Michael Miersch / 25.06.2007 / 10:30 / 0 / Seite ausdrucken

Bin ich verrückt, oder sind es die anderen?

Dankesrede von Henryk M. Broder zum Empfang des Ludwig Börne Preises 2007 in der Frankfurter Paulskirche:

Ich danke Ihnen, dass sie heute hergekommen sind, um mit mir zu feiern. Wie Sie sich denken können, ist die Verleihung des Ludwig-Börne-Preises an mich nur ein kleiner Schritt vorwärts für die Menschheit, aber ein großer Schritt für mich in Richtung der Hall of Fame der großen Geister. Ich sage das in aller Unbescheidenheit und im vollen Bewusstsein, dass es zum guten Ton und zum Ritual solcher Feiern gehört, sich verwundert und überrascht zu zeigen, dass es nicht einen anderen erwischt hat, einen, der es viel mehr verdient hätte.

Sogar Kardinal Ratzinger hatte vor seiner Wahl zum Papst den Allmächtigen angefleht, er möge den Kelch an ihm vorbeigehen lassen. Nein, ich finde, Helmut Markwort hat die richtige Wahl getroffen.

Je länger ich darüber nachdachte, worüber ich heute reden sollte, umso klarer wurde mir, dass es umso besser wäre, je weniger ich sagen würde. Ich könnte, wie vor kurzem beim Münchener Amtsgericht, vor sie hintreten, ein paar Angaben zur Person machen, ansonsten die Aussage verweigern und den Rest meinen Anwälten überlassen, die heute hergekommen sind, um mich vor Dummheiten zu bewahren.

Grüß Gott, Herr Gelbart; schön, dass Sie da sind, Herr Hegemann. Aber das wäre langweilig, und Dummheiten zu begehen macht viel mehr Spaß, als Dummheiten aus dem Weg zu gehen. Und deswegen möchte ich doch die Gelegenheit nutzen und etwas sagen, auch auf die Gefahr hin, mir eine Blöße zu geben und unsouverän zu erscheinen.

Ich werde in zwei Monaten einundsechzig. Ich kam vor fünfzig Jahren mit meinen Eltern nach Deutschland, ich schreibe seit vierzig Jahren. Ich bin ein Bundesbürger mit Migrationshintergrund, ein Beutedeutscher. Meine Eltern haben den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust überlebt; als ich 1990 nach Berlin kam, war die Mauer schon gefallen, die Glienicker Brücke frei begehbar und der Potsdamer Platz noch eine Brache.

Ich weiß, ich bin ein Glückskind. Ich habe noch jeden Charterflug überlebt, letztes Jahr einen Bestseller geschrieben und eine Tochter, die soeben das Abitur gemacht hat - mit einer Note, die mich an meiner Vaterschaft zweifeln lässt.

Und doch verspüre ich immer öfter ein leises Unbehagen, sobald ich mein Arbeitszimmer verlasse und mich in die Welt begebe, und sei es nur zum Zeitunglesen ins Café Einstein. Es ist kein Katzenjammer, der aus dem Überfluss resultiert, kein Weltschmerz, der sich sich selbst genügt, es ist das Gefühl: Bin ich verrückt, oder sind es die anderen?

Von Oskar Panizza stammt der Satz: Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft. Und diese Art von irrer Vernunft scheint allgegenwärtig. Wie finden Sie es, dass der Umweltminister Siegmar Gabriel demonstrativ Bahn fährt - nur um seinen Fahrer samt Dienstwagen zum Einsatzort nachreisen zu lassen? So kreuzen der Minister und sein Dienstwagen kreuz und quer durch die Republik, jeder für sich und doch vereint in dem Bemühen, die Umwelt zu schonen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Und keiner lacht.

Ist es nicht seltsam, mit welcher Heftigkeit das Für und Wider der neuen Frisur von Ursula von der Leyen debattiert wurde? Und wenn man die Diskussionen um die Nachfolge von Sabine Christiansen und Anne Will verfolgte, musste man zu dem Schluss kommen, dass es nicht um die Besetzung zweier Fernsehsendungen, sondern eine Neuregelung der Erbfolge im Hause Habsburg ging.

Ich versuche zu verstehen, warum eine Raketenabfanganlage, die von den Amerikanern in Tschechien gebaut werden soll, den Menschen Angst macht und die Politiker von einer Wiederbelebung des Kalten Krieges phantasieren lässt, während die Tatsache, dass Iran sich zur Atommacht erklärt hat, so gelassen wie ein unvermeidliches Naturereignis hingenommen wird. Es gab keinen Aufschrei der Empörung, als der Direktor des Hamburger Orient-Instituts vor kurzem erklärte, falls Iran wirklich nach Atomwaffen strebe, dann nur deshalb, um mit dem Westen auf gleicher Augenhöhe verhandeln zu können. Teheran gehe es darum, endlich respektiert zu werden.

Europa müsse keine Angst haben, sagte der bekannte Nahost-Experte, Europa wäre “sicher das letzte Ziel, das Iran einfallen würde, falls es wirklich aggressive Absichten verfolgen sollte”. Eine Atommacht Iran wäre nur “für seine Nachbarn” ein Problem, “für eine säkulare Türkei und natürlich für Israel”, aber Europa, das gute alte Europa, müsse sich “von Iran in keiner Weise bedroht fühlen”.

Vermutlich geht der Mann davon aus, im Falle eines iranischen Atomangriffs auf die Türkei oder auf Israel würde sein Orient-Institut vom atomaren Fallout verschont bleiben, weil er immer so nett und respektvoll über die Mullahs und deren Politik gesprochen hat. Diese Art von Entgegenkommen scheint effektiver und preiswerter zu sein als jeder Raketenschutzschild. Alternativ dazu könnte man auch den Experten selbst als Abwehrwaffe aufbauen, auf einem freien Feld irgendwo in der Lüneburger Heide oder in der Mark Brandenburg, wo er sich dann mit weit ausgebreiteten Armen den anfliegenden iranischen Raketen entgegenstellen und rufen würde: “Verschont uns! Wir sind die Guten!”

Das sind die Momente, in denen ich mich wirklich frage: Bin ich verrückt, oder sind es die anderen? Und wenn es dann auch noch heißt, das Existenzrecht Israels sei nicht verhandelbar, es stehe nicht zur Disposition, höre ich aus solchen Zusicherungen das Gegenteil heraus.

Wie würden Sie reagieren, wenn Ihr Nachbar Ihnen jeden Tag versichern würde, er habe nicht vor, Sie umzubringen, Ihre Frau zu vergewaltigen und hinterher Ihr Haus abzufackeln? Die meisten von Ihnen würden das Problem vermutlich ignorieren, einige besonders Mutige würden den Nachbarn zu einem therapeutischen Gespräch einladen, sich von seiner schweren Kindheit berichten lassen und ihn davon zu überzeugen versuchen, dass man mit Gewalt keine Probleme lösen könne.

Und genau das ist es, was derzeit in Europa passiert. Alle wissen, es gibt ein Problem. Keiner weiß, wie man es lösen könnte. Also wird es entweder ignoriert, oder man sucht nach einem therapeutischen Ansatz, um wenigstens etwas Zeit zu gewinnen. Der Mann in Teheran, der sich eine “World without Zionism” wünscht, der den letzten Holocaust leugnet und den nächsten plant, der sei doch nur ein Angeber und Wichtigtuer, ein Verbalradikaler, der sich mit markigen Sprüchen gegen seine Konkurrenten daheim zu profilieren versuche. Er meine es nicht so, und falls er doch an einer Atombombe baue, werde diese frühestens in drei bis fünf Jahren fertig sein. Kein Grund also, beunruhigt zu sein, zumal im schlimmsten aller Fälle es nur die säkulare Türkei und “natürlich Israel” erwischen würde.

Ich hatte es mir vorgenommen, heute ausnahmsweise nichts zur Appeasement-Politik der Europäer gegenüber dem neuen Totalitarismus zu sagen, der die Tradition des Faschismus und Kommunismus aufnimmt, um sie diplomatisch und technologisch weiterzuentwickeln. Ich mag mich nicht wiederholen. Freilich: Wir haben es immer wieder mit derselben Situation zu tun: Dem Tatendrang der einen Seite, die sich als der bewaffnete Arm Gottes versteht, steht das hilflose “Nie wieder!”- und “Wehret den Anfängen!”-Gestammel der anderen Seite gegenüber, die nicht gemerkt hat oder nicht merken will, dass die Anfänge schon lange vorbei sind. Das Engagierteste, das man von ihr erwarten kann, ist das alljährliche Gedenken an die Befreiung von Auschwitz, denn nicht nur in Deutschland, in ganz Europa wird der Kampf gegen die Nazis umso heftiger geführt, je länger das Dritte Reich tot ist.

Wenn sich aber ein deutscher Angler in Grenzgewässern versegelt und anschließend zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt wird oder fünfzehn britische Soldaten festgenommen und der Welt als Spione vorgeführt werden, dann macht sich Ratlosigkeit breit; man möchte den Dialog mit dem despotischen Regime nicht gefährden und auf keinen Fall mit Sanktionen drohen, denn das würde die Lage nur verschlimmern.

Einer der britischen Soldaten brachte die Situation nach seiner Freilassung und Heimkehr auf den Punkt. Er sagte: Fighting was no option. Wozu wird dann einer Soldat, wenn Kämpfen keine Option ist? “Fighting is no option” wäre ein schönes Motto für die europäische Verfassung, man sollte den Satz auch auf alle Euroscheine drucken.

Aber ich will heute nicht granteln und nicht zürnen, mich nicht über den Verfall der Werte und die Volksmusikabende im öffentlich-rechtlichen Fernsehen aufregen. Ich will mich am liebsten überhaupt nicht mehr aufregen. Ich finde die vielen hauptamtlichen Aufreger nur noch lächerlich. Sie sitzen bei Christiansen, bei Illner oder im Presseclub und geben Sätze von sich, die sich so anhören wie ein rostiges Gartentor, das man vor zehn Jahren zuletzt geölt hat. Vor die Wahl zwischen Depression und Aggression gestellt, habe ich mich immer für die Aggression entschieden. Das erschien mir bekömmlicher. Inzwischen freilich suche ich nach einem dritten Weg, nicht weil ich weiser, sondern weil ich müder geworden bin. Irgendwann fiel mir auf, dass mein Blick öfter von Anzeigen für Seniorenresidenzen und den Treppenlift von Lifta als von der Werbung für Dessous von Victoria’s Secret angezogen wird. Ich bin darüber so erschrocken, dass ich mich inzwischen dazu zwinge, Berichte über das Liebesleben der Jungs von Tokio Hotel zu lesen, um den Anschluss an die Moderne nicht zu verlieren.

Aber diese Strategie der Ablenkung kostet Kraft, und sie funktioniert nur bedingt. Denn allen guten Vorsätzen zum Trotz rege ich mich immer noch auf, öfter und heftiger, als ich es möchte. Um am Ende immer wieder bei der Frage zu landen: Bin ich verrückt, oder sind es die anderen? Ist es wirklich wahr, oder habe ich es mir nur eingebildet, dass der Intendant eines Berliner Theaters über die Killer, die unter dem Markenlogo RAF anderer Menschen Blut vergossen haben, sagt, sie seien “keine gewöhnlichen Mörder” gewesen, “die töteten, um sich zu bereichern”, sondern fehlgeleitete Idealisten ohne materielle Interessen, die “etwas gegen die Ermordung von Hunderttausenden von Kindern und Frauen” in Vietnam unternehmen wollten?

Abgesehen davon, dass auf dem Höhepunkt der RAF-Aktionen der Vietnamkrieg schon vorbei war, müsste nach einem solchen Satz die Erde beben - so lange, bis der Intendant vom eigenen Orchestergraben verschluckt wird.

Kann es wirklich sein, dass der rechtskräftig verurteilte Mörder eines elfjährigen Kindes mit einer Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Erfolg hat, weil seine Menschenrechte durch die Androhung körperlicher Schmerzen beim polizeilichen Verhör verletzt wurden? Er habe, berichtete der Anwalt der Mörders, “ergriffen und tief berührt” auf die gute Nachricht aus Straßburg reagiert, dass der Gerichtshof seine Beschwerde zur Entscheidung angenommen habe. Und wenn das Verfahren aufgerollt wird, stehen die Chancen nicht schlecht, dass es mit einem Freispruch beendet wird, weil die Regeln eines fairen Verfahrens verletzt wurden.

Ich weiß, auch ein Mörder hat einen Anspruch auf einen Prozess nach den Regeln der Strafprozessordnung, aber ein elfjähriges Kind, dessen Recht auf Leben missachtet wurde, hat einen Anspruch darauf, dass der Mörder nicht zum Opfer seiner eigenen Tat stilisiert wird. Theoretisch sind das alles Selbstverständlichkeiten, über die man eigentlich nicht reden müsste.

Dass es praktisch keine Selbstverständlichkeiten sind, hat damit zu tun, dass der gesunde Menschenverstand außer Kraft gesetzt und durch drei Untugenden ersetzt wurde: Äquidistanz, Relativismus und Toleranz.

Ja, sie haben sich nicht verhört: ich sagte Toleranz. Toleranz war das Gebot der Zeit, als Lessing seinen Nathan in eine Welt setzte, die vertikal organisiert war. Die einen waren oben und die anderen waren unten, und dazwischen war wenig. Aber in horizontal organisierten Gesellschaften, in denen es kein Oben und kein Unten, sondern ein breites Spektrum an homogenisierten Angeboten gibt, unter denen man wählen kann, in horizontal organisierten Gesellschaften kommt das Toleranzgebot nicht den schwachen, sondern den Rücksichtslosen zugute. Sie sind es, die mit der Toleranzkeule um sich schlagen und Rechte einfordern, die sie anderen verweigern.

Wir werden täglich aufgerufen, für alle möglichen Fundamentalismen und Fanatismen Verständnis zu haben und Toleranz zu praktizieren, Vorleistungen zu erbringen, ohne Gegenleistungen zu erwarten. Ein deutscher Nobelpreisträger hat den Vorschlag gemacht, eine Kirche in eine Moschee umzuwidmen, als GoodwillGeste den Muslimen gegenüber. Bis jetzt warten wir vergeblich auf den Vorschlag eines islamischen Intellektuellen, eine Moschee in eine Kirche umzuwandeln, denn so eine Idee, öffentlich geäußert, könnte ihn sein Leben kosten. So wie es einen afghanischen Muslim fast das Leben kostete, als er zum Christentum konvertierte. Er entging der Todesstrafe nur dadurch, dass er für verrückt erklärt wurde, nachdem sich Politiker von Angela Merkel bis Kofi Annan seiner angenommen hatten.

Toleranz steht auf dem Paravent, hinter dem sich Bequemlichkeit, Faulheit und Feigheit verstecken. Toleranz ist die preiswerte Alternative zum aufrechten Gang, der zwar gepredigt, aber nicht praktiziert wird.

Wer heute die Werte der Aufklärung verteidigen will, der muss intolerant sein, der muss Grenzen ziehen und darauf bestehen, dass sie nicht überschritten werden. Der darf “Ehrenmorde” und andere Kleinigkeiten nicht mit dem “kulturellen Hintergrund” der Täter verklären und den Tugendterror religiöser Fanatiker, die Sechzehnjährige wegen unkeuschen Lebenswandels hängen, nicht zur Privatangelegenheit einer anderen Rechtskultur degradieren, die man respektieren müsse, weil es inzwischen als unfein gilt, die Tatsache anzusprechen, dass nicht alle Kulturen gleich und gleichwertig sind.

Wer sich zur selektiven Intoleranz bekennt, der wird auch darauf achten, nicht in die Falle der Äquidistanz und des Relativismus zu tappen. Inzwischen kann man auf jeder Tupperware-Party Punkte sammeln, wenn man nur erklärt, George Bush und Usama Bin Ladin seien aus demselben Holz geschnitzt, die Zahl der Menschen, die bei Terroranschlägen ums Leben kommen, sei viel kleiner als die Zahl der Verkehrstoten, und die christlichen Kreuzfahrer hätten viel mehr Blut vergossen als die islamischen Terroristen heute. So kann man sich aus der Wirklichkeit schleichen, aber man entkommt ihr nicht. Ich wäre nicht überrascht, wenn demnächst eine Kannibalen-Selbsthilfegruppe ihre Anerkennung als Alternative zur vegetarischen Lebensweise fordern würde, zeichnen sich doch beide durch eine gewisse Einseitigkeit aus.

Vor kurzem hat ein Berliner Verwaltungsgericht zugunsten einer politischen Gruppe entschieden, die zu einer Anti-Kriegs-Demonstration aufgerufen hatte. Der Berliner Polizeipräsident hatte den Veranstaltern untersagt, bei der Demo Fahnen und andere Symbole der Hizbullah zu führen. Die Demonstranten aber fühlten sich eines Grundrechts beraubt und riefen das Gericht an. Das entschied, die Hizbullah sei Partei in einem bewaffneten Konflikt, bei dem man sowohl die eine wie die andere Seite unterstützen könne. Und so werden die Kinder und Enkel der Judenmörder von gestern demnächst unter der Fahne der Judenmörder von morgen für eine gerechte Endlösung der Nahost-Frage demonstrieren.

Womit ich wieder bei der Mutter aller Fragen wäre: Bin ich verrückt, weil ich so etwas absurd und obszön finde, oder sind es die anderen, die nichts dabei finden? Habe ich ein Wahrnehmungsproblem oder der Präsident des Frankfurter Landgerichts, der mich wegen Beleidigung angezeigt hat, weil ich mir erlaubt habe, darauf hinzuweisen, die Richter der Bundesrepublik seien “die Erben der Firma Freisler”? Offenbar habe ich etwas übersehen. Die Bundesbahn ist die Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn, die Bundeswehr ist die Rechtsnachfolgerin der Reichswehr und der Wehrmacht, die ganze Republik trägt schwer am Erbe des Dritten Reiches. Nur die Wiege der bundesdeutschen Justiz stand ganz allein in einer Suppenküche der Heilsarmee, wo sonst.

Ich bin mir durchaus der Absurdität des Augenblicks bewusst. Ich bekomme einen Preis, der nach einem Juden benannt ist, der an Deutschland gelitten hat. An Deutschland zu leiden scheint überhaupt eine sehr jüdische Tugend zu sein: von Börne und Heine über Jakob Wassermann zu Wolf Biermann und Marcel Reich-Ranicki. Ich möchte mich dieser Tradition gerne verweigern. Wenn ich schon leiden muss, dann nicht an Deutschland, sondern an meiner eigenen Unvollkommenheit. Ich weiß, welche Rolle ich spiele: die des jüdischen Pausenclowns, der in einer großen Manege seine kleinen Kunststücke vorführen darf. Ich will gar nicht bestreiten, dass es mir Spaß macht und dass ich es gerne mache, meine Clownereien sind ein Beweis dafür, wie liberal die Gesellschaft geworden ist, die sogar meine Grenzverletzungen goutiert, solange sie dabei unterhalten wird.

Ich habe mich in einer Nische eingerichtet, aus der ich manchmal zu entkommen versuche: nach Island, nach Kalifornien, weit weg von deutschem Größenwahn, jüdischer Wehleidigkeit und multikulturellen Missverständnissen. Und dann zieht es mich doch zurück in die Arena der Eitelkeiten, zu den anderen Pausenclowns, die mit dem Finger aufeinander zeigen und sich gegenseitig vorwerfen, Profiteure der repressiven Toleranz zu sein.

Die Frage, ob ich verrückt bin oder die anderen, werden wir heute nicht klären können, sie muss offen bleiben, vorläufig. Ich weiß nur, dass ich nicht der Einzige bin, der sie sich stellt. Jemand, dem ich viel verdanke, bei dem ich viel gelernt und einiges geklaut habe, hat sie sich immer wieder gestellt: der Geschichtenerzähler und Kabarettist Hanns Dieter Hüsch, das Schwarze Schaf vom Niederrhein. Hüsch war, ohne selbst den Anspruch zu erheben, ein Philosoph oder, wie man auf Jiddisch sagen würde: a Mensch. Er hat von der “Solidarität der Einzelidioten” gesprochen und viele wunderbare Texte geschrieben, darunter einen, der in meinem Kopf rumort, seit ich ihn das erste Mal gehört habe. Erlauben Sie mir, als Verbeugung vor einem großen Meister der Sprache Ihnen diesen Text vorzulesen:

Ich sing für die Verrückten
Die seitlich Umgeknickten
Die eines Tags nach vorne fallen
Und unbemerkt von allen
An ihrem Tisch in Küchen sitzen
Und keiner Weltanschauung nützen
Die tagelang durch Städte streifen
Und die Geschichte nicht begreifen
Die sich vom Kirchturm stürzen
Die Welt noch mit Gelächter würzen
Und für den Tod beizeiten
Sich selbst die Glocken läuten
Die mit den Zügen sich beeilen
Um nirgendwo zu lang zu weilen
Die jeden Abschied aus der Nähe
kennen
Weil sie das Leben Abschied nennen
Die auf den Schiffen sich verdingen
Und mit den Kindern Lieder singen
Die suchen und die niemals finden
Und nachts vom Erdboden verschwinden
Die Wärter stehen schon bereit mit
Jacken
Um werkgerecht die Irrenden zu
packen
Die freundlich auf den Dächern
springen
Für diese Leute will ich singen
Die in den großen Wüsten sterben
Den Schädel längst schon voller
Scherben
Der Sand verwischt bald alle Spuren
Das Nichts läuft schon auf vollen Touren
Die sich durchs rohe Dickicht schieben
Vom Wahnsinn wund und krank
gerieben
Die durch den Urwald aller Seelen
blicken
Den ganzen Schwindel auf dem
Rücken
Ich sing für die Verrückten
Die seitlich Umgeknickten
Die eines Tags nach vorne fallen
Und unbemerkt von allen
Sich aus der Schöpfung schleichen
Weil Trost und Kraft nicht reichen
Und einfach die Geschichte überspringen
Für diese Leute will ich singen.

Hanns Dieter, ich danke dir. Und ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

http://ondemand-mp3.dradio.de/podcast/2007/06/24/dlf_200706241706.mp3

 

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