Nein, ich kann es nicht mehr hören. Der deutsche Selbsthass. Spätestens seit meinem dreizehnten Lebensjahr werde ich damit fast tagtäglich konfrontiert. Es begann pikanterweise auf einer Konfirmandenreise. Auch wenn ich mich damit brüsten darf, bis zur 9. Klasse noch einen soliden Geschichtsunterricht genossen zu haben, hörte dieser mit Bismarck abrupt auf. Danach dominierte immer wieder ein Thema: der Nationalsozialismus. Rauf und runter, in Geschichte, Erdkunde, Gemeinschaftskunde und Deutsch. Kein Scherz. Mir kann niemand erzählen, deutsche Schulkinder würden über diese Epoche ungenügend aufgeklärt. Nein, sie werden damit geradezu überhäuft.
Ich gestehe, am Anfang überwogen Betroffenheit und Entsetzen. Freiwillig und aus eigenem Antrieb las ich Hans Peter Richters „Damals war es Friedrich“. Die Geschichte berührte mich im Innersten. Ich litt beim Lesen mit Friedrich mit, spürte seine Fassungslosigkeit und seine Angst geradezu körperlich. Auch die realen Schicksale, wie das von Anne Frank etwa, gingen mir nahe. Bald jedoch durchschaute ich, wohin die Reise gehen sollte. Wir hätten als Deutsche jedes Recht verwirkt, unser Land zu lieben. Und ganz, ganz kurze Zeit wünschte ich mir tatsächlich, keine Deutsche zu sein. Alles, bloß keine Deutsche.
Dass es nicht soweit kam und der Selbsthass sich bei mir nicht verfangen konnte, hat zwei Gründe. Und zwei Namen. DIE WELT und die Amerikaner. Bis in die 1990er-Jahre hinein frönte diese Zeitung nicht dem deutschen Selbsthass. Die Amerikaner wiederum – nicht alle, aber viele ihrer Repräsentanten – haben den Deutschen (West) oft zu verstehen gegeben: Ihr dürft stolz auf euch sein. Gedankt wurde es ihnen selten.
Meine Geschichte ist alles andere als exemplarisch. Durch die WELT erfuhr ich schon als Jugendliche viel auch über deutsches Leid. Über das Leid der Heimatvertriebenen, das Leid der Flüchtlinge, das Leid der Teilung. Und über das Leid der Deutschen, die außerhalb der einstigen deutschen Reichsgrenzen lebten und besonders bitter für Hitlers Verbrechen büßen mussten. Ich lernte, dass Schuld immer nur individuell sein kann, niemals kollektiv. Ja, es gibt eine gemeinsame nationale Verantwortung, aber sie ist nicht gleichbedeutend mit Kollektivschuld.
Dieser Weg, den ich ging, eröffnete mir einen anderen Blick auf Deutschland als den, den das Gros der Lehrer, ebenso wie der Medien, mir vorsetzen wollte. Die Amerikaner machten mir deutlich, dass man auch als Deutsche sein eigenes Land lieben darf. Dass wir auf vieles als Deutsche stolz sein dürfen. Dass die deutsche Geschichte trotz ihrer unbestreitbaren Tiefen auch viel Gutes hervorgebracht hat. Ronald Reagan sagte im Mai 1985 in Hambach, kein Land der Welt sei schöpferischer gewesen als Deutschland (DIE WELT, 7.5.1985 in: „Die Sache der deutschen Einheit ist mit der Demokratie verbunden“).
Für diesen trotz aller Unzulänglichkeiten eher liebevollen Blick auf das eigene Land bin ich den größtenteils längst vergessenen Journalisten der alten WELT, wie auch jenen Amerikanern, die mir einen anderen Zugang zu Deutschland ermöglichten, zu großem Dank verpflichtet. Denn es lebt sich nicht gut mit Selbsthass. Er ist auch nicht besser als Fremdenhass.
Das Deutschlandlied fiel schon früh der Zensur zum Opfer
Deshalb, liebe Leser, wird es Sie kaum verwundern, dass ich allergisch reagiere auf den x-ten Versuch, das Hoffmann-Haydn‘sche Lied zu verunglimpfen, in den Schmutz zu ziehen, lächerlich zu machen oder gar ganz abzuschaffen. Wer dies tut, wie aktuell Bodo Ramelow, der kann sich niemals ernsthaft mit der Entstehungsgeschichte des „Lieds der Deutschen“ beschäftigt haben. Schon seine Behauptung, „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sollte durch einen anderen Text ersetzt werden, weil er im Zusammenhang mit diesem Text „das Bild der Naziaufmärsche von 1933 bis 1945 nicht ausblenden“ könne, entbehrt jeder Grundlage. Die dritte Strophe des Deutschlandliedes wurde gerade unter Hitler nicht gesungen.
Weil gegen die grassierende Geschichtsvergessenheit nur ein einziges Mittel wirkt, nämlich die Geschichte zu erzählen, die nicht erzählt wird, soll hier die Entstehungsgeschichte unserer Nationalhymne kurz wiedergegeben werden.
Am 29. August 1841 las Heinrich Hoffmann von Fallersleben dem Verleger Julius Campe auf Helgoland sein erst drei Tage zuvor entstandenes Gedicht vor, das er das „Lied der Deutschen“ nannte. Zusammen mit dem Stuttgarter Buchhändler Paul Neff kam Campe zu Hoffmann auf die Insel, um das erste fertige Exemplar des zweiten Teils seiner „Unpolitischen Lieder“ zu übergeben. In Wahrheit waren es alles andere als unpolitische Lieder: Vielmehr prangerte Hoffmann in ihnen die damalige Fürstenwillkür und Kleinstaaterei mit spitzer Feder an.
Dass Hoffmann, der zuvor als Literaturprofessor in Breslau wirkte und sich selbst den Zusatznamen „von Fallersleben“ als Erinnerung an seine Heimat gab, seine Lieder nicht in Deutschland schrieb, sondern auf der Nordseeinsel Helgoland, die damals noch zu England gehörte, hatte einen triftigen Grund. Hier fühlte er sich frei. Der Dichter wurde wegen seines Kampfes für demokratische Freiheiten mehrmals des Landes verwiesen. Heute würde man ihn einen politisch Verfolgten nennen. In einem seiner Gedichte hieß es unmissverständlich: „Ganz Europa ist eine Kaserne, alles Dressur und Disziplin!“ Ein Dichter, der so über die Obrigkeit schrieb, der war dieser ein Dorn im Auge. Gleiches galt für das gerade neu entstandene Deutschlandlied.
Die gerne erhobene Behauptung, mit der ersten Strophe „Deutschland, Deutschland über alles“ habe sich Hoffmann über andere Nationen erheben oder gar einem Expansionswillen Ausdruck geben wollen, verfälscht die geschichtliche Wahrheit. Im August 1841 gab es keinen deutschen Nationalstaat, aber eine deutschsprachige Bevölkerung, die „von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ ansässig war. Sie lebte zersplittert in unzähligen Kleinstaaten. Hoffmanns Verse waren ein Aufruf zur Einheit in Freiheit, von dem die damals Herrschenden in Preußen und Österreich nichts wissen wollten. Das Lied fiel der Zensur zum Opfer.
Zur Nationalhymne dank Friedrich Ebert
Das nach einer Melodie von Joseph Haydn („Gott erhalte Franz den Kaiser, unsren guten Kaiser Franz“) verfasste Lied erklang am 5. Oktober 1841 auf dem Hamburger Jungfernstieg. Gesungen wurde es zu Ehren des liberalen badischen Professors Carl Theodor Welcker, der als ein Vorkämpfer der deutschen Einheitsbewegung aus Baden fliehen musste. Wie Hoffmann verlor auch er deshalb sein Lehramt. So wurde das „Lied der Deutschen“ mehr und mehr zu einem Bekenntnislied eines sich nach „Einigkeit und Recht und Freiheit“ sehnenden Volkes.
Und jetzt, aufgepasst! Zur Nationalhymne erhoben wurde es von niemand anderem als von Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) am 11. August 1922, dem Verfassungstag der Weimarer Republik. Vor dem versammelten Reichstag verkündete er damals:
„Einigkeit und Recht und Freiheit! Dieser Dreiklang aus dem Liede des Dichters gab in Zeiten innerer Zersplitterung und Unterdrückung der Sehnsucht aller Deutschen Ausdruck; er soll auch jetzt unseren harten Weg zu einer besseren Zukunft begleiten. Sein Lied, gesungen gegen Zwietracht und Willkür, soll nicht Mißbrauch finden im Parteienkampf; es soll nicht der Kampfgesang derer werden, gegen die es gerichtet war; es soll auch nicht dienen als Ausdruck nationalistischer Überhebung. Aber so, wie einst der Dichter, so lieben wir heute Deutschland über alles!“
Nach 1933 verschwanden nicht nur die schwarz-rot-goldenen Fahnen, auch vom Deutschlandlied wurde jetzt nur noch die erste Strophe gesungen – als Vorspann zum „Horst-Wessel-Lied“. Aus diesem Grunde wurde von den Alliierten das Deutschlandlied 1945 verboten. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 war es Bundeskanzler Konrad Adenauer, ein Gegner und Opfer des Nationalsozialismus, der sich vehement für die Wiedereinführung des Deutschlandliedes einsetzte. In seinem Schreiben an Bundespräsident Theodor Heuss ging er auf den Missbrauch des Liedes unter Hitler ein, erinnerte aber auch an die demokratische Herkunft des Liedes und daran, dass Reichspräsident Ebert es einst zur Nationalhymne erklärte. Er schloss mit der wiederholten Bitte der Bundesregierung, „das Hoffmann-Haydn’sche Lied als Nationalhymne anzuerkennen. Bei staatlichen Anlässen soll die dritte Strophe gesungen werden.“
Unsere Hymne passt zu Deutschland wie keine andere
Die von Heuss angeregte „Hymne an Deutschland“ („Land des Glaubens, deutsches Land“), gedichtet von Rudolf Alexander Schröder, erklang das erste Mal in der Silvesternacht 1950/51 im Rundfunk – aber sie fand keinen Anklang. Die große Mehrheit der Deutschen war für das Lied von Haydn. Schließlich willigte Heuss ein, auch weil die Bundesrepublik aus außenpolitischen Gründen nicht länger ohne Hymne bleiben konnte. Heuss schrieb an Adenauer: „Wenn ich also der Bitte der Bundesregierung nachkomme, so geschieht dies in Anerkennung des Tatbestandes.“
Dieser schlichte Briefwechsel fand Eingang im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 6. Mai 1952. Seitdem galt das Deutschlandlied mit allen drei Strophen bis 1991 als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland. Nach einem Briefwechsel zwischen Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundespräsident Richard von Weizsäcker im August 1991 gilt die dritte Strophe als Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschlands (siehe „Die Nationalhymne“, Verlag Eberhard Schellhaus, Stuttgart 1987).
Wer die Entstehungsgeschichte des Deutschlandliedes kennt, der sollte auch erkennen können, dass diese Hymne zu Deutschland und seiner Geschichte passt wie kaum eine andere. Einige Nicht-Deutsche haben sich schon voller Anerkennung und Wärme über unsere Hymne geäußert, so etwa der verstorbene estnische Staatspräsident Lennart Meri. Dieser sagte am 3. Oktober 1995 in Berlin: „Unter den Nationalhymnen der westlichen Welt ist es eben das Deutschlandlied, wo jene Prinzipien des Abendlandes – Einigkeit, Recht und Freiheit – auf prägnante Art und Weise ihren Ausdruck gefunden haben“. Auch der Hymnenexperte und Historiker Peter Mario Kreuter vom Leibniz-Institut Regensburg meinte jüngst in einem Interview mit der Westdeutschen Zeitung, das Haydn'sche Lied sei eines der musikalisch anspruchsvollsten und schönsten. Was für Komplimente für eine Hymne! Nehmen wir sie doch endlich einmal an.
Zur Debatte um die Nationalhymne erschien auf Achgut.com bislang:
Wolfram Weimer: Nationalhymne: Ramelow hat einen Punkt
Bernhard Lassahn: Deutschland, Deutschland, Balla, Balla
Wolfram Ackner: Neue Nationalhymne: „Schni schna schnappi, überschnappi schnapp!“