Wurzel einer irrationalen Ideologie als „Grund“ des industriellen Massenmords. David Cesarani, Irmtrud Wojak und Bettina Stangneth haben das begriffen. Nur Gaby Weber geht darüber hinaus, solange die Archive nicht alles preisgeben. Adolf Eichmann selbst sieht sich als ziemlich unschuldiges Opfer der Ideologie, der „Götzen“ und ihrer Hierarchien.
In der Sprache des autoritäts- und ideologiegläubigen Nationalsozialisten
Daher ist auch Hannah Arendts Wahrnehmung zutreffend, wenn auch ziemlich tautologisch und implizit. Wer Bürokratie sieht, sieht immer das „Banale“, sieht Sigel und Paraphen, Aktenzeichen, Beizeichen, Verteiler und Hierarchien, klare Strukturen oder kafkaeske Verzettelungen; in jedem Fall verzettelte Verantwortungen. Es ist nicht mehr und nicht weniger als die „strukturelle Gewalt“, die Bürokratie immer dann bedeutet, wenn sie in einem moralisch luftleeren Raum stattfindet, oder, schlimmer, in einem der moralischen Perversion. Das ist aber nicht der Bürokratie geschuldet. Wer ihr das ankreidet, verwechselt wenigstens vorläufig Täter und Instrument. Hinter dem Instrument, und durch dieses, wird allerdings der Täter sichtbar.
Er wird sichtbar durch die Sprache. Jemand, der sich wie Eichmann im Prozess hinter Dokumenten verschanzt, die er souverän beherrscht, in Organigrammen aufgeht, konkrete Ereignisse und Details aber vergessen hat oder anderen Instanzen zuweist, sich also auf Bürokratie zurückzieht und dabei dennoch vom Jargon des Bürokraten in den des Offizierskasinos wechselt, häufig im selben verschachtelten Satz oder Nebensatz, und dabei das Wort „ich“ nur in Abhängigkeiten, genauer: abhängigen Zusammenhängen, verwendet, der bleibt in der Sprache des autoritäts- und ideologiegläubigen Nationalsozialisten verheddert.
Dass das bemitleidenswert wirkt, hat auch Harry Mulisch festgehalten – und Hannah Arendt, als Schülerin Heideggers, kann diese nationalsozialistische „Hermeneutik“ nicht verborgen geblieben sein; seltsam ist nur, dass sie sie eine „Banalität“ nennt. Dazu muss man, und das geschieht zum Glück, ihren Lehrer und Partner Martin Heidegger befragen - und die gleichen neurolinguistischen Falltüren tun sich auf. Es wird sichtbar durch die Sprache.
Was also ist falsch daran, dass der „Totalitarismus“ das hervorbringt? - Nichts. Er bedient sich nur der banalen Struktur, um seine ideologischen Ziele durchzusetzen. Die Apologetik des Totalitarismus verrät sich. Auch sie verrät sich durch die Sprache.
Machtlos im Machtapparat?
So auch Eichmanns eigenes Werk „Götzen“, so auch die „Sassen-Tonbänder“. Vorsicht ist geboten bei deren Interpretation, sie sind sicherlich ehrlicher, aber ebenso selbstdarstellerisch wie Eichmanns Selbstrechtfertigungen vor Gericht, nur unter umgekehrten Vorzeichen; so auch das Surrogat „Ich, Adolf Eichmann“. Der Duktus mag logisch wirken, die Sprache, ihr Ausweichen auf Topoi der Bürokratie, der Machtlosigkeit im Machtapparat, auch ihr gleichzeitiges Bekennen und Betonen der eigenen Bedeutung und der „Tiefe“ der Entscheidungen - wessen Entscheidungen? – all das verweist auf das selbe.
Dieses Selbe ist die Ideologie. Ohne die Ideologie kein Massenmord, ohne die Ideologie jede Menge banale Bürokratie, die irgendetwas planvoll vorbereitet, strukturiert, umsetzt; es ist nicht die Banalität, die ihr Kennzeichen ist, sondern ihre grundsätzliche und totale Unschuld, die Unschuld des Papiers, der Karteikarten, Zettelkästen und Archive, die Unschuld des Communicans versus der Schuld des Communicatum. Es ist die Unschuld des Hammers, der den Nagel einschlägt und nicht die Schädeldecke, die Unschuld der Atombombe, die nie gezündet wird, die Unschuld des Internets, das Menschen zusammenbringt und nicht Täter mit Opfern der Desinformation. Es ist die Logik der Form unter Unterschlagung des Inhalts. Das ist wirklich banal.
Wer also Eichmann „kritisiert“, darf nicht den Verwaltungsangestellten - und damit alle Verwaltungsangestellten - kritisieren, die zu Spezialisten ihres Gebiets werden, sondern wird gezwungen sein, direkt auf das Böse zu blicken, das sich des Verwaltungsangestellten bedient, der sich von ihm wohlgemerkt freiwillig und gläubig übermächtigen lässt, warum auch immer, und damit selbst zum Teil des Bösen wird. Das ist nicht banal.
Feinde der offenen Gesellschaft
Denn zum Gebrauch des Instruments (Bürokratie, Atombombe, Internet – also: Macht) gehört die Intention, die Absicht – auch und gerade in Form der Ideologie, jener Absicht, die die Massen bezaubern soll, damals wie heute.Oder man weigert sich, sie zu bemerkten und beschränkt sich auf die Kritik des Instruments.Das muss nicht in der Banalität des Bösen enden, es endet nur immer in der Banalität der Kritik.
Wenn allerdings die Maschine zur Welt geworden ist und die Welt zur Maschine, eine chiliastische Welt, wie Günther Anders sie prophezeit – dann endet alle Kritik, dann gibt es keine Verantwortung, und die Moral ist nicht mehr als die volle Diesseitigkeit, die nur noch funktioniert und nichts sonst, die absolute wertfreie Banalität, für immer jenseits von Gut und Böse.
Insofern ist der beste Analytiker Harry Mulisch, der beste Strukturalist Hannah Arendt, der beste Mahner Günther Anders.Denn so funktioniert autoritäres Handeln: Ideologie gepaart mit Bürokratie. Zusammen sind sie Feinde der offenen Gesellschaft.
Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern.