Die politischen Begriffe von „links“ und „rechts“ sind historisch wandelbar und setzen als geistigen Bezugspunkt die Existenz einer „Mitte“ voraus. Diese kann aber örtlich, zeitlich und längs der großen Linien der Geschichte inhaltlich ganz unterschiedlich verortet sein. Das zeigt die Analyse der Bundestagswahl nach Wahlkreisen: In Friedrichshain-Kreuzberg kamen die Grünen auf 36,7 Prozent der Zweitstimmen, die AfD erreichte dagegen nur 4,1 . Genau umgekehrt war es im Wahlkreis Sächsische Schweiz / Östliches Erzgebirge: Dort bekam die AfD 31,9 Prozent der Zeitstimmen, die Grünen dagegen nur 5,3.
Frauen in Kopftüchern, arabische Clans, eine offene Drogenszene im Görlitzer Park, ein vermüllter öffentlicher Raum und dysfunktionale Schulen halten die Wähler in Friedrichshain-Kreuzberg seit vielen Jahren nicht davon ab, grün oder anderweitig links zu wählen. Umgekehrt haben im südlichen Sachsen sanierte Innenstädte, gesunde Waldluft und eine im Vergleich zu Berlin sehr leistungsfähige öffentliche Verwaltung die Wähler nicht daran gehindert, die systemkritische AfD zur mit Abstand stärksten Partei zu machen und die Grünen ins Abseits zu stellen. Offenbar sind es eher die grundsätzlichen Einstellungen der Bürger als die tatsächlichen Verhältnisse, die das Wahlverhalten bestimmen.
Eins, zwei, drei
Die drei großen Leitentscheidungen der Merkel-Ära:
• der Übergang von der Europäischen Währungsunion zu einer Schulden- und Fiskalunion,
• der Ausstieg aus der Kernkraft,
• die Öffnung der Grenzen für die großen Fluchtbewegungen 2015/16
knüpften eher an Kreuzberger als an sächsische Mentalitäten an, und genauso hat die Union auch ihren Wahlkampf geführt. Der Forsa-Chef Manfred Güllner, traditionell der SPD zugeneigt, äußerte nach der Wahl die Einschätzung, dass die Union mit Söder als Kanzlerkandidat 30 Prozent der Stimmen bekommen hätte. Das mag so sein. Wir würden dann demnächst von schwarz-gelb-grün anstatt von rot-grün-gelb regiert werden. Wäre der unmittelbar wirkende Unterschied sehr groß? Ich glaube es nicht.
In beiden Fällen würden die großen Leitentscheidungen der Merkel-Ära zunächst nicht hinterfragt werden.
In beiden Fällen müsste die Bundesregierung – angetrieben von den Grünen – zunächst liefern in Bezug auf das hochgehypte Klima-Thema.
In beiden Fällen würde sich schnell zeigen, dass die politisch angekündigten CO2-Reduktionen nicht bis 2030 umsetzbar sind und dann, wenn sie ernsthaft verfolgt würden, eine existenzielle Gefährdung der deutschen Industrie bedeuten.
In beiden Fällen müsste die Regierung sich zu den wachsenden Risiken der Geldpolitik der EZB verhalten und mit den Inflationsgefahren umgehen, die sowohl aus der europäischen Geldpolitik als auch aus der Klimawende herrühren.
Der eigentliche Unterschied besteht in der Zusammensetzung der Opposition.
Kommt man sich in der Opposition näher?
Im Falle eines Bundeskanzlers Söder wären in der Opposition die beiden roten Parteien einerseits und die AfD andererseits im Verhältnis zueinander wie Feuer und Wasser und würden niemals eine gemeinsame Oppositionslinie zustande bringen. Es gäbe auch keine wirksame Opposition gegen fiskalische Abenteuer. Kurzum: In der Opposition könnte keine potenzielle Regierung heranwachsen.
Im jetzt absehbaren Fall einer rot-grün-gelben Regierung unter einem Bundeskanzler Scholz gibt es dagegen eine – wenn auch geringe – Chance, dass Union und AfD sich in der Oppositionsarbeit näherkommen.
Das bedingt allerdings, dass die AfD ihre Tendenz zur Fundamentalopposition aufgibt und die Union wieder stärker versucht, ihr bürgerlich konservatives Profil zu schärfen.
Von Seiten der künftigen Bundesregierung wird es, selbst wenn sie ihre Sache gut macht, zahlreiche Steilvorlagen für eine wendige Opposition geben:
- Die kurz- und mittelfristigen Klimaziele, wie sie im geltenden Klimaschutzgesetz zum Ausdruck kommen, sind in ihrer Radikalität absurd. Vielfältige Formen des Scheiterns sind denkbar, ein stabiler Erfolgspfad ist dagegen nicht sichtbar.
- Eine gegen das Auto gerichtete Politik wird außer im grünen Milieu ausgewählter Großstädte überhaupt nicht möglich sein. 80 Prozent der Bürger brauchen das Auto und werden von ihm nicht lassen. Die Stärkung der Schiene wird den Modal Split nicht nachhaltig verändern. Die Gesamtmobilität wird nicht sinken.
- Ernsthafte Eingriffe in den Lebensstandard der breiten Schichten werden für die Legitimation der Regierung gefährlich sein.
- Nach zwei, spätestens drei Jahren Regierungszeit wird man bekennen müssen, dass die großen nationalen Klimaziele gescheitert sind.
Dann kommt die große Stunde einer intelligenten Opposition. Diese wird umso glaubwürdiger sein, je weniger sie sich bis dahin ideologisch verhebt. Übrigens: Der jetzt zu wählende Oppositionsführer wird immer eine Übergangsfigur sein, und er kann umso freier agieren, je mehr er sich von Anfang an darauf einrichtet. Darum wäre aus meiner Sicht in dieser Zeit Friedrich Merz der Oppositionsführer mit der größten Eignung.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.