Die Wende 1989 ist die Mutter aller deutschen Umkehrwünsche. Die Deutschen wenden seither ihr Innerstes nach außen, auch anlasslos. Nur wohin hat es den Osten geführt? Der Bundespräsident schielt durch sein Horngestell auf die Umfragewerte nicht nur im Osten und findet es unappetitlich: das blaueste demokratische Missverständnis.
Ein paar Tage nach dem Deutschen Feiertag, der an Wende, Überwindung und Wiedervereinigung erinnern soll, hängt mir das Drumherum noch im Magen. Die Berichterstattung zum 3. Oktober verändert sich seit einigen Jahren in Art und Tonalität, als sei eine „Einheit“ gar nicht vollzogen worden, als würde aus den Mündern von alten politischen Kadern weiterhin oder schon wieder die Stimme der Bürokratie und Obrigkeit erklingen. Mahnen statt Feiern ist das Motto.
Die Berichte lesen sich und hören sich an, als wäre eine Delegation des Zentralkomitees der neuen Einheitsparteien an diverse Orte der Republik gereist, um Grußadressen von Aktivistenverbänden entgegenzunehmen und entsprechende Appelle des Politbüros und des Staatsratsvorsitzenden zur Weiterführung der Revolution (rot, gelb, grün) zu überbringen. Nur die um Hammer und Zirkel bereinigten Winkelemente dürfen fehlen.
Pures Schwarz, Rot, Gold sind am Tag der deutschen Einheit degoutant – dabei war genau dies das Ziel der Demonstranten von 1989: eine gemeinsame Fahne, die sich vom Stigma der sozialistischen Logik und deren kollektiven „Designs“ befreit hatte. Deutschland hat sich im Jahr 2023 bereits seiner Farben entledigt und hisst an den Masten der „Bürgerämter“ lieber neue Bekenntnisse, die so bunt sind, dass daran kein Bekenntnis für ein Land mehr zu knüpfen ist, zumindest aber macht man von Amts wegen einen Bückling vor dem woken Zeitgeist, der selbst lapidare deutsche Bekenntnisse neidvoll wegbeißt und verleumdet.
Wenn er auf andere deuten kann
Die neue Staatsidee ist an keine nationale mehr gebunden. Sie will den Bürger als unmündig-steuerbare und moralisch-kontrollierte Einheit in einem pseudo-kosmopolitischen Konstrukt, dessen Logik nicht der horizontalen Idee der Demokratie folgt, sondern der vertikalen eines imperialen Dirigismus von oben nach unten. Und schon wieder nennt man solche Zumutung „Demokratie“, als sei dies der Wille des „Volkes“ und der Geist der „Wende“.
„Das Volk“ muss als Legitimation immer dann herhalten, wenn „der Staat“ sich dessen warmen Mantel umlegt. Es gibt nur diesen einen Mantel. Wenn Staat und Volk aus einem Guss sind, ist das kein Problem. Je weiter sich beide jedoch voneinander entfernen, umso nackter steht das Volk und friert. Es geht um seine „demokratische“ Souveränität und den Verlust von Teilhabe: Der Mantel darf nicht nur den Staat wärmen – der Mantel gehört ihm nicht.
Das sind Verhältnisse, über die der Bundespräsident zum 3. Oktober nicht so gern – wie sonst – schwadroniert. Er redet nicht vom Staat, den er repräsentiert und bemäntelt wie kaum ein Anderer, sondern vom Volk, das den Staat „missversteht“, mit ihm fremdelt und auf Distanz geht. Dann redet er gern von „Demokratie“, wenn er auf Andere deuten kann.
Es gibt schlicht nichts zu feiern
In den Hauptsendern und offiziellen Nachrichtenkanälen spricht man am 3. Oktober auch davon, dass dieser Feiertag (selbstverständlich ohne Nennung des N-Worts „National-“) im ganzen Land mit zahlreichen Veranstaltungen „in Volksfeststimmung“ begangen worden sei. In welchem Film die Kader-Journalisten gesessen haben, als sie solches „recherchierten“, ist mir schleierhaft.
Ich habe von Einheitsjubel und Freudentänzen jedenfalls nichts mitbekommen, vielleicht wegen des mittlerweile nichtigen Anlasses: Es gibt schlicht nichts zu feiern. Dafür hat die Politik der letzten Jahre gesorgt. Die einst prosperierende, attraktive Bundesrepublik wurde demontiert, ist nicht mehr wiederzuerkennen, erstickt an ihrer Selbstgefälligkeit, politischen Inkompetenz und maroden Struktur.
Vor der Ära Merkel war eigentlich alles so vereinigt und gefügt, dass der deutsche Hermaphrodit aus dem breiten Grinsen nicht hätte rauskommen müssen. Die Ost-West-Micheline wurde jedoch bald vor jeden ideologischen Karren der letzten 20 Jahre gespannt, den die „Einheitparteien“ jeweils eiligst zusammengezimmert hatten: den europäisch-regulationswütigen, den massenmigrantischen, den pandemiepanischen, den nachhaltig energieverteuernden, den krisen- und kriegstechnischen, den katastrophistischen und klimaneutralistischen ... Am Ende steht nun der infame Vorwurf, dass der Karren, vor den die Ost-West-Micheline unfreiwillig gespannt wurde, eigenverschuldet im tiefen Gesinnungsdreck stecken geblieben sei und große Teile der Bevölkerung bedenklich demokratiemüde wären. Wie meinen?
Polit-Salpeter für die SED
Der 3. Oktober ist ein deutscher Fetisch von Apparatschiks geworden, die froh sind, einen festen Tag im Jahr zu haben, an dem das nicht Erreichte und falsch Erlangte im Lichte demokratischer Fehlleistungen der Bürger dargestellt werden kann. Ein Tag politischer Prediger und ewig Linksgestriger, die sich mehr oder weniger die DDR zurücksehnen, den Obrigkeits- und Bürokratenstaat. Und ein Tag, an dem jede Worthülse aus dem Baukasten „demokratischer“ Besserwisserei die Unmündigkeit der Deutschen anprangern darf. An vorderster Front: FWS, der Bundespräsident.
Die zu feiernde „Einheit“ vom 3. Oktober 1990 ist ja für die „Bonzen“ ein Anlass, gekonnt das Thema zu verfehlen und stattdessen zu insinuieren, es existiere nach wie vor eine innere Spaltung oder wieder eine; dass an der deutsch-deutschen Grenze ein tiefer Riss verlaufe, ungefähr da, wo ehedem der „antifaschistische Schutzwall“ gestanden hatte.
Würden wir ihn doch noch besitzen, den antifaschistischen Schutzwall, als perfekte, unüberwindliche Brandmauer, wären die im Westen fein raus (Achtung, Satire), dann könnten da solche wie Höcke und Co. ruhig den Parteiapparat von innen heraus übernehmen – egal – Staatsrat und Volkskammer mit Hass und Hetze zersetzen. Polit-Salpeter für SED, Schalmeienorchester und den ganzen Arbeiter- und Bauern-Klamauk. Das sozialistische Erbe von Denunziation, Mangelwirtschaft und Schwarzem Kanal, der „demokratische“ Sozialismus, diese Farce: einfach weggeätzt. Perfekt. Check. Geld dafür hätten sie sicher aus dem Westen bekommen, natürlich diskret. Jeder politische Flächenbrand im Osten wäre dann an der Feuerschneise und der Brandmauer des geteilten Deutschlands verebbt und erfolgreich erstickt. Alles bliebe fein säuberlich auf dem Gebiet der DDR: Flurbereinigung bei Ochs und Esel. Voll gut. Die Wessi-Demokratie würde siegen, ohne sich am ritzeroten Klamauk die Hände schmutzig zu machen.
So hätte die kleine, schnuckelige Bundesrepublik bis zu 2 Billionen Euro für die ganze Aufhübschung des Ostens gespart. Das Geld hätte heute viel besser der weltrettenden Wärmewende zufließen können. Schade. Dafür hätte jeder Wessi seine Einfamilienhütte komplett subventioniert zum Nullemissionshaus umbauen können – inklusive einer staatlich alimentierten Dunkelflautenversicherung. Aber wer konnte ahnen, was 33 Jahre später im Land der imaginären Brandmauer en vogue sein würde: Zeter und Mordio!
Das blaueste demokratische Missverständnis
Im Ernst, allein das Wort „Wende“ hat sich seit 1989 so vervielfacht und in Neologismen verjüngt, dass man Angst haben muss, bei so vielen Wendemanövern unter die Räder zu kommen. Jedenfalls ist das Wendewort in jeglichem politischen Zusammenhang mittlerweile ein Füllwort der neuen Agitprop, mit dem man dem Fußvolk anzeigen will, wo es demnächst zu Engpässen in der Versorgung kommen soll. Anstehen ist ja wieder gang und gäbe.
Die Wende 1989 ist die Mutter aller deutschen Umkehrwünsche – wenn man von der „geistig-moralischen“ im Westen von 1983 unter Helmut Kohl absieht. Die Deutschen wenden seither ihr Innerstes nach außen, auch anlasslos. Nur wohin hat es den Osten geführt? Der Bundespräsident schielt durch sein Horngestell auf die Umfragewerte nicht nur im Osten und findet es unappetitlich: das blaueste demokratische Missverständnis.
Also lamentiert er am 2. Oktober in den Tagesthemen: „Mir macht Sorge, was sich in diesem Land verändert.“ Ich gebe Frank-Walter Steinmeier recht: „Unsere“ Demokratie wird angefeindet. Doch ab hier fängt der Dissens an: Die Veränderungen und Anfeindungen finden dort statt, wo es um Besitzstände geht. Es ist eben nicht mehr „unsere“ Demokratie, sondern die Demokratie von „Volksvertretern“, die glauben, sie vor „uns“ hüten zu müssen – als sei sie ein Lamm, das der Wölfe wegen im Schäferwagen nächtigen muss.
Dieses bei Politikern beliebte, neo-demokratische Bild eines wölfischen Volkes (Demos) und seiner hirtenhaften Herrschaft (Kratie) verschärft die Logik einer Spaltung, die dem Selbstverständnis der Demokratie als Einheit widerspricht. Dieses Bild ist Populismus und zielt auf die Mündigkeit und Urteilskraft des Souveräns, auf „unsere“ Demokratie.
Der Souverän stört in diesen Zirkeln nur
„Unsere“ Demokratie läuft Gefahr, eine Luftspiegelung wie die „proletarische Demokratie“ der DDR zu werden. Es ist Bestandteil der Anfeindungen, wenn „uns“, die Wähler, die Bürger, den Souverän – zumindest in einer nicht unerheblichen Teilmenge von Demokraten in diesem Land – zunehmend das Gefühl beschleicht, dass man die Demokratie kapert, um uns zu bevormunden. Der Bundespräsident irrt in seiner Annahme, die Feinde der Demokratie säßen nur rechts der Mitte.
Wenn FWS vor einer Wahl der AfD warnt und milde gestimmt zugibt, „nicht alle, die im Augenblick in den Umfragen auftauchen, sind Extremisten“, bedient er trotzdem den „heiligen“ Stigmatisierungsreflex des Zeitgeistes und gießt Öl ins Feuer der Entfremdung von Staatsvolk und Oberhaupt. Er ist mittendrin und bei sich in einer amtsfremden Parteilichkeit und einem Dünkel, die eines Bundespräsidenten nicht würdig erscheinen. Er macht Werbung für seine ihm nahestehenden „Eliten“, betreibt Segregation, statt sich schützend vor die gesamte Bevölkerung zu stellen.
Demokratie lebt vom Austausch, kommunikativ und strukturell im Politischen. Es werden Standpunkte und politische Ämter, ganze Eliten ausgetauscht. Das hat 1989/1990 in der DDR zwar nicht perfekt geklappt, aber immerhin. Heute hat sich bezüglich dieser Grundbedingung ein demokratiefremdes Moment im „Apparat“ etabliert, das die gewählten Volksvertreter nicht minder verkörpern. Sie wollen den permanenten Austausch nicht, sie beharren auf Standpunkten und Posten. In solchen hermetischen Zirkeln wird einseitige, parteiische „Diskurskultur“ betrieben, um echten Austausch zu verhindern. Der Souverän stört in diesen Zirkeln nur.
Diesen Wertewandel verkörpert wie kaum ein anderer der Bundespräsident „himself“. In seiner „Demokratie“ geht es um die richtige Gesinnung und eine latente Gefahr. Mir graut es bei der Vorstellung, dahinter verberge sich eine solche Haltung und Moral der „Anständigen“, die Deutschland immer zugrunde gerichtet haben.
„Demokratie“ wird zum populistischen Kampfbegriff
Eigentlich gibt es drei Geisteshaltungen gegenüber der Demokratie: Entweder man bekämpft sie oder man ignoriert ihre wahre Bestimmung oder man nimmt sie konsequent ernst. In einer ernst genommenen Demokratie werden keine Menschen für ihre (abwegigen) Meinungen geächtet und kaltgestellt – außer es handelt sich um echte Volksverhetzung, wie Holocaustleugnung.
Eine ignorante, „verkommene“ Demokratie ist ein komplexes Produkt aus machttechnischer, politischer und medial-intellektueller Korruption. Sie ist eine Beute von politischen Seilschaften. In ihr wird die Definition von „Verhetzung“ instrumentalisiert und beliebig ausgeweitet. Man besetzt Meinungsräume durch Sprechverbote und Sprachregelungen, man kennzeichnet unliebsame Meinungen als feindlich und verhindert ihren Auftritt, man denunziert Gedanken, die von der Verfassung eigentlich gedeckt sind. „Demokratie“ wird hier zum populistischen Kampfbegriff, der die gefährliche Schlagseite der Meinungskultur verdecken soll.
Es werden beflissene Opportunisten und Privatunternehmen für Zwecke der Zensur, Agitation und Stigmatisierung beschäftigt und staatlich finanziert. Es reicht, Abweichler sozial und finanziell zu ruinieren, sie zu vertreiben und ihnen das gesellschaftliche Leben zu vergällen. Diskriminiert und ihrer Entfaltungsmöglichkeiten beraubt, kann in der ignorierten Demokratie die Meinungsvielfalt auch in Pseudo-Freiheit nicht existieren.
Korrumpierte Zensurautomaten politischer „Eliten“
Gerade erleben wir einen Legitimationsschub für diese Form der „Demokratie“. Mit dem „Digital Services Act“ der EU-Gesetzgeber werden Digitalkonzerne gezwungen, Hass-Rede und Falschinformationen unverzüglich zu löschen. Es ist Definitionssache, was Hass-Rede ist. Falschinformation kann sich später als richtig herausstellen, und meist wird nicht einmal zwischen Meinung und Falschinformation unterschieden. Digitalkonzerne, die dazu angehalten werden, im Zweifel zu löschen, werden dies aus Opportunitätsgründen schneller und häufiger tun. Sie werden so zu korrumpierten Zensurautomaten politischer „Eliten“.
Die EU-Kommission definiert immer enger, was wie und wo gesagt werden darf. Mit dem „Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation“ schwingt sie sich zum Gralshüter der Meinungsfreiheit im Netz auf und verpflichtet alle großen Online-Plattformen, ihr halbjährlich über die Fortschritte bei der „Bekämpfung von Desinformation“ zu berichten. So funktioniert Zensur, die laut Verfassung (politisch) nicht stattfinden darf aber de facto privatrechtlich organisiert und juristisch „sauber“ verfügt wird.
Nur der Vollständigkeit halber: Systeme, die die Demokratie ablehnen, inhaftieren und foltern Menschen für ihren Drang nach Freiheit. Solche Regime machen keinen Hehl daraus, dem Volk effektive Mitsprache zu verweigern. Es finden keine freien Wahlen statt. Deutschland hat diese Dunkelphasen zweimal erlebt. Es ist die Aufgabe der Demokratie, solches zu verhindern. Darauf berufen sich auch die Seilschaften der ignoranten Demokratie, die genau darin ihre Legitimation sehen.
Nicht „ihre“, sondern „unsere“
Was ist nun die Art Demokratie, die sich die Ampelregierung, der Bundespräsident und die EU-Kommission vorstellen? Man braucht nur die Gesetzesvorhaben und Gesetze, die begünstigten Unternehmen der Medienlandschaft, das System von Meinungslenkung und Framing in den ÖR-Anstalten, die Festtagsreden und Brandmauern zu betrachten, um festzustellen, wo sie stehen: in der Mitte einer konstitutionell organisierten Ignoranz. Nur Überzeugungstäter können solche kognitive Dissonanz aushalten. Menschen solcher Couleur stehen nur für ihre spezifische „Demokratie“ ein, setzen diese Definition von „Demokratie“ durch und ignorieren, dass es eine Demokratie geben sollte die nicht „ihre“, sondern „unsere“ ist, die des „gemeinen“ Volkes.
Frank-Walter Steinmeier am 2. Oktober in den Tagesthemen: „Ich habe ja Verständnis dafür, dass man in einer Demokratie auch seine Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt. Ich habe [...] kein Verständnis dafür, dass man seine Stimme gebraucht, um Vorstellungen oder Bewegungen zu unterstützen, die auf Grundlage der Verachtung der Demokratie bestehen. Und deshalb plädiere ich sehr dafür, mit der eigenen Stimme verantwortungsvoll umzugehen.“
Es ist toll, dass wir unsere Unzufriedenheit zum Ausdruck bringen dürfen. Ja, das hat er gesagt. Genauso muss man es machen. Das ist Demokratie, hoffentlich bald.
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Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.