Das EU-Parlament stimmte dem umstrittenen „Renaturierungsgesetz“ zu. Ist es wirklich im Sinne der EU-Bürger, wenn Ackerflächen nicht mehr genutzt und die Ernteerträge zurückgefahren werden? Mögliche Profiteure sind große Saatgut-Unternehmen.
Während viele EU-Bürger schon faul am Strand herumliegen, waren die Abgeordneten des EU-Parlaments noch einmal fleißig: Vom 10. bis 13. Juli kamen sie in Straßburg zu einer Plenarsitzung zusammen. Neben anderen Tagesordnungspunkten stand das „Renaturierungsgesetz“ zur Debatte: Diese „Verordnung über die Wiederherstellung der Natur“ war am 22. Juni 2022 von der EU-Kommission vorgeschlagen, jedoch vom Umweltausschuss des EU-Parlaments am 27. Juni dieses Jahres abgelehnt worden – ein höchst ungewöhnlicher Vorgang. Denn sogar die EVP-Fraktion unter ihrem Vorsitzenden Manfred Weber hatte sich gegen das Gesetz gestellt, das ein zentraler Bestandteil des europäischen „Green Deal“ und damit einer Herzensangelegenheit Ursula von der Leyens ist.
Der „Green Deal“ sieht vor, dass Europa bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden soll. Mit dem Paket „Fit für 55“ sollen die Netto-Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 gesenkt sowie die Ziele des Grünen Deals nach und nach in Rechtsakte übertragen werden. Neben beispielsweise der „Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden“ oder der „Verordnung zur Festsetzung von CO2-Emissionsnormen für Personenkraftwagen und leichte Nutzfahrzeuge“ soll auch die Bodennutzung reguliert werden. Kritiker des „Renaturierungsgesetzes“ wie etwa die Landwirte, die am 11. Juli in Straßburg gegen das Gesetz protestiert haben, warnen davor, dass durch das „Renaturierungsgesetz“ die Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Flächen erheblich eingeschränkt würde, was einen deutlichen Rückgang der Ernten und der Lebensmittelerzeugung zur Folge haben würde.
Trotz dieser Bedenken befürworteten die Abgeordneten am 12. Juli mit 336 Ja-Stimmen, 300 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen den Kommissionsvorschlag, bis 2030 Renaturierungsmaßnahmen für mindestens 20 Prozent aller Land- und Meeresflächen in der EU einzuführen. Dafür würden beispielsweise trockengelegte Moore wieder vernässt, Wälder aufgeforstet und Städte begrünt werden. Bis 2050 sollen dann sämtliche sanierungsbedürftigen Ökosysteme an Land, in Flüssen und im Meer renaturisiert werden. Gleichzeitig soll durch die EU-Pestizidverordnung bis 2030 der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln halbiert werden.
Ernteerträge zurückfahren
Zum Hintergrund wird auf der Webseite des EU-Parlaments ausgeführt:
„Über 80 Prozent der europäischen Lebensräume befinden sich in einem schlechten Zustand. Die Kommission hat am 22. Juni 2022 eine Verordnung über die Wiederherstellung der Natur vorgeschlagen, um zur langfristigen Erholung der geschädigten Natur in den Land- und Meeresgebieten der EU beizutragen und die Klima- und Biodiversitätsziele der EU zu erreichen. Nach Ansicht der Kommission würde das neue Gesetz erhebliche wirtschaftliche Vorteile bringen, da jeder investierte Euro zu einem Nutzen von mindestens 8 Euro führen würde. Diese Rechtsvorschriften entsprechen den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in Bezug auf den Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt, der Landschaft und der Ozeane, wie sie in den Vorschlägen 2 Absatz 1, 3, 2 Absatz 4 und 2 Absatz 5 der Schlussfolgerungen der Konferenz zur Zukunft Europas zum Ausdruck kommen.“
Mit anderen Worten: Das Parlament führt nur aus, was die EU-Bürger angeblich wollen. Doch ist es wirklich im Sinne der EU-Bürger, wenn Ackerflächen nicht mehr genutzt und die Ernteerträge zurückgefahren werden? Wohl kaum. Mögliche Nutznießer sind vielmehr große Saatgut-Unternehmen, die sich künftig Patente auf Pflanzeneigenschaften sichern können. Durch „neue genomischen Verfahren“ (NGT) sollen nämlich verbesserte Pflanzensorten entwickelt werden, die klima- und schädlingsresistent sind, weniger Düngemittel und Pestizide brauchen und mehr Ertrag bringen. Die EU-Kommission hat gerade die Weichen dafür gestellt (siehe auch hier). Andererseits lässt sich mit Bio-Landbau die Welt nicht ernähren, er braucht einfach mehr Fläche wegen der geringeren Erträge. Verstärkt auf Biolandbau und Flächenreduzierung zu setzen vergrößert das Problem daher zweifach (Redaktionelle Ergänzung: Für die Welternährung werden deshalb auch verbesserte Pflanzensorten benötigt, siehe etwa die Auseinandersetzung um den "Golden Rice").
Auch Unternehmen wie Nestlé und Danone begrüßen das „Renaturierungsgesetz“ übrigens ausdrücklich. Das Parlament ist nun bereit, Verhandlungen mit dem Rat über die endgültige Form der Rechtsvorschriften aufzunehmen. Immerhin soll das Gesetz erst dann zur Anwendung kommen, „wenn die Kommission Daten über die notwendigen Bedingungen zur Gewährleistung der langfristigen Ernährungssicherheit vorgelegt hat und wenn die EU-Länder die Fläche quantifiziert haben, die wiederhergestellt werden muss, um die Wiederherstellungsziele für jeden Lebensraumtyp zu erreichen“. Das Parlament sieht auch die Möglichkeit vor, die Zielvorgaben bei außergewöhnlichen sozioökonomischen Auswirkungen zu verschieben. Innerhalb von zwölf Monaten nach Inkrafttreten der Verordnung müsste die Kommission eine etwaige Lücke zwischen dem Finanzbedarf für die Renaturierung und den verfügbaren EU-Mitteln bewerten und nach Lösungen zur Überbrückung dieser Lücke suchen.
Die UNO arbeitet der EU zu
César Luena, Berichterstatter für den Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit und Fraktionsmitglied der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament, sagte:
„Das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur ist ein wesentlicher Bestandteil des europäischen Grünen Deals und folgt dem wissenschaftlichen Konsens und den Empfehlungen zur Wiederherstellung der europäischen Ökosysteme. Landwirte und Fischer werden davon profitieren, und es gewährleistet eine bewohnbare Erde für kommende Generationen. Unsere heute angenommene Position ist eine klare Botschaft. Jetzt müssen wir die gute Arbeit fortsetzen, unseren Standpunkt in den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten verteidigen und noch vor Ablauf der Legislaturperiode eine Einigung erzielen, um die erste Verordnung zur Wiederherstellung der Natur in der Geschichte der EU zu verabschieden.“
Neben der Berufung auf den vorgeblichen „wissenschaftlichen Konsens“ führte Luena in der Parlamentsdebatte am 11. Juli weitere Behauptungen ins Feld: So begründete er seine Zustimmung zum „Renaturierungsgesetz“ unter anderem damit, dass sich Europa in den letzten 40 Jahren doppelt so schnell erwärmt habe wie der globale Durchschnitt. Mehr Grünflächen würden außerdem das Risiko von Zoonosen verringern. Dabei stützte er sich ausschließlich auf die Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES), eine UN-Organisation, die auch Weltbiodiversitätsrat oder Weltrat für Biologische Vielfalt genannt wird.
Diesen Rat mit „der“ Wissenschaft gleichzusetzen, ist schon recht abenteuerlich, und auch die Aussage, dass die Temperaturen in Europa in den letzten 40 Jahren mehr als doppelt so stark gestiegen seien wie im weltweiten Durchschnitt, beruht auf einer einzigen Studie der Weltwetterorganisation WMO (World Meteorological Organization), ebenfalls einer UN-Organisation. Dennoch behauptet Luena: „Über dieses Gesetz sind viele Lügen verbreitet worden. Viele Schwindeleien. Ich möchte Sie nur an eine erinnern. Es wurde behauptet, dass dieses Gesetz die Lebensmittelsicherheit in der Europäischen Union gefährdet. Das hat es nie getan. Die Wissenschaft, die Fakten zeigen uns das Gegenteil.“ Wie jedoch gerade mit als Wissenschaft getarnten Ideologien etwa in der Coronakrise eine fatale Politik betrieben wurde und weiterhin wird, legt der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld in seinem aktuellen Buch „Land ohne Mut“ anschaulich dar.
„Eine Reise von Thüringen nach Sonneberg“
Wenn die Argumente ausgehen, bietet sich immer noch ein argumentum ad hominem an. Und tatsächlich schreckte Luena nicht davor zurück, den ktitischen EVP-Vorsitzenden Manfred Weber persönlich anzugreifen. Sein Vorwurf: Weber habe „eine sehr gefährliche Reise“ vorgeschlagen, nämlich „eine Reise von Thüringen nach Sonneberg“. Und Luena erinnerte daran, dass der Gesetzesvorschlag „nicht nur von einer gewissen Frau Ursula von der Leyen verteidigt, sondern auch vorgelegt wurde“ und von „Ländern wie Bulgarien, der Tschechischen Republik, Kroatien, Griechenland, Irland, Rumänien und Litauen gebilligt wurde“, also von Ländern, die von der Volkspartei regiert werden (den jeweiligen Landesparteien, die auf europäischer Ebene zur EVP gehören, Anm d. Red.).
Nicht nur die seltsame Formulierung „eine Reise von Thüringen nach Sonneberg“ („un viaje que va de Turingia a Sonneberg“) irritiert, sondern es erschüttert geradezu, auf welch dünner argumentativer Grundlage weitreichende Entscheidungen im EU-Parlament getroffen werden. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es in den nächsten Jahren weitere Eingriffe in die Ernährungssituation der EU-Bürger geben wird. So bezeichnete der Weltklimarat (IPCC) bereits in seinem Jahresbericht 2022 pflanzenbasiertes oder kultiviertes Fleisch, also Laborfleisch, als Schlüsseltechnologie, die dazu beitragen könnte, die Treibhausgasemissionen der Lebensmittelproduktion bis 2030 erheblich zu senken.
Und im „Renaturierungsgesetz“ wird der IPCC ebenfalls zitiert. Hier ist zu lesen:
„Im IPCC-Bericht 2022 wurde insbesondere hervorgehoben, dass der Welt und Europa nur noch ein kurzes Zeitfenster bleibt, um eine lebenswerte Zukunft zu sichern, da sich die Wetter- und Klimaextreme häufen und irreversible Auswirkungen mit sich bringen, die über die Anpassungsfähigkeit der natürlichen und vom Menschen geschaffenen Systeme hinausgehen. Im Bericht werden dringend Maßnahmen zur Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme gefordert, um die Auswirkungen des Klimawandels vor allem durch die Wiederherstellung geschädigter Feuchtgebiete und Flüsse, Wälder und landwirtschaftlicher Ökosysteme zu mindern.“
Am 5. Juli dieses Jahres hat die EU-Kommission zudem eine neue Richtlinie über Bodenüberwachung und -resilienz, das sogenannte Bodenüberwachungsgesetz, vorgeschlagen, um „Böden zu schützen und wiederherzustellen und ihre nachhaltige Nutzung sicherzustellen“. Derzeit genössen Böden in der EU nämlich nicht den gleichen rechtlichen Schutz wie Luft und Wasser. Übergeordnetes Ziel des vorgeschlagenen Gesetzes sei es, im Einklang mit dem Null-Schadstoff-Ziel der EU bis 2050 einen gesunden Zustand für alle Böden zu erreichen. Das Gesetz liefert dafür eine einheitliche Definition des Begriffs „Bodengesundheit“, schafft einen Überwachungsrahmen und legt Vorschriften für eine nachhaltige Bodenbewirtschaftung und die Sanierung kontaminierter Standorte fest.
Zunächst müssen nun die Mitgliedstaaten mit Unterstützung der Kommission den Zustand aller Böden in ihrem Hoheitsgebiet überprüfen und anschließend bewerten, damit Behörden sowie Landbesitzer geeignete Maßnahmen ergreifen können. Die gesammelten Daten sollen unter anderem in die Pflanzenentwicklung und in digitale Bodenbewirtschaftungsinstrumente einfließen. Darüber hinaus sei mit ihnen eine Analyse von Entwicklungen in Hinsicht auf etwa Dürren und Erosion und somit eine bessere Katastrophenvorsorge und -bewältigung möglich.
Eine nachhaltige Bodenbewirtschaftung soll demnach in der EU zur Norm werden. Schätzungen zufolge gebe es 2,8 Millionen potenziell kontaminierte Standorte in der EU. Zur Bewältigung dieser Folgen früherer Umweltverschmutzung werden die Mitgliedstaaten in der Richtlinie aufgefordert, alle potenziell kontaminierten Standorte zu ermitteln und in einem öffentlichen Register zu erfassen, um zu einer schadstofffreien Umwelt bis 2050 beizutragen. Die Sanierung solle im Einklang mit dem Verursacherprinzip erfolgen, sodass die Kosten von denjenigen getragen werden müssen, die für die Kontaminierung verantwortlich sind. Durch das Bodenüberwachungsgesetz sollen zudem neue Geschäfts-, Innovations- und Beschäftigungsmöglichkeiten in Bereichen wie Beratungsdienste, Schulung, Zertifizierung und Bodenuntersuchung geschaffen werden. Wörtlich heißt es: „Durch die Zertifizierung der Bodengesundheit dürften sich der Wert des CO2-Entnahmezertifikats erhöhen sowie nachhaltige Bodenbewirtschaftung und die damit erzeugten Lebensmittel mehr Anerkennung erfahren.“
Hersteller von Laborfleisch bereiten sich jedenfalls schon mal darauf vor, erste Schritte in Richtung EU-Zulassung zu unternehmen. Doch noch ist das Zukunftsmusik. Erst einmal können die EU-Parlamentarier nun ruhigen Gewissens in den Sommerurlaub fahren: Schließlich haben sie den „Green Deal“ ein gutes Stück voran gebracht.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.