112-Peterson: Gibt es gute Gründe für Unmoral?

Jeder, der sich für Psychologie interessiert, kommt nicht an Fjodor Dostojewski vorbei. Tolstoi ist mehr ein Soziologe, wohingegen es bei Dostojewski ans Eingemachte geht.

Ein gutes Beispiel hierfür ist sein Roman „Schuld und Sühne“. Die Hauptfigur Raskolnikow ist aus meiner Sicht ein Materialist beziehungsweise Rationalist und damit für die 1880er Jahre ein neuer Menschentyp. Ihn fesselt die Idee, dass Gott tot ist, daher kommt er zu dem Schluss, dass Feigheit der einzige Grund dafür ist, dass sich jemand auf traditionelle Weise moralisch verhält. Nur darum sei jemand nicht fähig, die Einschränkungen der bloßen Konventionen von sich abzustreifen und die Normen zu überflügeln.

Diese Ideen quälen ihn. Er ist ein armer, halbverhungerter Jura-Student, hinzu kommen allerhand Familienprobleme. Seine Mutter ist krank und kann ihm daher kaum Geld schicken. Seine Schwester plant, sich auf eine lieblose Ehe mit einem tyrannischen, aber vermögenden Mann einzulassen. Sie hofft, damit ihre Familie ausreichend finanziell unterstützen zu können, sodass ihr Bruder sein Studium beenden kann.

Raskolnikow erhält von seiner Mutter und Schwester Briefe, die behaupten, seine Schwester wäre sehr verliebt, aber er ist klug genug, um zwischen den Zeilen zu lesen. Ihm wird klar, dass seine Schwester gerade dabei ist, sich aus altruistischen Gründen zu prostituieren. Das macht ihn natürlich unglücklich.

Zugleich wird er auf eine Pfandleiherin aufmerksam, der er seine letzten Besitztümer in die Leihe gibt. Sie ist eine schreckliche Person und das nicht nur in seiner Wahrnehmung. Sie verpfändet viel für die Nachbarschaft. Sie ist gierig, grausam, betrügerisch und nachtragend. Außerdem hat sie eine geistig behinderte Nichte, die sie wie eine Sklavin behandelt und ständig verprügelt.

Iron Man statt Strohmann

Raskolnikow – in einer schwierigen familiären Situation, halb verhungert, ein wenig wahnsinnig und besessen von seinen nihilistischen Ideen – beschließt nun, dass er durch den Mord an der Pfandleiherin am besten aus seinem Schlamassel kommt. Er will an ihr Vermögen gelangen, mit dem sie nichts anfängt, außer es in einer Truhe zu horten, und darüber hinaus ihre Nichte befreien. Das hört sich fast nach einer guten Idee an: Befreie die Welt von einer schrecklichen, nutzlosen Person, befreie deine Schwester von der Notwendigkeit einer lieblosen Ehe, gib dir selbst die Möglichkeit, dein Jurastudium zu beenden, sodass du dich bilden und etwas Gutes für die Welt tun kannst.

Wenn Menschen mit einer anderen Person streiten oder in ihrem Kopf Debatten gegen einen anderen führen, machen sie ihr Gegenüber meist zu einem Strohmann. Außerdem versuchen sie, die Position des Gegners so schwach wie möglich werden zu lassen. Dann kommen sie mit ihrem Argument gegen den Strohmann und haben das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben.

Dies ist jedoch eine sehr erbärmliche Weise zu denken. Eigentlich hat es mit Denken gar nichts zu tun. Denken ist, wenn man zulässt, das Argument des Gegners so stark wie möglich werden zu lassen. Und dann gleicht man seinen eigenen Standpunkt gegen dieses starke Argument ab. Man degradiert den Anderen nicht zum Strohmann, sondern lässt ihn zu Iron Man werden.

Das Tolle an Dostojewskis Romanen ist: Die Figuren, die die Gegenthese dessen repräsentieren, was der Autor eigentlich glaubt, sind oft die stärksten, klügsten und manchmal liebenswertesten Menschen des Buches. Indem er das tut, beweist er großen moralischen Mut.

Realer als realer

Mit Raskolnikow wollte Dostojewski eine Figur erschaffen, die allen erdenklichen Grund hat, einen Mord zu begehen: Und zwar in philosophischer, praktischer und ethischer Hinsicht. Raskolnikow bringt schließlich die alte Dame mit einer Axt um. Es läuft jedoch nicht so, wie er sich das vorgestellt hat. Er stellt nämlich fest, dass er hinterher ein komplett anderer Mensch ist. Nach dem Mord befindet er sich in einem ganz anderen Universum als vorher. Dostojewski bescheibt dieses Universum aus Horror, Chaos, Täuschung, Leiden und Schrecken hervorragend. Raskolnikow nimmt nicht einmal das Geld. Er vergräbt es, so schnell er kann, in einer Gasse und will nichts mehr damit zu tun haben.

Ist die Geschichte, die hier erzählt wird, wahr? Von einem faktischen Standpunkt aus gesehen definitiv nicht. Wenn man jedoch Raskolnikow als die Verkörperung eines bestimmten Menschentypus der damaligen Zeit betrachtet, der einer Ideologie anhängt, die damals Europa überschwemmte, in Russland einfiel und ein philosophischer Vorläufer der Russischen Revolution war, dann ist Raskolnikow realer, als eine einzige Person sein kann. Er ist wie eine zusammengesetzte Figur, deren unzureichende Ansichten entlarvt werden, um etwas über die Struktur der Welt zu erzählen.

Ich betrachte Derartiges gerne als „meta-real“. Realer als realer. Es ist ein bisschen, wie das, was wir erwarten, wenn wir Menschen bitten, uns von ihrem Leben zu erzählen. Man erwartet keine Beschreibung eines jeden Muskelzuckens. Man möchte zum Kern ihrer Erfahrungen durchdringen. Die Bedeutung dieser Erfahrungen ist, grob gesagt, das, was man durch das Zuhören für sein eigenes Handeln und seinen eigenen Blick auf die Welt ableiten kann.

Dies ist ein Auszug aus einer Vorlesung von Jordan B. Peterson. Hier geht's zum Auszug und hier zur gesamten Vorlesung.

Foto: jordanbpeterson.com

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Leserpost

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Volker Kleinophorst / 07.10.2020

Ich denke, im Gegensatz zu dem durchschnittlichen vermeintlich psychisch kranken “EInmann-Einzeltäter” hat Raskolnikow ein komplexes Innenleben in dem so etwas wie ein Schuldgefühl entstehen kann. Heute: “Ist doch nur ein ...” Das ist die Realität. Mit dem Messer im Bauch brauchst du kein Meta.

Karl Eduard / 07.10.2020

Moral kann es nur da geben, wo das eigene Handeln hinterfragt wird. Und von Kontinent zu Kontinent bestehen Unterschiede in dem, was die Einwohner als moralisch und unmoralisch betrachten. Wir, womit ich mal alle in christlich geprägten Ländern Aufgewachsene meine, finden es unmoralisch, sich mit 30 verschiedenen Identitäten durchzuschmarotzen oder in Staaten auszuwandern, um Leistungen zu erschleichen. Die, die das tun, empfinden das nicht als unmoralisch. Die finden es auch nichts dabei, ihre Nachbarn zu verhackstücken, ob es die schlafende Familie in Israel ist, der Farmer in Südafrika, oder das ältere deutsche Ehepaar, das im Haus von Neubürgern überfallen und gefoltert wird. Das ist aber nicht deren Problem, das ist das unsrige. “Unsere” Moral kann nur Bestand haben innerhalb einer Gruppe, die dieselben Grundsätze befolgt. Sobald diese Gruppe verdünnt wird mit Leuten, die völlig andere Grundsätze befolgen, muß “unsere Moral” über Bord geworfen werden, denn sie schützt die Gruppe nicht mehr. Sie macht sie vielmehr verwundbar. Deswegen verlachen diese Leute uns aus, weil wir uns in deren Augen wie Schwächlinge verhalten, während wir glauben, wir handelten moralisch. Und da es solche homogenen Gruppen nur noch im Dschungel oder auf abgelegenen Inseln gibt, in Japan, Polen oder Ungarn,  ist das ganze Theoretsieren über Moral nur praxisfernes Geschwätz. Es gibt Menschengruppen, von denen verlangt der Glaube, “Ungläubige” zu belügen und zu betrügen. Wie will man mit solchen Leuten auf gleicher Ebene kommunizieren?

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