Jetzt sind sie raus. Und, als hätten sie es nicht abwarten können, fand der Ausstieg nach ihrer Zeit nicht um Mitternacht statt, sondern schon um elf Uhr abends. Weil sie – natürlich – ihre eigene Zeitrechnung haben. Nicht mitteleuropäisch sondern Greenwich Mean Time. Das ist man sich als Insulaner schuldig. Und nun erst mal das große Aufatmen. Wie Spieler, die nach endlosen Mühen, Irrungen und Wirrungen aus einem Escape Room hinausgefunden haben. Free at last.
Ich hätte etwas ahnen können, als ich 1975 meinen Dienst als Zeitungskorrespondent in London antrat und gleich Merkwürdiges erlebte. Die Leute liefen mit Buttons an der Brust herum, die etwas für den Neuling vom Kontinent kaum Verständliches aussagten. Die einen wollten in der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bleiben, die anderen aber wollten nichts wie raus. Raus? Wieso raus? Wir haben sie doch gerade erst reingelassen. Vor eineinhalb Jahren. Und schon gleich ein Referendum? Ja, spinnen die Briten?
Nein, ich habe damals nichts geahnt. Aber etwas gelernt: Die Briten schienen nicht so begeisterte „Europäer“ zu sein wie wir Westdeutschen. Für uns war Europa die Rettung nach der Hitler-Katastrophe und dem Rauswurf aus dem Klub der anständigen Nationen. Für die Briten war diese europäische Gemeinschaft etwas ganz Praktisches. Ein Wirtschaftsfaktor. Und etwas Realpolitisches: Es war vernünftig, am Tisch dieser Kontinental-Europäer zu sitzen, damit dort die Stimme der (britischen) Vernunft gehört wurde. Und mehr noch: Als ehemalige Besitzer eines Weltreichs schwang bei einigen die Hoffnung mit, dieses angehende europäische Weltreich eines Tages anzuführen. Aber eine Herzenssache? No, Sir.
Ich hätte etwas ahnen können, tat es aber nicht, weil das Ergebnis des Referendums von 1975 so eindeutig war. Zwei Drittel Europäer, nur ein Drittel Separatisten. Na also. Ein Pakt für die Ewigkeit. Aber dass es dazu nach so kurzer Zeit eines Referendums bedurfte, also eines zweiten Eheversprechens, hätte die Alarmglocken klingen lassen müssen. Warum wurden sie nicht nur von mir überhört? Da war wohl auch der Wunsch der Vater des Gedankens. Diese uralte Demokratie, diese wichtige Wirtschaftsnation mit diesem immer noch swingenden London war einfach ein Gewinn für das deutlich weniger swingende und demokratisch angeschlagene Kontinentaleuropa.
Dieser Kanal war tiefer und breiter
Und merkwürdigerweise zeichnete sich schon damals, trotz all der Kriegsfilme und Nazi-Witze im Fernsehen, so etwas wie eine special relationship zwischen England und Deutschland ab. Der Franzose Charles de Gaulle hatte sie ja nicht reingelassen. War er noch sauer, dass die Briten ihn im Krieg nicht ernst genommen und am ausgestreckten Arm hatten verhungern lassen? Jedenfalls waren ihre beste Hoffnung schon damals diese etwas spießigen Leute in Bonn. Erst als de Gaulle von der französischen Bühne abtrat, setzte sich das – nicht nur – deutsche Ja in Richtung England durch.
Aber nicht jeder auf der Insel nahm das Ja-Wort mit Begeisterung an. Die junge Ehe blieb turbulent. In der Labourpartei gab es starke Stimmen gegen den kapitalistischen Koloss Europa. Bei den Konservativen gab es nicht ganz so starke Stimmen gegen die Fremdbestimmung von jenseits des Kanals. Es wurde doch schnell sichtbar: Dieser Kanal war tiefer und breiter, als es die Geografie vermuten ließ. Es wuchs nicht richtig zusammen, was vielleicht eben doch nicht zusammen gehörte. So ärgerlich das „Non“ des Franzosen gewesen ist, der Sieg über de Gaulle reichte nicht als dauerhaftes Bindemittel zum Kontinent.
Die Stimmen der Skeptiker, die anfangs bei Labour lauter waren, schwollen nach und nach bei den Konservativen zu einem nicht zu überhörenden Chor an. David Cameron konnte das ständige Nörgeln einfach nicht mehr ertragen und beschloss, das Thema ein für allemal zu beerdigen. Selbstsicher wie der Kapitän der Titanic fuhr er gegen den Eisberg. Er tauchte ab, Boris Johnson tauchte auf, auch wenn er für eine Weile der unglücklichen Theresa May das Ruder überließ. Sein Schlachtruf „get Brexit done“ hat sich zum neuen Jahr eine Stunde vor Mitternacht mitteleuropäischer Zeit erfüllt. Rückblickend ist man versucht zu staunen, dass diese brüchige Ehe immerhin 47 Jahre gehalten hat. Knapp die Goldene Hochzeit verfehlt.
Jetzt darf ich noch bis Oktober mit meinem Personalausweis nach England reisen, um meine dort lebende Tochter Katrin zu besuchen. Danach muss ich meinen Reisepass mitnehmen. Und sollte ich den nostalgischen Wunsch haben, mich dauerhafter im alten England niederzulassen, wo ich zehn Jahre lang gearbeitet habe und was bisher no problem gewesen wäre, so hieße es jetzt: einen wohlbegründeten Antrag stellen und hoffen auf die Gnade der britischen Bürokratie. Ob es reicht, Vater einer Tochter mit Aufenthaltsrecht in England zu sein? Nein, eben nicht. Der Familiennachzug so vieler Ausländer – wir kennen das aus Deutschland – war den Briten schon immer ein Dorn im Auge. Dem haben sie ab 1. Januar eine Schranke entgegengestellt. Diese Schranke wirkt auch in entgegengesetzter Richtung: Briten mit dauerhaften Kontinentalsehnsüchten sind nicht mehr free at last sondern müssen als Bürger eines Drittstaates bei uns betteln.
Strafe für die Abtrünnigen
Die praktischen Auswirkungen der Scheidung lassen sich zur Zeit nicht testen, weil Corona die Menschen sowieso einsperrt, auf dem Kontinent wie auf der Insel. Eines kann man sagen: Scheiden tut zwar weh, aber ein dauerhafter Ehekrieg ist unerträglich. Man kann nur hoffen, dass es nach dem Zoff um die Trennungsmodalitäten wieder zu einem friedlicheren Nebeneinander kommt. Auch da könnte die special relationship zwischen London und Berlin mal wieder helfen. Denn die entente cordiale ist Geschichte. Emmanuel Macron wollte – wie einst de Gaulle – die Briten am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Strafe für die Abtrünnigen. Boris Johnson setzte auf Angela Merkel, und mit ihrer Altersruhe stellte sie sicher, dass es zu einer Trennung mit vorläufigem Happy End kommt.
Bleibt es beim Happy End? In England leben fast vier Millionen EU-Bürger, davon mehr als 300.000 Deutsche. Manche von ihnen haben die aufgeheizte Stimmung während des Brexit-Zoffs am eigenen Leib gespürt. Jetzt sollte allmählich Ruhe einkehren, auch für die foreigners im Königreich. Denn das EU-Thema ist – anders als David Cameron es sich vorgestellt hat – endgültig vom Tisch.
Oder vielleicht doch nicht? Die Entscheidung gegen Europa vor viereinhalb Jahren war knapp. 52 zu 48. Und die Pro-Europäer haben den Traum von einer Rückkehr in die Gemeinschaft noch nicht endgültig begraben. Wer weiß, was eines Tages geschehen wird. Vielleicht kann ich mich als Hundertjähriger doch noch im heimgekehrten EU-Land Großbritannien ohne Bürokratie niederlassen. Oder die Zukunft heißt Kleinbritannien, weil sich die Schotten – späte Antwort auf die Niederlage bei Culloden – von England absetzen und mit gerolltem „R“ rufen „Frrree at last!“ Warum nicht? Es muss ja nicht London sein. Edinburgh ist genauso schön und nicht so großspurig. Es verhält sich wie Hamburg zu Berlin: Kleiner, aber feiner. Allerdings müsste ich dann, wenn ich von Edinburgh nach London reisen wollte, meinen Pass mitnehmen.