In den achtziger Jahren, als ich meine erste eigene Wohnung bezog, schenkte mir meine Großmutter zum Einstand ein großformatiges Kochbuch. Über 500 Seiten Rezepte und Kochanleitungen aus dem Magazin „essen und trinken“ von Gruner + Jahr. Bis heute ist dieses Kochbuch die wichtigste Unterstützung meiner kulinarischen Kompetenzen. Als die Schlemmerbibel vor zwei Jahren durch den ständigen Gebrauch auseinanderzufleddern begann, trug ich sie liebevoll um die Ecke zur Buchbinderin, um sie wieder in Form bringen zulassen.
Ach das! rief die Buchbinderin. Das habe ich auch zuhause. Ich komme ohne das Ding gar nicht aus. Wenn ich mein Standardwerk also nicht gerade für die Zubereitung von Putenbraten mit Preiselbeerfüllung oder Kartoffel-Steinpilz-Gratin benötige, berausche ich mich zwischendurch gern mal an den hinreißenden Fotografien, auf denen Food-Stylisten, Designer und Fotografen das Äußerste geleistet haben. Auf nüchternen Magen ist von diesem Zeitvertreib dringend abzuraten, besonders, wenn man noch nicht eingekauft hat. Hat man den Appetit mit Bildern von saftigem Filet Wellington oder Rindertopf Provençale angeregt, ist der Anblick eines halben Rosinenbrötchens mit einem ranzigen Rest Butter doppelt so drückend.
Die Zutaten für die Rezepte waren damals wesentlich vielfältiger und abwechslungsreicher. Und nirgendwo auch nur ein erhobener Zeigefinger. Schmeckt nicht gab’s nicht. Egal ob frittiertes Kalbsbries oder Nierchen in Knoblauchsahne, ob Perlhuhn mit Orangen auf wildem Reis oder Hasentopf: Gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Also alles. Von biologischem ungesüßtem Nussmus, Agavendicksaft und Tofuwurst war weit und breit nichts zu sehen und die Hausmachersülze wurde selbstverständlich, wie bei Urgroßmuttern, unter Zuhilfenahme von zwoeinhalb Kilo Schweinefüßen hergestellt. Mitmenschen mit Eiweißallergie, Glutenallergie oder Laktoseunverträglichkeit waren so selten wie Außerirdische, und der einzige damals bekannte Veganer war Herr Tur Tur aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“.
Die mundwässernden Bilder zeugen noch heute von der ungebremster Lebensart einer leider untergegangen Epoche: Das Hähnchen mit Pastis und Knoblauch wurde flankiert von einer Dose Lipton’s Eistee und – noch böser – einem Aschenbecher mit einer angebrochenen Schachtel Gitanes. Und damit nicht genug, denn zum Runterspülen des frankophilen Gerichts wurde nicht etwa lauwarmes Mineralwasser ohne Blubber oder naturtrübe Bio-Apfelsaft-Schorle empfohlen, sondern ein guter Rosé aus der Provence. Es war „essen & trinken“ wirklich ernst mit dem Essen und Trinken. Auch hinter dem riesigen Schweinebraten mit goldener Kruste, Semmelknödeln und Rotkohl lockten zwei schaumgekrönte Biertulpen, zu Lammsuppe mit grünen Bohnen passte selbstverständlich nur ein herbes Pils, und zu Matjes mit Dill obendrein anschließend noch ein Aquavit. Jawoll.
Kindergerichte sucht man in dem Kochbuch vergeblich. Aus gutem Grund. Der essgestörte fünfjährige Neurotiker war noch nicht erfunden. Damals ahnte man auch nicht, dass Kinder kindgerechte biologische Schonkost aus nachhaltigem Anbau brauchen. Kinder saßen stattdessen dreimal täglich zu geregelten Zeiten mit dem Rest der Familie am Tisch und aßen das, was alle aßen, sobald sie in der Lage waren, eine Gabel zum Mund zu führen. Und wenn’s sauer eingelegter Brathering oder Grützwurst mit Rosinen und Kartoffelbrei war. Das klappte in 98Prozent aller Haushalte völlig problemlos. Kein Mensch wäre auf die Idee verfallen, dem Nachwuchs Extrakost aus Pastinaken und styroporartigen glutenfreien Reisplätzchen und einem Glas Mandelmilch zu kredenzen. Was waren das für paradiesische Zeiten. Essen war keine Religion. Essen hat noch richtig viel Spaß gemacht.