Die Wahl eines Verkehrsmittels war bislang eine individuelle Angelegenheit. Zukünftig will die EU-Kommission jedoch ein Wörtchen mitreden, wie Sie beispielsweise von Wanne-Eickel nach Nottuln-Appelhülsen gelangen.
„Horizont Europa“, das „ehrgeizige EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation“, macht auch vor der kleinsten Kommune nicht Halt: Bis 2030 will das Förderprogramm unter anderem den Klimawandel bekämpft und zum Erreichen der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung beigetragen haben. Dazu wurden fünf Bereiche für die „Durchführungen von Missionen“ definiert. Der erste Bereich umfasst die „Anpassung an den Klimawandel, einschließlich gesellschaftlicher Veränderungen“. Außerdem geht es in den Missionen konkret etwa um „Bodengesundheit und Lebensmittel“ sowie in der „Urban Cities Mission“ um „klimaneutrale und intelligente Städte“.
Die Missionen der EU werden systematisch über einzelne Länder und Regionen bis hin zu den Kommunen heruntergebrochen. So nahm beispielsweise am Mobilitätstag NRW 2022, der am 16. Dezember in Essen stattfand, wie selbstverständlich Wiebke Pankauke teil. Pankauke ist stellvertretende Referatsleiterin für zukünftige Stadt- und Mobilitätssysteme in der Generaldirektion Forschung & Innovation der EU-Kommission, mit Schwerpunkt auf der Mission „100 klimaneutrale und intelligente Städte bis 2030“.
Die Agenda des NRW-Mobilitätstags umfasste 22 Programmpunkte, die per Livestream übertragen wurden und hier auch noch nachträglich angeschaut werden können. Die Panels der Tagung wurden auf die drei Hashtags „innovativ“, „intelligent“ und „intermodal“ aufgeteilt. Pankauke durfte ihre Mission unter „intelligent“ um 11.45 Uhr vortragen. Das Hauptforum begann jedoch schon um 10 Uhr und trug den Titel „Mission Zero – wie wir die Klimaziele im Verkehr erreichen“.
Bedarfsgerechte Transformation
Hier versicherte Oliver Krischer, NRW-Minister für Umwelt, Naturschutz und Verkehr, dass Bahnfahren etwas sei, das Spaß mache und meistens auch ganz gut klappe. Allerdings kam er nicht umhin einzugestehen, dass es bei der Bahn auch Verspätungen gebe. Dann wurde eine Videobotschaft von Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck eingespielt. Habeck begrüßte Krischer darin mit „lieber Oli“ und sprach vom „Kampf“ gegen die Klimakrise. Dabei spiele der Verkehrsbereich eine Schlüsselrolle, und das Tempo der CO2-Einsparung müsse stark angezogen werden.
In diesem Zusammenhang wies Habeck auf die EU-Vorgabe hin, der zufolge ab 2035 nur noch CO2-neutrale Fahrzeuge neu zugelassen werden dürfen. Deswegen müsse der Ausbau von Ladepunkten für E-Autos vorangetrieben werden. Ob erneuerbare Energien ausreichen, um den Strombedarf für all die benötigten Ladestationen zu decken, blieb allerdings ebenso offen wie die naheliegende Frage, ob die Förderung von Ladesäulen tatsächlich die derzeit größte Sorge der unter den hohen Energiepreisen leidenden Bevölkerung darstellt. Habeck betonte hingegen, dass die Mobilitätswende das Verkehrsverhalten verändern werde und dabei der Digitalisierung eine große Bedeutung zukomme.
Es gehe um eine bedarfsgerechte Transformation, letztlich hin zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft. Hintergrund für Habecks Aussagen ist der Europäische „Green Deal“, in dem vereinbart wurde, dass Europa bis 2050 klimaneutral werden muss. Diese EU-Prämisse darf offenkundig nicht mehr wissenschaftlich diskutiert, sondern nur noch als unhinterfragbar geglaubt werden. Um es zu betonen: Gegen sinnvollen Umweltschutz ist selbstverständlich nichts einzuwenden, doch der „Green Deal“ dreht sich im Kern ausschließlich um die ideologische Fixierung auf Treibhausgas-Emissionen.
„Erfolgsmodell 9-Euro-Ticket“
Ins gleiche Horn wie Habeck stieß auch Christian Hochfeld, Direktor des Think Tanks „Agora Verkehrswende“, der vormals das Programm für Nachhaltigen Verkehr in China bei der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) leitete und seit 2015 Mitglied des Internationalen Beirats der chinesischen Plattform Elektromobilität (China EV100) ist. Er sprach sich dafür aus, zuerst Angebote zu schaffen, zu denen die Menschen dann gedrängt werden könnten, und zog dabei den Vergleich zu den Corona-Impfstoffen.
So müsse belohnt werden, wer mit E-Fahrzeug oder ÖPNV unterwegs ist, um die erforderlichen 15 Millionen E-Fahrzeuge bis 2030 auf die Straße zu bringen. Ein „ausgewogener Mix aus Fördern und Fordern“ wie beispielsweise eine PKW-Maut könne dem „gesellschaftlichen Transformationsprojekt“ dienen. Dr. Martina Niemann, Vorstand Finanzen und Controlling von DB Cargo und zuvor bei der Lufthansa tätig, erinnerte an die Überschwemmungen im Ahrtal und gab zu bedenken, dass durch Klimaschutz ähnliche Katastrophen verhindert und dadurch immense Kosten gespart werden könnten, die bei Aufräumarbeiten anfallen.
Prof. Dr. Meike Jipp, studierte Psychologin und derzeit Direktorin des Instituts für Verkehrsforschung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR), thematisierte die Problematik, dass die mitteleuropäische Gesellschaft individualistisch geprägt sei, es in kollektivistischeren Gesellschaften jedoch leichter sei, Verhaltensmuster aufzubrechen. Sie wünscht sich dennoch eher „Preismechanismen“ als direkte Verbote. Die Panel-Teilnehmer waren sich insgesamt auffällig einig; nur selten gab es angedeutete Diskussionen wie etwa zum Punkt „Erfolgsmodell 9-Euro-Ticket“. Hier warf Gunnar Polzin, der die Verkehrsabteilung in Bremen leitet und als Vorsitzender der Gemeinsamen Konferenz der Verkehrs- und Straßenbauabteilungsleitungen die Einführung des 49-Euro-Tickets zwischen Bund, Ländern und Verbänden koordiniert, ein, dass der ÖPNV insgesamt schneller werden müsse, wenn er attraktiv sein wolle.
Klimastadt-Verträge ausgehandelt
Angesichts der trauten Eintracht der Referenten lohnt es nicht, näher auf weitere Beiträge einzugehen ‒ außer auf den der eingangs erwähnten Wiebke Pankauke. Interessanterweise ist er zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht in der Mediathek des Mobilitätstags eingestellt worden. Das trifft auch auf die anderen beiden Präsentationen zum Thema „Urban Cities Mission“ zu, während der Rest der sechsstündigen Veranstaltung vollständig angesehen werden kann. Ob vor der Freigabe erst noch jemand auf EU-Ebene ein Blick darauf werfen muss?
Wie dem auch sei: Pankauke führte in ihrem Kurzvortrag die „Smart Cities Mission“ der EU voller Überzeugung aus. Städte seien für mehr als 70 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich und damit entscheidende Faktoren auf dem Weg zur Klimaneutralität. Im Rahmen der EU-Mission seien aus 377 Bewerbungen 100 Städte ausgewählt worden, die bis 2030 klimaneutral werden sollen, um als Vorbild für alle europäischen Städte zu dienen. Darunter sind auch neun deutsche Städte: Mannheim, Heidelberg, Aachen, Dortmund, Dresden, Frankfurt am Main, Leipzig, München und Münster.
Nun werden Klimastadt-Verträge ausgehandelt, und den teilnehmenden Städten winken finanzielle Förderprogramme, beratende Unterstützung, die Beteiligung an Pilotprojekten, Vernetzung sowie ein Missionssiegel. Außerdem sollen die Städte mit der Industrie und allen Regierungsebenen zusammenarbeiten. Auf dem Weg zu einer emissionsfreien Mobilität müssten viele Entscheidungen getroffen werden, darunter auch harte, die alle Einwohner beträfen. Allen jedoch stehe die Informationsseite der NetZeroCities (NZC) zur Verfügung.
Mit anderen Worten: Die Wahl eines Verkehrsmittel war bislang eine individuelle Angelegenheit. Zukünftig jedoch will die EU-Kommission ein Wörtchen mitreden, wie man beispielsweise von Wanne-Eickel nach Nottuln-Appelhülsen gelangt. Dabei stellt der Green Deal das Goldene Kalb dar, um das in der EU-Blase getanzt wird. Doch was ist, wenn sich herausstellen sollte, dass die angestrebte Klimaneutralität eher Fluch als Segen ist? Was ist, wenn sich, nachdem erbarmungslos gekämpft und transformiert worden ist, der Green Deal, dem alles geopfert wurde, als Irrweg erweisen sollte? Wer übernimmt dann die Verantwortung für die potenziell verheerenden Folgen? Die EU-Kommission?