Antje Sievers / 27.01.2016 / 19:00 / 17 / Seite ausdrucken

Als essgestörte fünfjährige Neurotiker noch nicht erfunden waren

In den achtziger Jahren, als ich meine erste eigene Wohnung bezog, schenkte mir meine Großmutter zum Einstand ein großformatiges Kochbuch. Über 500 Seiten Rezepte und Kochanleitungen aus dem Magazin „essen und trinken“ von Gruner + Jahr. Bis heute ist dieses Kochbuch die wichtigste Unterstützung meiner kulinarischen Kompetenzen. Als die Schlemmerbibel vor zwei Jahren durch den ständigen Gebrauch auseinanderzufleddern begann, trug ich sie liebevoll um die Ecke zur Buchbinderin, um sie wieder in Form bringen zulassen.

Ach das! rief die Buchbinderin. Das habe ich auch zuhause. Ich komme ohne das Ding gar nicht aus. Wenn ich mein Standardwerk also nicht gerade für die Zubereitung von Putenbraten mit Preiselbeerfüllung oder Kartoffel-Steinpilz-Gratin benötige, berausche ich mich zwischendurch gern mal an den hinreißenden Fotografien, auf denen Food-Stylisten, Designer und Fotografen das Äußerste geleistet haben. Auf nüchternen Magen ist von diesem Zeitvertreib dringend abzuraten, besonders, wenn man noch nicht eingekauft hat. Hat man den Appetit mit Bildern von saftigem Filet Wellington oder Rindertopf Provençale angeregt, ist der Anblick eines halben Rosinenbrötchens mit einem ranzigen Rest Butter doppelt so drückend.

Die Zutaten für die Rezepte waren damals wesentlich vielfältiger und abwechslungsreicher. Und nirgendwo auch nur ein erhobener Zeigefinger. Schmeckt nicht gab’s nicht. Egal ob frittiertes Kalbsbries oder Nierchen in Knoblauchsahne, ob Perlhuhn mit Orangen auf wildem Reis oder Hasentopf: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Also alles. Von biologischem ungesüßtem Nussmus, Agavendicksaft und Tofuwurst war weit und breit nichts zu sehen und die Hausmachersülze wurde selbstverständlich, wie bei Urgroßmuttern, unter Zuhilfenahme von zwoeinhalb Kilo Schweinefüßen hergestellt. Mitmenschen mit Eiweißallergie, Glutenallergie oder Laktoseunverträglichkeit waren so selten wie Außerirdische, und der einzige damals bekannte Veganer war Herr Tur Tur aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“.

Die mundwässernden Bilder zeugen noch heute von der ungebremster Lebensart einer leider untergegangen Epoche: Das Hähnchen mit Pastis und Knoblauch wurde flankiert von einer Dose Lipton’s Eistee und – noch böser – einem Aschenbecher mit einer angebrochenen Schachtel Gitanes. Und damit nicht genug, denn zum Runterspülen des frankophilen Gerichts wurde nicht etwa lauwarmes Mineralwasser ohne Blubber oder naturtrübe Bio-Apfelsaft-Schorle empfohlen, sondern ein guter Rosé aus der Provence. Es war „essen & trinken“ wirklich ernst mit dem Essen und Trinken. Auch hinter dem riesigen Schweinebraten mit goldener Kruste, Semmelknödeln und Rotkohl lockten zwei schaumgekrönte Biertulpen, zu Lammsuppe mit grünen Bohnen passte selbstverständlich nur ein herbes Pils, und zu Matjes mit Dill obendrein anschließend noch ein Aquavit. Jawoll.

Kindergerichte sucht man in dem Kochbuch vergeblich. Aus gutem Grund. Der essgestörte fünfjährige Neurotiker war noch nicht erfunden. Damals ahnte man auch nicht, dass Kinder kindgerechte biologische Schonkost aus nachhaltigem Anbau brauchen. Kinder saßen stattdessen dreimal täglich zu geregelten Zeiten mit dem Rest der Familie am Tisch und aßen das, was alle aßen, sobald sie in der Lage waren, eine Gabel zum Mund zu führen. Und wenn’s sauer eingelegter Brathering oder Grützwurst mit Rosinen und Kartoffelbrei war. Das klappte in 98Prozent aller Haushalte völlig problemlos. Kein Mensch wäre auf die Idee verfallen, dem Nachwuchs Extrakost aus Pastinaken und styroporartigen glutenfreien Reisplätzchen und einem Glas Mandelmilch zu kredenzen. Was waren das für paradiesische Zeiten. Essen war keine Religion. Essen hat noch richtig viel Spaß gemacht.

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Carmen Hecht-Janßen / 28.01.2016

Liebe Frau Sievers, ich erinnere mich mit Begeisterung an die Zeit, als die Kinder einfach das gegessen haben, was es am Familientisch gab. Es war einfach herrlich und herrlich einfach, quasi stressfrei, ohne ständige Extrawürste. Allerdings habe ich noch kein Kind Pastinaken mit Mandelmilch verzehren sehen. Vielleicht gibts das nur in Berlin? Viel grässlicher finde ich die Extraanfertigungen in Form der ewigen Pommes, Eierkuchen, frittierten Hähnchennuggets und Nudeln. Schauen Sie sich mal eine “Kinderkarte” eines “normalen” Restaurants an. Schauerlich.

Wolfgang Bartsch / 28.01.2016

Wie recht Sie haben! Ich habe den Eindruck, wir sind frei nach Dieter Bohlen, “nur noch von Bekloppten umgeben.”

Romana Blechschmidt / 28.01.2016

Ein Lesegenuss, liebe Frau Sievers. Herzlichen Dank! Das Kochbuch habe ich übrigens auch.

Andreas Stadler / 28.01.2016

Ich kann Ihnen nur beipflichten, ich habe das Buch auch zu Hause. Ich war neulich auf einer veganen Hochzeit eingeladen, es war nicht schlecht, aber die warmen Speisen waren irgendwie ungewürzt und geschmacklos, es kam leider kaum über Mensa-Essen an der Uni hinaus, waren aber natürlich schweineteuer für die Gastgeber. Essen für Nicht-Veganer gab es nicht. Den Umstand mit Kindergerichten finde ich auch merkwürdig. Extra Essen für Kinder gab es aber schon, nur es unterschied sich in der Portion oder Würze, oder Alkoholgehalt. Ich hab mich von diesen Kindergerichten aber so gut es ging ferngehalten. Grützwurst mit Apfelmus und Kartoffelbrei, dafür schwärme ich heute noch.

Alfons Winkelmann / 28.01.2016

Ach ja, diese leckeren Rezepte! Ich (männlich, fürs Kochen in unserer Familie zuständig, was weniger daran liegt, dass wir emanzipiert sind, sondern daran, dass ich halt freiberuflich zu Hause arbeite und außerdem - meistens - ganz gern koche), ich also verwende auch solche Rezepte, aus einem anderen Kochbuch, aber ähnlichen Zuschnitts, das auch gern Sahne als Zutat empfiehlt ... Dennoch essen unsere Kinder nicht alles, was auf den Tisch kommt. Trotz Vorbild. Nein. Sie weigern sich standhaft. Zum Beispiel bei Kohlrabirezepten. Sie weigern sich standhaft. Soll ich sie jetzt verprügeln? Oder meiner Frau - sie ist Lehrerin, sogar Sonderschullehrerin, obwohl die heute nicht mehr so heißen - das Feld überlassen, damit sie ihre pädagogischen Fähigkeiten anbringen kann? Die hustet mir was. Da hilft nur: Auch die Fünfjährigen werden älter, merken, dass Bio nicht unbedingt schmecken muss, sondern so ein Lammfilet durchaus etwas für sich hat. Oder sie bleiben bei bio und/oder vegetarisch (by the way: Herr Tur Tur war Vegetarier, nicht Veganer!) Sollen sie doch. Und Sie, Frau Sievers, und ich, wir bleiben bei unserer Küche, ja? Und laben uns an gut zubereitetem Lammfilet oder was auch immer ... Falls es Sie tröstet: Meine Kinder mögen unheimlich gern Kohl - Weißkohl oder Rotkohl, und zwar süß-sauer. Ehrlich.

Franz Speck / 27.01.2016

“Egal ob frittiertes Kalbsbries oder Nierchen in Knoblauchsahne, ob Perlhuhn mit Orangen auf wildem Reis oder Hasentopf: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Also alles.” Glücklicherweise sind die Zeiten vorüber. Heute gibt es Menschen, die es als verwerflich empfinden, wie die Tiere gehalten oder besser gefoltert werden. Und zudem werden sie mit Medikamenten vollgestopft, als da z. B. Antibiotika wären. Mh, ist das lecker und gesund. “Der essgestörte fünfjährige Neurotiker war noch nicht erfunden.” Und wo findet man die heute, die essgestörten fünfjährigen Neurotiker? Scheint ein ganz neues Problem zu sein. Das Problem der Fettleibigkeit und Diabetes schon bei Kindern ist dagegen nicht unbekannt. Heute wird alles zugespritzt, genmanipuliert und begast. Dass darauf manche Eltern neurotisch reagieren, sich keine Fünfjährigen, ist da nicht verwunderlich. “Essen war keine Religion. Essen hat noch richtig viel Spaß gemacht.” Und wie man an den Fettbäuchen sehen kann, macht den Menschen das Essen auch heute noch Spaß. Gesund ist es mitnichten. Aber früher war ja bekanntlich alles besser, auch die Zukunft. Hat der Artikel eigentlich eine Conclusio? Falls ja, ist sie an mir vorübergegangen. Vielleicht: Es wird gegessen, was auf den Tisch kommt!

Wolfgang Schlage / 27.01.2016

“Essen war [noch] keine Religion.” Tja, da hat sich die deutsche Menschheit über die letzten 100 Jahre, und richtig intensiv die letzten 50 Jahre von der Religion befreit, und jetzt fehlt die Religion an allen Ecken und Enden, so dass alle möglichen Sachen zum Religionsersatz werden müssen: Die Ernährung (wie hier), die Gesundheit allgemein mit Homöopathie und elektronisch kontrollierten Trainingsregimen (Applewatch!), die Klima- und Umweltrettung, die Politik in allen Spielarten: Feminismus, Gender, Gleichstellung aller möglichen sexuellen Orientierungen, Kampf gegen “Rechts”, Nazi-Bekämpfung, Kampf gegen alles, was man, wenn auch gequält, als Rassismus bezeichnen könnte, hohe Empfindlichkeit bei angeblicher politischer Unkorrektheit, usw. usf. Nichts von dem ist notwendigerweise schlecht (Homöopathie ist allerdings wirklich Unsinn), aber die Inbrunst mit der diese Dinge verfolgt werden und die Feindseligkeit, die entsteht, wenn jemand anderer Meinung ist, sowie die Neigung, bei Abweichungen überall gleich den Teufel zu sehen, deuten darauf hin, dass es niemals nur um diese Sachen geht; vielmehr drücken sich hier tiefe Erlösungssehnsüchte aus. Leider können auch die besten Anliegen diese Sehnüchte niemals erfüllen und werden es daher auch nicht. Ein richtiger Gläubiger neigt deshalb dazu, sich bei Beenden eines Anliegens sofort ein neues zu suchen. Wie wäre es stattdessen wieder mit ein wenig wirklicher Religion? Das wäre in der heutigen Situation geradezu befreiend, denn dann müsste der Mensch sich nicht mehr an alle diese Überzeugungen binden, nur um die innere Orientierungslosigkeit und das Gefühl der Sinnlosigkeit zu bekämpfen; er könnte die sicherlich oft sinnvollen Anliegen mit mehr Gelassenheit und mehr Klarheit verfolgen. Das ist doch mal eine Idee: Befreiung *durch* Religion, nicht von Religion. Das sage ich, der nicht einmal von sich behaupten würde, richtig religiös zu sein. Aber das Gute an einer tiefen Beziehung zu Gott ist, dass Gott einen wirklich machen lässt, was man will. Auf die vielen heutigen Götzen trifft das nicht zu.

Peer van Daalen / 27.01.2016

Danke! Hab doch glatt zu später Stunde noch mal Kohldampf bekommen ... :-)

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