Die Chinesen haben ein Sprichwort, das heißt: Wer die Wahrheit einfangen will, braucht ein schnelles Pferd. In den letzten drei Monaten hatten die Taiwan-Chinesen offenbar einen ganzen Stall voll schneller Pferde. In der ersten Phase der Corona-Epidemie konnten sie auf eine Reihe von brauchbaren Wahrheiten zugreifen, die sie sich vor dem Ausbruch der Krise erarbeitet hatten. Sie versetzten die Taiwanesen in die Lage, mit dem Corona-Ausbruch besser fertig zu werden als alle anderen betroffenen Staaten der Erde.
Das taiwanesische Volk ist theoretisch ein idealer Nährboden für das Virus. Die sozialen Kontakte sind intensiver, weil die Menschen ziemlich gedrängt beieinander leben. Das Land ist kleiner als die Schweiz, hat aber dreimal so viele Einwohner. 665 Menschen auf einen Quadratkilometer, das ist, wenn man von autonomen Agglomerationen wie Singapur und Hongkong absieht, für einen unabhängigen Staat eine Pole Position.
Deshalb wurde es als Sensation empfunden, als das Gesundheitsministerium in der Hauptstadt Taipeh am 3. März den 42. Covid-19-Infizierten meldete. In Festland-China wurden zeitweilig rund tausend Neuinfizierte täglich registriert.
Festland China ist nebenan
Nach einer Modellrechnung von Anfang Januar hätten es in Taiwan eigentlich viel mehr sein müssen. Doch die Zahlen bleiben einstweilen auf niedrigem Niveau. Letzten Donnerstag waren es insgesamt 50 Infizierte. Und immer noch kein Toter.
Dabei hat Taiwan enge Kontakte zu Festland-China, das nur 160 Kilometer entfernt ist. Fast eine Million Taiwanesen lebt und die Hälfte davon arbeitet auch dort. Jedes Jahr besuchen drei Millionen Touristen aus dem großen China das kleine China. Warum blieb die Massenepidemie aus, die in der Volksrepublik China grassiert?
Weil der kleine Inselstaat im Westpazifik besser auf sie vorbereitet war als der Rest der Welt und weil er seine Seuchenstrategen eher in Bewegung gesetzt hatte. Den ersten Corona-Alarm gab es schon Ende Dezember, zu einem Zeitpunkt, als weltweit der Name noch unbekannt war.
Das „CEO Magazine“, ein Fachblatt für Wirtschaftsbosse in der englischsprachigen Welt, hat Taiwan das beste Gesundheitssystem der Erde bescheinigt. Seit der katastrophalen Sars-Pandemie im Jahre 2003 befindet sich das Land in permanentem Alarmzustand. Damals hatte die Regierung ein ausgefeiltes Krisenmanagement entworfen, das jetzt zum Tragen kommt.
Total unter Kontrolle
Nach dem chinesischen Neujahrsfest am 25. Januar setzte die Regierung ein Frühwarnsystem in Kraft, indem sie die nationale Gesundheitsdatenbank mit den taiwanesischen Reisedatenbanken zusammenlegte. Die Bürger können jetzt alle ihre Reiseaktivitäten und gesundheitlichen Beschwerden dorthin übermitteln. Deshalb war die Mobilität auf der Insel von Anfang an total unter Kontrolle.
Die Daten werden benutzt, um die Bevölkerung in verschiedene Gefährdungsklassen einzuteilen. Einwohner mit hohem Risiko werden unter Quarantäne gestellt und über Mobiltelefon überwacht. Per Smartphone-Tracking kann festgestellt werden, ob sich der Betroffenen an die Quarantäne-Regelungen hält. Wer es nicht tut, riskiert hohe Bußgelder.
Das hört sich alles stark nach Orwell an. Doch die Taiwanesen haben wenig Ängste vor dem Überwachungsstaat, weil sie gelernt haben, dass er, wenn es darauf ankommt, ihrer Gesundheit nützt. Es kommt selten vor, dass eine Obrigkeit soviel Autorität genießt. Weil die staatlichen Maßnahmen und die Sicherheit, die sie verbreiten, auf breite Zustimmung stoßen, kam es auch nicht zu Panik und zu Hamsterkäufen.
Es geht auch ohne
Dabei ist Taiwan durchaus kein autoritärer Staat. Aber die Regierung kann wichtige Entscheidungen auch ohne die Zustimmung übergeordneter Instanzen umsetzen. Deshalb ist die Administration schneller und effizienter – auch bei der Bekämpfung des Virus. Die Bürokratie, die Deutschland lähmt, ist in Taiwan auf das Wesentliche beschränkt.
Die Zentralregierung müsste auch niemand fragen, wenn sie beschließen würde, Schulen und Universitäten zu schließen. Ohne föderalistisches Palaver wie in Staaten, die Gewaltenteilung praktizieren. Nur weil die Kurve der Neuinfizierten-Zahlen immer noch ziemlich flach verläuft, hat sie das aber noch nicht getan.
Andere Staaten könnten von Taiwan lernen. Die Insel wird aber von der Volksrepublik China wegen der doktrinären Ein-China-Politik international boykottiert. Auch Deutschland kuscht vor Peking. Berlin unterhält keine diplomatischen Beziehungen zu Taipeh.
Taiwan kann seine Erfahrungen nicht einmal in die Weltgesundheitsbehörde (WHO) einbringen, weil es von ihr ausgeschlossen wurde. Früher durften die Taiwanesen an den WHO-Konferenzen wenigstens als Beobachter teilnehmen. Aber seit ein paar Jahren müssen sie draußen bleiben.
Allerdings, ganz unbeschädigt wird auch die „Republik China“ alias Taiwan nicht davonkommen. Aber sie hält das Virus in Schach. Sie hat gezeigt, dass selbst eine Force Majeure kolossalen Ausmaßes beherrschbar ist. Und zwar ohne den Einsatz autokratischer Schraubzwingen, mit denen Festland-China die Seuche in den Griff zu bekommen sucht.
Gesundheit ist nicht für alle da
Doch die Weltgemeinschaft will davon nichts wissen. Durch den Boykott geht allerhand medizinisches Know-how verloren, das für den Kampf gegen Corona dringend benötigt würde. Das Motto der WHO, „Gesundheit für alle“, gilt für 193 Staaten, nur nicht für Taiwan.
Taiwans Außenminister Jaushiweh Joseph Wu hat aus gegebenem Anlass die gute Zusammenarbeit seines Landes mit Japan, Kanada, den USA und der Europäischen Union gepriesen. Das hat an der Isolation seines Landes nichts geändert. Die Volksrepublik will ihren Boykott gegen die abtrünnige Insel nicht mal vorübergehend einstellen.
Man hat nicht vernommen, dass irgendeine Macht der Erde sich für die Interessen der „Republik China“ eingesetzt hätte. Weil sie in der UNO keinen Sitz hat, darf sie dort auch nicht reden.
Den deutschen Gesundheitsminister Jens Spahn sollte das nicht daran hindern, ein Explorationsteam zu Studienzwecken nach Taipeh zu schicken. Die Regierung dort würde sicher gern mit gutem Rat zu Diensten sein. Aber schon der Vorschlag, Infizierte per Handy zu überwachsen, stößt in Deutschland bereits auf Ablehnung.
Der Bundesbeauftragte für Datenschutz, Ulrich Kelber, sieht darin einen nicht statthaften Eingriff in die Privatsphäre. Er sagt: “Das wäre hier rechtlich gesehen mehr als problematisch.” Welcher Art dies Problem ist und warum der Kampf dagegen so wichtig ist, hat er nicht gesagt. Die Datenschutzhysteriker sind eben stärker als die Pragmatiker. Wie sprach Albert Camus? „Die einzige Art, gegen die Pest zu kämpfen, sind Vernunft und Ehrlichkeit.“
Und daran hapert es offenbar in Deutschland.