Gastautor / 09.04.2015 / 14:00 / 3 / Seite ausdrucken

Alle sind benachteiligt, alle werden diskriminiert

Von René Scheu

Unsere Gesellschaft war kaum je offener und ausgeglichener. Und trotzdem fühlen sich alle als Opfer. Warum ist das so?

Wer die täglichen Nachrichten mit besonderem Augenmerk für Phänomene der Diskriminierung studiert, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Die Welt erscheint plötzlich als ein grosses Jammertal. Alle möglichen Gruppen fühlen sich notorisch herabgesetzt, benachteiligt, verunglimpft, diskriminiert: die Frauen, die Alten, die Jungen, die Ausländer, die Inländer, die Armen – und so weiter und so fort. Unzählige anwaltschaftliche Organisationen nehmen sich voller Verve der Schutzbedürftigen an. 1001 staatliche Beratungs-, Gleichstellungs- und Schlichtungsstellen widmen sich hingebungsvoll der Aufgabe, den Sich-benachteiligt-Fühlenden zu ihrem Recht zu verhelfen, sei es in der Familie, am Arbeitsplatz oder in der Öffentlichkeit.

Ich spreche hier nicht von echter Diskriminierung – der konsequenten Herabsetzung von Menschen aufgrund der Zuschreibung nicht selbstgewählter Eigenschaften wie Rasse, Ethnie oder Geschlecht. Vielmehr geht es mir um eine diffuse Grundbefindlichkeit des Sich-zurückgesetzt-Fühlens, die in den mitteleuropäischen Wohlstandszonen chronisch geworden ist. Für den kritischen Zonenbewohner stellt sich die interessante Frage: Wie kommt es, dass in den wohl egalitärsten und freizügigsten Gesellschaften aller Zeiten die Zahl der Klagen wegen Diskriminierung inflationäre Ausmasse angenommen hat?

Dieser Widerspruch lässt sich erklären, wenn man die Ideologie des Egalitarismus studiert, der den gesellschaftspolitischen Diskurs der Gegenwart prägt. Demnach stellt der Mensch eine Art Neutrum dar, ein abstammungsfreies, voraussetzungsloses, geschlechtsindifferentes Wesen. Jede Form der Mitgift, seien es Intelligenz, Vermögen oder kultureller Hintergrund, ist verpönt und gilt als unverdiente Privilegierung des Individuums. Was zählt, sind einzig die eigenen Ambitionen. Hier kippt der egalitäre Individualismus dann in eine neue Form des individualistischen Kollektivismus: Bleibt mein Status hinter meinen Ambitionen zurück, müssen es die anderen gewesen sein, die mich an der Selbstverwirklichung gehindert haben, auf die ich einen Anspruch habe. Sie haben mich zumindest insofern unterdrückt, als sie mich nicht befähigt haben, meinen Weg zu gehen. Kurz gesagt: Sie haben mich diskriminiert.

Die moderne Gesellschaft stellt sich in dieser Optik als Vergleichsraum dar, in dem sich erst einmal furchtlos jeder mit jedem misst. Die Vergleichsmanie produziert wenige Gewinner und eine Menge Verlierer, von denen viele nicht mit dem Ergebnis des Vergleichs leben können. Die Schuld an ihrem Versagen geben sie selbstbewusst den anderen – die Welt erscheint ihnen als eine grosse Verschwörung der Privilegierten gegen jene, die ihre Lebenschancen nicht nutzen konnten. Dagegen hilft nur eins: klagen. Und so wird die Welt trotz historisch beispiellosem Wohlstand, trotz riesigen Umverteilungsströmen und trotz individueller Förderung auf allen Stufen zum grossen Jammertal.

Der Beobachter staunt: Der Egalitarismus – die Gleichheit in allen Belangen nicht als Ideal, sondern als Obsession – bewirkt das Gegenteil des Beabsichtigten, nicht eine Begegnung der Menschen auf Augenhöhe, sondern ein überhebliches Herabblicken auf die anderen, nicht Toleranz, sondern Misstrauen. Ein Mittel gegen die breite gesellschaftliche Verdüsterung wäre ein neues, positives Wort für den Begriff der sozialen Ungleichheit. Das wäre eine ehrenwerte intellektuelle Arbeit für die nächsten Jahre. Allerdings auch eine riskante. Wer sie leisten will, muss damit rechnen, gevierteilt zu werden. Ich wage es zum Schluss trotzdem. Wie wäre es mit: Chancendynamik?

René Scheu ist Philosoph und Herausgeber des liberalen Magazins «Schweizer Monat».

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Francesco Salatino / 10.04.2015

Das süsse Gift heisst Sozialismus, soziale Gerechtigkeit, mehr Sozialstaat, mehr Konsum, mehr Staatsverschuldung, mehr Steuerprogression.  Egalitarismus und Kollektivismus versuchen die Persönlichkeit,  die Individualität, die Kreativität des Menschen einzuschränken. Die Linksparteien und die Integrationsindustrie durch ihre irrationale Fixierung auf Gleichheit und Solidarität zerstören die Leistungsbereitschaft der arbeitenden Menschen. Max Weber hat Recht: zu sozial ist unsozial!

Axel Kilian / 10.04.2015

Völlig richtig. Schon die einfache Feststellung dass die Menschen eventuell von Geburt an nicht völlig gleich seien, sondern es womöglich kluge und weniger kluge, schöne und häßliche, starke und schwache geben könnte, wird in manchen Kreisen schon als rassistisch betrachtet. Frage: sind die gesegnet, die es vermögen, zugunsten ihrer Illusionen die Realität auszublenden? Oder müsste man nicht gerade denen helfen? Nein nein, ich weiss schon: hier würden selbst Götter vergebens kämpfen.

Andreas Hartig-Tauber / 09.04.2015

In Ihrem Intro schreiben sie was von “noch nie so ausgeglichen” und “offen”, was die Gesellschaft anbelangt. Einen Faktor, dass sie es eben gerade nicht ist, beleuchten sie ja selbst. Die zombiehafte-nervöse Dauernutzung von Smartphones im öffentlichen Raum (einschl. am Pissoir), die notorische Inanspruchnahme von zwei Sitzplätzen im ÖPNV (ein Sitzplatz meist als Gepäckablage), “großzügige” Parkraumnutzung, die es ermöglicht, zum Aussteigen ohne Probleme zu beiden Seiten die Fahrzeugtüren bis zum Anschlag zu öffnen, sind weitere Beispiele einer degeneriert-dekadenten Konsumgesellschaft. Auf Augenhöhe läuft hier nichts mehr, im politkorrekten Saftbetrieb. Hier wird am Endstadium gebrütet. Was aber letztlich schlüpfen wird, steht noch nicht fest…  

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