Burkhard Müller-Ullrich / 20.10.2019 / 06:18 / Foto: Pixabay / 27 / Seite ausdrucken

Alarm! Bombenfund! – Szenen aus dem deutschen Alltag

Marathonläufe, Love Parades, Klimaproteste: Es gibt für moderne Metropolenbewohner allerlei Veranstaltungen, damit ihnen nicht fad wird. Jedes Stadtfest geht mit einem freudebringenden Ausnahmezustand einher. Da werden Fahrbahnen gesperrt, parkende Autos abgeschleppt, deren Besitzer von dem ganzen Zirkus nichts wussten und sich nach ihrer Rückkehr ziemlich wundern, und Lärmschutzvorschriften spielend außer Kraft gesetzt.

Solche Alltags-Disruptionen gehören zum Zivilisationsbetrieb in allen ordentlichen Ländern. Vielleicht könnte man sogar sagen: je ordentlicher, desto größer die Sehnsucht nach Unterbrechung. Ob in Schweden oder in der Schweiz, in London oder Paris – der Mensch verzehrt sich nach solchen karnevalesken Momenten öffentlicher Anarchie.

Die vielleicht höchste Form solcher gemeinschaftsstiftenden und -prägenden Betriebsstörungen aber hat Deutschland zu bieten, nämlich den Bombenfund. Dabei handelt es sich um ein für Ausländer kaum nachempfindbares Phänomen. Weder in Schweden noch in der Schweiz, weder in London noch in Paris kennt man dieses durchaus extravagante Gefühl, ganz real und materiell auf einem Pulverfaß zu sitzen.

Seit einem Dreivierteljahrhundert ist Deutschland eine gigantische Sprengstofflagerstätte. Überall liegen Blindgänger herum: im Stadtboden, in Flußbetten, manche sogar unter eilig errichteten Nachkriegshäusern. Seit einem Dreivierteljahrhundert halten Bombenfunde Behörden und Bevölkerung in Atem, in letzter Zeit allerdings in wachsender Zahl und Frequenz, weil die Bautätigkeit in vielen Städten zunimmt und auf brachliegende Flächen ausgreift. Da wird tief gebaggert und Erdreich bewegt, und in Städten wie Köln, die durch die Luftangriffe der Alliierten in einem kaum vorstellbaren Maß zerstört worden sind, findet sich fast im Wochentakt irgendwo eine brisante Hinterlassenschaft der Hitlerzeit.

Symbolik und Komik tanzen einen wilden Reigen

Es gehört zur deutschen Alltagsnormalität, dass dann ganze Wohnviertel polizeilich geräumt werden, dass Autostraßen, Bahnstrecken und sogar der Luftraum gesperrt werden, dass todesmutige Spezialisten des Kampfmittelbeseitigungsdienstes anrücken und – da die Evakuierungsmaßnahmen gewöhnlich den ganzen Tag dauern – meist in den Abendstunden bei Scheinwerferlicht den Zünder aus der Bombe drehen.

Diese deutsche Routine lässt sich Angehörigen anderer Nationen nur schwer vermitteln. So etwas gibt es sonst in keinem zivilisierten Land. Wo immer man hier hin tritt, droht die Vergangenheit im Boden zu explodieren – wie in dem hochsymbolischen Roman „How German is it?“ des amerikanischen Schriftstellers Walter Abish, der beschrieb, wie der städtische Boden über einem verborgenen KZ-Friedhof einbricht.

Und ganz im Sinne Abishs tanzen Symbolik und Komik in den ordnungsamtlich organisierten Entschärfungsszenen einen wilden Reigen. Es beginnt mit dem allgemeinen Räumungsbefehl, dessen Plötzlichkeit alle Tagespläne durcheinanderwirft: Operationen im Krankenhaus und notarielle Beurkundungen, Familientreffen und Geschäftsreisen. Es geht weiter mit widersprüchlichen Anordnungen der Feuerwehr: mal heißt es, man solle die Rolläden offen lassen, damit von außen kontrolliert werden könne, ob sich noch Personen in den Häusern befänden; dann wird empfohlen, die Rolläden doch besser herunterzulassen, weil irgendeinem Juristen die haftungsrechtlichen Konsequenzen klargeworden sind, wenn es zu Einbrüchen kommen sollte.

Und dann folgt unvermeidlich und immer öfter der Klamauk der Renitenten, die ihre Wohnungen nicht verlassen wollen. Es kommt zu Festnahmen durch die Polizei und aufgebrochenen Türen, weil selbst in Häusern, die als bereits geräumt gelten, plötzlich fröhlich am Fenster winkende Leute gesichtet werden. Solchen versuchen die Verwalter der öffentlichen Ordnung zwar im Voraus bange zu machen. Sie sagen, dies könne „der teuerste Scherz Ihres Lebens“ werden. Sie drohen mit Strafverfolgung und Schadenersatz wegen der Verzögerung. Allerdings sind das ziemlich leere Drohungen, denn im Zweifelsfall genügen ein Vollrausch und die Erklärung, man habe von allem gar nichts mitbekommen, um straflos davonzukommen; schließlich ist es nicht verboten, sich in seinen eigenen vier Wänden zu betrinken.

Ein walzenförmiges Ding, drei Meter lang

Zuletzt aber breitet sich eine surreale Stille im Stadtviertel aus. Über Deutschland wurden während des Zweiten Weltkriegs zwei Millionen Tonnen Bomben abgeworfen. Man rechnet mit zehn Prozent Blindgängern. Nur ein Bruchteil davon wurde bis jetzt gefunden. Doch hier liegt eine Luftmine, sagen wir vom Typ HC 400 LB: ein walzenförmiges Ding, drei Meter lang, ein Meter Durchmesser. Diese englischen Luftminen hießen Blockbuster, lange bevor der Begriff von den Unterhaltungsmedien ganz anders besetzt wurde. Der Erfolg der Blockbuster-Bomben bestand darin, durch eine gigantische Druckwelle die Dächer im Umkreis von mehreren hundert Metern zu zerstören, damit die nächste Staffel Kampfflieger Brandsätze ins Innere der Häuser regnen lassen konnte.

Die Alten, die den Krieg noch erlebt haben, fangen jetzt, da sie außerhalb der Gefahrenzone in Notunterkünften oder bei Bekannten auf die erfolgreiche Entschärfung warten, zu reden an. Für sie ist diese kleine Flucht eine Art Re-Enactment, ein Nachspielen historischer Geschehnisse mit dem Effekt stärkerer Bewusstwerdung. Die Alten sind es auch, derentwegen die Evakuierung am längsten dauert: Befindet sich ein Pflegeheim im betroffenen Gebiet, müssen mitunter hunderte von Krankentransporten abgewartet werden.

Der eigentliche Vorgang der Entschärfung findet im Verborgenen statt. Das steigert noch den Nervenkitzel der wartenden Bevölkerung. Zwar ist es heutzutage eine Selbstverständlichkeit, die Öffentlichkeit per Webcam visuell an aufregenden Ereignissen teilhaben zu lassen. Doch die Gefahr einer unkontrollierten Explosion, der Menschenleben zum Opfer fallen, ist immer gegeben. Die letzte Katastrophe dieser Art ereignete sich 2010 in Göttingen. So etwas soll nicht live gezeigt werden. Auch Journalisten sind am Ort des Geschehens nicht zugelassen, zu ihrem eigenen Schutz, versteht sich. So wird bei diesem vergangenheitslastigen Geschehen quasi auch medial die Zeit zurückgedreht. Jegliche Information kommt nur von amtlicher Seite.

Ausländische Besucher können über all dies nur staunen. Es gehört zum heutigen Leben in deutschen Städten und steht doch in keinem Reiseführer.

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Johannes Schuster / 20.10.2019

Wer in Dummheit, gefolgsam in den Krieg rennt, der hat hernach ein spannendes Leben. Aber mal ehrlich: Die Feuerwehren in ihrer uniformierten Einsatzgeilheit, die kriegen Höhepunkte bei einem Bombenfund - alle dürfen sich so wichtig vorkommen wie der Reichs - Luftschutzbund. Und dann verhalten sich alle wieder exakt so, als wäre Hitler noch an der Macht und die Rote Armee schon in Berlin. Organisiert ins Ragnarök. Und den angeblichen Heldenmut, den es nie gab, sich mal eine Detonation aus der Nähe zu geben um mal endlich gefühlt bei sich zu sein, den bringt dann auch keiner auf. Kommt Leute, wegen einer 250 kg Bombe reicht es in 250 m Entfernung den Mund leicht aufzumachen (Druckausgleich) und die Ohren leicht zuzumachen (Watte). Alles andere ist deutscher Übereifer ohne Konsequenz.

Alexander Rostert / 20.10.2019

Tatsächlich werden heutzutage mehr Blindgänger gefunden, was auch daran liegt, dass immer weiter in den Boden eingegriffen wird. Und was im Hochbau der Architekt ist, das ist im Tiefbau halt die Fliegerbombe. Wobei “Abwurfmunition” keineswegs die einzige bedrohliche Kriegsaltlast ist, ob nun auf Aufklärungs-Luftbildern erkennbar oder per Notabwurf “irgendwo” entsorgt. (Allein auf dem westeuropäischen Kriegsschauplatz gingen den Alliierten 40.000 Flugzeuge verloren, davon 22.000 Bomber.) Fast überall in Deutschland fanden 1944/45 auch Kämpfe am Boden statt, Artilleriegeschosse, Handgranaten, Werfermunition und vieles mehr sind nicht detoniert oder wurden von sich auflösenden Truppenteilen in den Wald gekippt. Nachdem man infolge einiger unschöner Vorfälle die Einsicht gewann, dass dies ein überall - und nicht nur in Großstädten - präsentes Problem darstellt, wird seit einigen Jahren bei Baumaßnahmen mit mehr Nachdruck sondiert.

Jan van Rushyn / 20.10.2019

Rollläden helfen nicht gegen Einbruch.

Gabriele Schulze / 20.10.2019

@Roland Müller: das ist mal eine geniale Pointe!

Daniel Oehler / 20.10.2019

Hier in Deutschland gibt es peinliche Figuren, die sich Antideutsche nennen und die Bombenangriffe der Alliierten beklatschen. Das haben übrigens auch die Nazis gemacht, weil die die mittelalterlichen Altstädte durch moderne Architektur ersetzen wollten. Es geht durchaus noch deutlich zynischer: Bei einer Konferenz über Landminen habe ich mitbekommen, dass die Ausrüstung für Minenräumer teilweise von den Firmen kommt, die die Landminen herstellen.

Walter Elfer / 20.10.2019

2 Mio t Bomben ... Blockbuster zum Dächer abräumen ... Brandbomben ins Innere ...  Klar, und dann das Narrativ, es ginge nur darum, Hitler auszulöschen. Und das Volk? Etwa Kollateralschaden?! So langsam finde ich, sollte man die Geschichte richtig schreiben. Wo sind also die Investigativen, die auch mal die sehr unbequemen Fragen stellen?

Matthias Böhnki / 20.10.2019

Was will uns der Autor sagen? Das es besser sei, die gefundene 6Zentner-Mine lustig in die Baggerschaufel zu nehmen, sie mit dem anderen Gerölls auf einen LKW zu donnern, mit dem dann durch die Stadt zu kariolen, sich vor einer Schule von einem anderen LKW rammen zu lassen, anschließend die ganze Ladung zum Recyceln in die Steinmühle oder wahlweise zur Altschrott-Gewinnung in die Presse zu kippen ??? Und wie cool ist das denn, den Kindergarten auf eine bekannte Luftmine zu bauen und sich zu freuen, wenn nach lautem Knall die Lieben am Fenster vorbei durch die Luft fliegen ??? Mir fielen auf Anhieb tausend andere Dinge ein, die mich beim Blick auf Deutschland aufregen würden, Bombenentschärfungsbegleitumstände garantiert nicht!

Angela Seegers / 20.10.2019

Wir kommen nach ca. 75 Jahren Luftangriffen und Bombenabwürfen an die Grenze der „Haltbarkeit“ der im Boden liegenden Blindgänger. Eisenoxid/Rost und Materialverschleiss. Entweder sie gehen hoch oder nicht.  In den Meeren sieht es viel schlimmer aus. Da tropft alles ins Wasser. Hochachtung vor den mutigen Experten, die diese Dinger bei Entdeckung entschärfen. Und ganz allgemein: Überall, wo verheerende Kriege geführt wurden, liegen Blindgänger in Böden und Meeren.

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