Stefan Frank / 07.08.2020 / 14:00 / 6 / Seite ausdrucken

Ägypten steckt „TikTok-Girls“ ins Gefängnis

Wegen „Verstoßes gegen Familienwerte“ hat ein Gericht in Kairo am 27. Juli Haneen Hossam (20) und Mowada el-Adham (22) zu zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 300.000 Ägyptischen Pfund (umgerechnet rund 15.000 Euro) verurteilt, weil sie über das bei Jugendlichen auf der ganzen Welt beliebte soziale Netzwerk TikTok, auf Instagram und anderswo Bild- und Tondokumente verbreitet hatten.

Sie sind die ersten Verurteilten von mindestens neun ägyptischen Frauen, die als „TikTok-Girls“ bekannt sind und seit April wegen ihrer Auftritte in den sozialen Medien verhaftet wurden. Als „Mitverschwörer“ wurden drei Männer zu derselben Strafe verurteilt, weil sie Hossam und el-Adham geholfen hatten, in den sozialen Medien präsent zu sein. „In ihren 15-Sekunden-Clips“, so der AP-Bericht,

„posieren die Frauen, die Make-up tragen, in Autos, tanzen in der Küche und scherzen in Sketchen – vertraute und scheinbar zahme Inhalte für die Plattform. Doch ihr Bekanntheitsgrad in den sozialen Medien wurde ihnen in Ägypten zum Verhängnis, wo Bürger wegen vager Straftatbestände wie ‚Missbrauch sozialer Medien’, ‚Verbreitung gefälschter Nachrichten’ oder ‚Anstiftung zu Ausschweifung und Unmoral’ im Gefängnis landen können.“

Wegen „Zuhälterei“ bezichtigt

Haneen Hossam wurde im März verhaftet, nachdem es einen Internettumult wegen eines Videos gegeben hatte, in dem sie eine Internetplattform namens Likee bewarb, die Nutzern Geld dafür zahlt, wenn sie andere dazu bringen, dieser ebenfalls beizutreten.

Hossam sagte in dem dreiminütigen Video, sie wolle eine Gruppe für Mädchen im Alter von über 18 Jahren gründen, die auf diese Weise von zu Hause aus „Geld verdienen“ könnten. Daraufhin wurde sie der „Zuhälterei“ bezichtigt.

Bei Mowada el-Adham, die im Mai verhaftet wurde, kann niemand einen exakten Anlass nennen, der zur Verhaftung führte – außer, dass sie berühmt und weiblich ist und für manchmal satirische Lippensynchronisationen und Tanzvideos bekannt. Der Blog Egyptian Streets fasst ihr Wirken in den sozialen Medien so zusammen:

„Die Inhalte ihrer letzten Tage auf Instagram zeigen, wie el-Adham um ägyptische Soldaten trauert, die im Sinai den Märtyrertod gestorben sind, wie sie die Menschen auffordert, zu Hause zu bleiben, und wie sie einen Ernährungsberater interviewt. Auf TikTok zeigen aktuelle Videos, wie sie ein teures Auto fährt, in einem Hai-Strampler tanzt, den Menschen einen glücklichen Ramadan wünscht, ihre Lippen synchron zu einem arabischen Lied bewegt und vieles mehr.“

Staatliche Repression

In krassem Gegensatz zur Schwere dieser „Taten“ steht die Energie, mit der die Behörden offenbar hinter el-Adham her waren. Egyptian Streets berichtet, dass die Polizei, weil sie sie bei dem Verhaftungsversuch nicht zu Hause antraf, ihr Mobiltelefon ortete und nach ihrem Auto fahndete. Im März war sie schon einmal verhaftet worden, damals wegen Verstoßes gegen die Ausgangssperre.

Wie die britische Tageszeitung The Independent berichtet, wollte die Staatsanwaltschaft bei el-Adham zudem einen „Jungfräulichkeitstest“ durchführen, um herauszufinden, ob sie schon einmal Vaginalverkehr hatte. Diesen habe sie verweigert, so die Zeitung. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO wird der „Jungfräulichkeitstest“ in mindestens 20 Ländern der Welt von Behörden praktiziert. Die WHO schreibt:

„Jungfräulichkeitstests werden häufig durchgeführt, indem das Hymen auf Risse oder seine Öffnungsgröße untersucht und / oder Finger in die Vagina eingeführt werden (der Zwei-Finger-Test). Beide Techniken werden unter der Annahme praktiziert, dass das Aussehen der weiblichen Genitalien auf die sexuelle Aktivität eines Mädchens oder einer Frau hinweisen kann. Die WHO gibt an, dass es keine Beweise dafür gibt, dass eine der beiden Methoden beweisen kann, ob eine Frau oder ein Mädchen Vaginalverkehr hatte oder nicht.“

Die WHO und andere Gremien der Vereinten Nationen haben Ägypten und andere Länder zur Abschaffung dieser Praxis aufgerufen, bislang vergeblich.

„Systematisches und organisiertes Vorgehen gegen Frauen“

Etliche weitere Frauen, die aus den sozialen Medien bekannt sind und als „TikTok-Girls“ bezeichnet werden, sind derzeit in Untersuchungshaft und warten auf ihre Prozesse. Die Fälle setzen eine Welle fort, die seit Jahren augenfällig ist: dass nicht nur Menschenrechtler und Regimekritiker im Visier der ägyptischen Behörden sind, sondern auch Frauen, die sich nicht politisch äußern, aber auf eine Art öffentlich sind, die dem Regime nicht gefällt.

Dazu gehören zum einen Frauen, die verhaftet werden, weil sie über die sozialen Medien im Internet bekannt gemacht haben, dass sie Opfer einer Vergewaltigung oder einer anderen Form der sexuellen Nötigung wurden.

Angesichts dieser Verfolgung der Opfer und der Straflosigkeit der allermeisten Täter war es ein bedeutsamer Vorgang, als kürzlich hunderte Ägypterinnen öffentlich einen Mann der sexuellen Nötigung und Erpressung bezichtigten und diesmal der mutmaßliche Täter verhaftet wurde, statt des Opfers. Doch das ist eben die Ausnahme.

„Verletzung ägyptischer Familienwerte“

Erst im Mai war die 17-jährige Menna Abdel-Aziz, die ebenfalls durch TikTok bekannt ist, verhaftet worden, nachdem sie ein Video veröffentlicht hatte, das sie mit Verletzungen im Gesicht zeigte, die offenbar von Misshandlungen stammten. Sie berichtete, dass ein von ihr namentlich genannter 25 Jahre alter Mann sie vergewaltigt habe und dessen Freunde die Vergewaltigung gefilmt hätten und sie damit erpressten.

Obwohl die mutmaßlichen Täter einige Tage später verhaftet wurden und eine forensische Untersuchung die Aussage von Abdel-Aziz bestätigte, wurde auch sie verhaftet und wegen „Missbrauchs sozialer Netzwerke, Anstiftung zu Ausschweifungen und Verletzung ägyptischer Familienwerte“ angeklagt. Im Juni wurde die Anklage gegen sie fallengelassen und Abdel-Aziz in ein Zentrum für misshandelte Frauen eingewiesen.

Auf der anderen Seite werden viele prominente Frauen verhaftet, weil sie sich auf eine Art kleiden, die das Regime oder die religiösen Autoritäten missbilligen. Ein solcher Fall war der der Schauspielerin Rania Youssef, die wegen eines freizügigen Kleides – bei dem die Oberarme und Oberschenkel sichtbar waren – verhaftet wurde.

Immer wieder werden auch ägyptische Sängerinnen wegen Musikvideos zu Haftstrafen verurteilt. Im April wurde die Bauchtänzerin Sama el-Masry ebenfalls wegen „Ausschweifung“ und „Verstoßes gegen Familienwerte“ verhaftet, weil die Staatsanwaltschaft meinte, auf TikTok „sexuell anzügliches“ Material von ihr gefunden zu haben. El-Masry sagte, dieses sei von ihrem Mobiltelefon gestohlen und ohne ihr Wissen hochgeladen worden. Im Juni wurde sie zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 300.000 Ägyptischen Pfund verurteilt.

Einschüchterung nonkonformer Frauen

Anonyme Aktivisten haben am 15. Juli eine Internetpetition geschaffen, in der sie die Freilassung aller wegen „Ausschweifung“ inhaftierten Frauen fordern. Sie schreiben:

„Wir nehmen dieses systematische und organisierte Vorgehen gegen Frauen auf TikTok zur Kenntnis. Es beginnt damit, dass Männer Inhalte auf Youtube erstellen und weibliche Nutzer aufs Korn nehmen, die nicht mit ihrer moralischen Haltung übereinstimmen.

Wenn diese Männer Frauen an den Pranger stellen, sie diffamieren und ihnen mit Inhaftierung drohen, ermöglichen sie eine Kultur der Gewalt, die die Bestrafung namentlich genannter Frauen normalisiert und rechtfertigt. Die Staatsanwaltschaft folgt den Behauptungen dieser Männer gegen weibliche TikToker und stellt einen Haftbefehl aus.“

Die Beauftragte der deutschen Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und Humanitäre Hilfe im Auswärtigen Amt, Bärbel Kofler, schrieb in einer Presseerklärung, sie sei „bestürzt über die Reihe von Verhaftungen und Verurteilungen junger Influencerinnen und Bloggerinnen in Ägypten“. Mawada el-Adham und Haneen Hossam seien „zu absurd hohen Haft- und Geldstrafen verurteilt“ worden. Weiter teilte sie mit:

„Diese Art der Einschränkung der Meinungsfreiheit, die sich insbesondere gegen junge Frauen richtet, die sehr erfolgreich in Sozialen Medien zu einer Vielzahl von Themen kommunizieren, muss entschieden zurückgewiesen werden! Diese Urteile mit fragwürdiger Rechtsgrundlage verfolgen das Ziel, eine ganze Generation mutiger junger Frauen einzuschüchtern!“

Die deutsche Bundesregierung thematisiere Menschenrechte, vor allem auch das Recht auf freie Meinungsäußerung, „regelmäßig in Gesprächen mit Vertretern der ägyptischen Regierung“, so Kofler weiter.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Mena-Watch.

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Leserpost

netiquette:

Silvia Orlandi / 07.08.2020

Jedes Mädchen, jede Frau die nichts wie weg will, sollte unsere uneingeschränkte Solidarität und Asyl bekommen.

D. Schmidt / 07.08.2020

Ich habe für diese arabisch, islamische Denkweise 0-Cent übrig. Lasst die jungen Mädels doch machen was sie wollen. Ich wette: Es gibt genug alte, dicke, hässliche ägyptische Männer denen das doch gefällt. Und weil sie es nicht haben können, was sie sich in ihrer Fantasie vorstellen, kommen sie mit ihrer Menschen verachtenden Religion um die Ecke. Man sollte diese alten Säcke in den Knast stecken.

Gerd Heinzelmann / 07.08.2020

Moral ohne Meinung/Wissen. Oder war es umgekehrt? Und was hat tiktok damit zu tun? Bleiben Sie uns erhalten!

Harald Unger / 07.08.2020

Zu dem Bericht von Stefan Frank muss noch angemerkt werden, daß im Islam den Mädchen und Frauen die ganze Verantwortung für die ‘Sexualität’ von Muslimen aufgebürdet ist. Weshalb es z.B. stets das Vergewaltigungsopfer ist, das den Strafen der Scharia zugeführt wird. Die Gebiets Justiz trägt dieser islamischen Rechtsauffassung bereits seit Jahren, Köln ff., vollumfänglich Rechnung. Schließlich gehört der Islam ja zum Gebiet. Das umzukehren, daran wird in diesen Jahren unter Hochdruck gearbeitet. Eine männliche Mitverantwortung kennt der Islam nur, wenn das Scharia Gericht feststellt, daß die Frau sich rechtgläubig verhielt, also den Schleier trug und in männlicher Begleitung eines Verwandten in der Öffentlichkeit zum Opfer wurde. Das alles trifft auf die TT Girls nicht zu.

H.Störk / 07.08.2020

An sich bin ich gegen Frauenquoten, aber wenn die eine oder andere dieser jungen Damen hier Asyl beantragen sollte, wäre ich für eine schnelle und unbürokratische Aufnahme.

Gudrun Meyer / 07.08.2020

In D dürften diese jungen Frauen sich in unpolitischer Weise an die Öffentlichkeit wenden. Sie dürften sogar nackt und im Kopfstand Cha-Cha-Cha tanzen, ohne mehr als einen dümmlichen Kommentar in der Klatschpresse zu riskieren. Aber sollten sie etwas sagen wie: “Ich halte Martin Sellner für einigermaßen moderat, obwohl es in der IB auch Rechtsextreme gibt” oder gar “Dieser Oberstleutnant B. ist nach ganz vagen Anschuldigungen von “Panorama” aus dem Dienst geflogen” - ich weiß nicht, ich weiß nicht ...

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