Kaum war mein letzter Artikel („Das Moralgeplapper der Kirchen“) auf Achgut.com eingestellt, schockierte der römische Pontifex offensichtlich gerade seine südamerikanischen Gläubigen mit der Zumutung, auch homosexuelle Paare sollten in einer Familie leben können, was offensichtlich impliziert, auch Kinder aufziehen zu dürfen. An dem Punkt kann ich die offensichtlich zum Teil erfolgte Empörung nicht nachvollziehen: Was hätte er denn im Rahmen des christlichen Liebesgebotes sagen sollen?
Verwunderlich ist es dann doch eher, dass es für die verbliebenen Schafe ohne Mitgliedschaft im Club und einer ordentlich bezahlten Kirchensteuer hier in Deutschland weder Arbeit in kirchlichen Institutionen noch Zugang zu Sakramenten und damit wohl auch keine ewige Seligkeit geben soll. Auf der einen Seite wird sozusagen der Markenkern biblischer Leere aufgegeben, auf der anderen Seite werden Absurditäten, wie das Zölibat mit Klauen und Zähnen verteidigt. Dass das auch von außerhalb der Kirche kritisiert werden kann, ist für mich klar:
Jeder deutsche Steuerzahler finanziert den Klerus nach Konkordat mit, auch wenn er nicht Kirchenmitglied ist und Kirche agiert als politische Kraft. Und Probleme wie Missbrauch sind offensichtlich nicht eine innerkirchliche Frage, die nach kanonischem Recht zu behandeln oder auszusitzen ist, sondern ganz platt eine Angelegenheit des Strafrechts. (Zur Geschichte und Begründung des Zölibats ist das Buch von Henry Charles Lea „History of Sacerdotal Celibacy“ sehr interessant. Eine deutsche Ausgabe ist mir leider nicht bekannt.)
Unfähigkeit, die eigenen moralischen Standards einzuhalten
Interessanterweise scheint zwischen der Kirche als Agentur des Glaubens und dem Staat eine Art von Osmose stattzufinden: Während im Religiösen immer mehr das „Anything-goes“ Platz greift, geschieht staatliches Handeln immer mehr mit einer Begrifflichkeit, die an die gute alte Inquisition erinnert: Leugnung, Widerruf, Bekenntnis zu … Maske als Zeichen des Glaubens: Mediale Credos zuhauf: Insgesamt eine mittelalterliche Terminologie, die dann vielleicht in der Impfung oder geradezu fortgesetzten Impfung als neue Kommunion gipfeln könnte. Außerhalb derselben dürfte dann kein Heil mehr sein.
Eine für mich erstaunliche Zahl von Leserbriefschreibern zu meinem Artikel und auch zu dem von Ramin Peymani („The Great Reset – der totalitäre Neustart“) zu der neuen päpstlichen Enzyklika „Fratelli tutti“ scheinen mit den Großkirchen definitiv abgeschlossen zu haben. Gelegentlich wurde sogar Unverständnis darüber laut, dass man sich mit dem Thema überhaupt noch beschäftigt. Diese Haltung ist nur allzu sehr verständlich und einer dauernden Enttäuschung zuzuschreiben, die aus Vernachlässigung des Spirituellen und einer grotesken Unfähigkeit, die eigenen moralischen Standards einzuhalten, resultiert.
Trotzdem: Wir erleben hier auch etwas wie ein Auswaschen des europäischen geistigen Fundaments, einen Prozess, bei dem die Gewissheit der eigenen Werte immer mehr verloren geht, die dann halt Tag für Tag ausgehandelt werden müssen, zur Not auch mit dem Messer in der Faust.
Höchstentwicklung politischer Organisation
Doch nun ein bisschen ins aktuelle „Eingemachte“, und das erst einmal mit einem Rückgriff ins 19. Jahrhundert. „Europa ist eine untergehende Welt. Die Demokratie ist die Verfallsform des Staates.“ Und: „Unsere Zeit zehrt und lebt von der Moralität früherer Zeiten.“ Diese und die folgenden Zitate sind von Friedrich Nietzsche (aus seinen nachgelassenen Schriften, drittes Buch: „Der europäische Nihilismus“)
Schon diese Zitate aufzuführen, produziert bei mir das eigentümliche Gefühl, eine Art Sakrileg zu begehen. Demokratie, wie sie in den Sonntagsreden unserer Politiker vorkommt und wehrhaft verteidigt werden soll, ist per se sakrosankt: Ihre konkrete Erscheinungsform als Parteiendemokratie mit ihren Defiziten, ihrer Unterhöhlung durch Lobbyismus und Finanzinteressen, ihre defizitären parlamentarischen Diskurse, ihre Beschneidung dadurch, dass man dem Urteil der Bürger doch nicht ganz traut und keineswegs das „Volk“ oder die „Bevölkerung“ abstimmen lassen will, wie in der seligen Schweiz – das alles geht in einem begrifflichen Weihrauch unter, der unser System als Höchstentwicklung politischer Organisation sieht und woanders nur Defekte wahrnimmt: Sei es bei „Machthabern“ wie Putin und dergleichen, oder bei historischen Ausrutschern wie Trump.
Nietzsches Satz ist die Einleitung in eine Beschreibung des europäischen Nihilismus. „Was ich erzähle ist die Geschichte der nächsten zwei Jahrhunderte. Ich beschreibe, was kommt, was nicht mehr anders kommen kann: die Heraufkunft des Nihilismus ... Es ist ein Irrtum, auf ‚soziale Notstände' oder ‚physiologische Entartungen' oder gar auf Korruption hinzuweisen als Ursache des Nihilismus. Es ist die honetteste, mitfühlendste Zeit.“
Festzuhalten ist, dass heutzutage unter Nihilismus nicht mehr der der zaristischen Bombenwerfer des vorvorigen Jahrhunderts verstanden werden kann, auch nicht der der abgrundtiefen Bösewichte aus Dostojewskis „Dämonen“ – diese selbst im übrigen Resultate einer liberalen Verwöhnung –, sondern dass man jetzt eine Art von sanftem Nihilismus vorfindet. Die Fragen nach weltanschaulicher Letztbegründung, nach Gott oder absoluten Werten ist einfach mit der religiösen Praxis und der Kenntnis der Texte verschwunden. Hat sich meine Generation, die der heute 60+, noch in der Jugend um Glaube oder Atheismus gestritten – ich kann mich noch an abendelange Diskussionen in der hauseigenen Bar meines damaligen Internats erinnern –, so existiert für die meisten heutigen Jugendlichen diese Frage überhaupt nicht mehr.
Der Dalai Lama als der letzte glaubwürdige Religionsführer
Nicht nur in den östlichen Bundesländern haben 40 Jahre Sozialismus das Fundament derartiger Fragestellungen erodiert, der Kapitalismus hierzulande scheint nicht weniger effektiv gewesen zu sein. Meine langjährige Erfahrung als Lehrer legt das nahe, auch Gespräche mit den Freunden, die noch Kinder im Alter zwischen 20 und 40 haben, lassen keinen anderen Schluss zu. Das heißt nicht, dass diese Generation völlig ohne Werte lebt. Sicher gibt es zwischen dem allgegenwärtigen Bedürfnis zu „feiern“ auch einen gewissen konservativen Roll-back zu Lebensformen wie Familie oder den Wunsch nach verbindlichen Beziehungen.
Dazu Nietzsche: „Man glaubt mit einem Moralismus ohne religiösen Hintergrund auszukommen: aber damit ist der Weg zum Nihilismus notwendig.“ Man merkt bei ihm übrigens deutlich auch ein gewisses Bedauern über diese Entwicklung. Deren Ursache sieht er so: „In Betreff der Regionen bemerke ich eine Ermüdung, man ist an den bedeutenden Symbolen endlich müde und erschöpft. Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harm- und gedankenlosesten und die reflektiertesten sind durchprobier … Selbst der Spott, der Zynismus, die Feindschaft gegen das Christentum ist abgespielt … Da scheint mir nur eine rücksichtsvolle, ganz und gar ziemliche Enthaltung am Platze: ich ehre durch sie die Religion, ob es schon eine absterbende ist.“
Die Beschreibung scheint auf meine Generation zuzutreffen: was aber soll aus dieser Haltung an Wertvermittlung folgen? Im besten Fall bleibt der kirchliche Raum als Konzertsaal erhalten, der ästhetische Genuss ist seine letzte Rechtfertigung.
Bemerkenswert fand ich die folgenden Notate:
„Skepsis an der Moral ist das Entscheidende: Der Untergang der moralischen Weltauslegung … endet in Nihilismus … Buddhistischer Zug; Sehnsucht ins Nichts.“
Dass schon Nietzsche hier den Buddhismus erwähnt, natürlich aus seiner Perspektive, scheint mir, fällt auf, gilt doch der Dalai Lama für viele als der letzte glaubwürdige Religionsführer.
Die Realität wird bipolar strukturiert
Das wird wieder mit der Einschätzung der Demokratie kurzgeschlossen: „Die europäische Demokratie ist zum kleinsten Teil eine Entfesselung von Kräften. Vor allem ist sie eine Entfesselung von Faulheiten, von Müdigkeiten, von Schwächen.“
Allerdings kann der beschriebene sanfte Nihilismus auch fix ins Gewalttätige umschlagen. Ein Bedürfnis, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, scheint unausrottbar, und wo Hollywood nicht mehr ausreichend für die Katharsis durch Furcht und Zittern sorgt, wird die Realität bipolar strukturiert. Das absolut Böse, sei es nun der selbst definierte Faschismus oder Trump oder „die Glatzen“, darf und muss nun auch mit Gewalt bekämpft werden, wobei der Übergang zu Akten sinnloser Zerstörung oft sehr knapp ist. Hier entsteht eine quasi frühmittelalterliche Scheidung in Schafe und Böcke, die auf jeden Fall Orientierung und Rechtfertigung für das eigene Kreuzfahrertum und, je nach Herkunft, für den heiligen Krieg gibt: Ein sehr weites Feld!
Wenn man akzeptiert, dass der „Untergang der moralischen Weltauslegung“ diesen oben beschriebenen sanften Nihilismus als Amnesie ganzer Glaubenssysteme bewirkt, dann ist natürlich der Komplex Zölibat und der Zusammenhang, den „man“ mit der Missbrauchsproblematik herstellt, von entscheidender Bedeutung. Schon in den „Dämonen“ ist eine Missbrauchsgeschichte die gravierendste „Sünde“ Stawrogins. Streng nach dem Bibeltext wird das mit Mühlsteinen um den Hals geahndet.
Wenn es auch nur im Ansatz berechtigt ist, da einen Zusammenhang zum eigentlich nur individuell freiwillig wählbaren, aber nicht dekretierbaren zölibatären Leben zu sehen, dann muss hier ein Umdenken einsetzen, finde ich. Bei seiner Durchsetzung – nur in der Westkirche – diente er dazu, die Vererbung kirchlicher Fürstentümer zu verhindern. Dass die trotzdem oft in denselben Adelsfamilien verblieben sind, ist eine andere Geschichte. Definitiv ging es um die Verfügung von Macht und Besitz. Wozu der Zölibat heute gut sein soll, weiß ich nicht. Was hätte wohl die Frau von Petrus dazu gesagt? Auf jeden Fall habe ich gelesen, dass sich eine Nonne beschwert hat, dass bei „Fratelli tutti“ nicht von „sorelle“ die Rede war.
Disclaimer: Es ist mir wichtig, am Schluss zu sagen, dass dieser Text keinerlei Anspruch hat, vollständig oder wissenschaftlich zu sein. Auch Nietzsche hat für mich hier nur die Funktion einer Denkanregung, einer Art von „Fassung“ meiner persönlichen Sicht auf die angesprochenen Sachverhalte. Ich freue mich immer auf Leserkommentare, die meine Ansichten konterkarieren oder korrigieren. Ich bin kein Kirchenmitglied mehr, gleichgültig ist mir die Kirche aber keineswegs.
Teil 1 finden Sie hier.