112-Peterson: Der Killer in uns

Ich arbeitete mal mit einem etwas verrückten Psychologen zusammen. Er baute Witze in Multiple-Choice-Tests ein. Wirklich etwas verschroben, aber mir gefielen seine Kurse sehr. Er hielt einen Kurs über Kreativität und und war auch Gefängnispsychologe. Er war exzentrisch, und darin mir ziemlich ähnlich – ich bin ja selbst ein exzentrischer Mensch. Er lud mich ein, ihn ins Hochsicherheitsgefängnis in Edmonton zu begleiten, und einige Male nahm ich das Angebot an. Das war ein spannendes Experiment. Soweit ich mich entsinne, wollte ich damals herausfinden, welche Rolle individuelle Verhaltensweisen für die „Pathologie“ der Gesamtgruppe spielen.

Einmal stand ich in der Turnhalle. Das Gefängnis sah am ehesten einer Schule ähnlich, was nach meiner Einschätzung ein ziemlich vielsagender Vergleich ist. Und da waren all diese … ja, doch: Monster beim Gewichtheben. Sie sahen wirklich wie Monster aus, da war ein Typ, tätowiert von Kopf bis Fuß, und mitten auf seiner Brust zog sich eine riesige Narbe vom Hals abwärts herunter. Das sah aus, als hätte man ihn mit einer Axt zugerichtet. Einer von ihnen sah allerdings ziemlich harmlos aus und war eher von kleinem Wuchs, jedenfalls kleiner, als ich es war. 

Der unauffällige Serienkiller 

Ich hatte damals einen etwas merkwürdigen Umhang an, den ich in Portugal gekauft hatte und Stiefel, die dazu passten. Der Umhang sah aus wie ein Sherlock Holmes-Cape aus den Achtzigern oder Neunzigern. Sie wurden in einem kleinen Ort, einem mit Mauern umgebenen Städtchen auf einem Hügel, verkauft und offensichtlich waren an ihnen seit den Achtzigern keine modischen Veränderungen mehr vorgenommen worden. Ich fand den Umhang richtig cool, also trug ich ihn auch. Er war gewiss nicht das unauffälligste Kleidungsstück, in dem man sich beim Besuch eines Hochsicherheitsgefängnisses präsentieren konnte.    

Ich befand mich also in dieser Turnhalle, allerdings war der Psychologe gerade weg. Gott weiß warum, nun ja, er war halt exzentrisch. Diese Typen standen schließlich um mich herum und machten mir Angebote für den Tausch ihrer Gefängniskleidung gegen meinen Umhang. Ich bekam wahrhaftig unwiderstehliche Angebote, die schwer abzulehnen gewesen wären. Und ich wusste nicht, was ich nun tun sollte. Dann kam jener harmlos aussehende kleine Typ dazu und sagte etwas wie: „Der Psychologe schickt mich, damit ich Sie jetzt abhole.“ Lieber dieser kleine Typ als all die anderen Monster, dachte ich mir. Wir verließen die Halle und gingen durch Türen, die wie Schultüren aussahen, nach draußen auf einen Fitness-Hof. Unterwegs unterhielten wir uns, und nach wie vor wirkte er total harmlos. Plötzlich erschien der Psychologe in einer Tür und bedeutete uns, zu ihm zu kommen. Da war ich doch erleichtert.

Wir gingen in sein Büro und er sagte mir: „Weißt du, dieser Mann, mit dem du da über den Hof gegangen bist, der hat sich eines Nachts zwei Polizisten vorgenommen, zwang sie niederzuknien und während die beiden um ihr Leben bettelten, tötete er sie per Kopfschuss von hinten.“

Das Merkwürdige für mich war, dass der Mann dermaßen harmlos aussah. Normalerweise hofft man ja, dass solche Menschen einem selbst deutlich unähnlich sind oder zumindest nicht völlig harmlos aussehen. Man möchte den kaltblütigen Mörder möglichst gleich erkennen, weil er halb wie ein Werwolf und halb wie ein Vampir aussieht. Jedenfalls nicht so, wie dieser kleine harmlose Typ, der sicher nicht mehr harmlos wäre, wenn er einen Revolver (und damit die Oberhand) bekäme. Das gab mir zu denken. Ich dachte viel über die Beziehung zwischen Harmlosigkeit und Gefährlichkeit nach. 

„Ich könnte so etwas nie tun“  oder doch? 

Über einen anderen Mann, den ich dort traf, hörte ich ein oder zwei Wochen später, dass er, zusammen mit einem Kumpel, einen dritten Typen festgehalten und dessen linkes Bein mit einem Bleirohr kaputtgeschlagen, richtig pulverisiert hatte. Der Grund dafür war, dass sie dachten, jener sei ein Spitzel. Mag ja sein, dass er tatsächlich einer war. 

Mit diesem Fall ging ich anders um. Anstatt nur schockiert und entsetzt zu reagieren, (natürlich war ich sowohl schockiert als auch entsetzt), fragte ich mich: Wie ist das möglich, was befähigt einen dazu, so etwas zu tun? Ich könnte es nicht tun, dachte ich. Muss es dann eine bestimmte Eigenschaft geben, die den Unterschied zwischen mir und jenen Leuten ausmacht? 

Ich habe zwei Wochen lang nachgedacht, um herauszufinden, unter welchen Bedingungen es für mich denkbar wäre, selbst so etwas zu tun. Welchen seelischen Veränderungsprozess müsste ich durchlaufen, damit ich dazu fähig wäre? Nach 10 Tagen ist mir klar geworden, dass ich zu so einer Tat nicht nur fähig sein könnte, sondern dass es wesentlich leichter dazu kommen könnte, als ich es je für denkbar gehalten hatte. 

Das Ich und sein Schatten

Das war der Punkt, an dem die Trennmauer zwischen mir und dem, was Jung als den Schatten beschrieb, abzubröckeln begann. Und das war eine sehr nützliche Erfahrung, weil ich anfing, mich als eine andere „Entität“ zu behandeln, wenn auch nur geringfügig. Bis zu jenem Punkt dachte ich, ich sei ein guter Mensch, jetzt hatte ich keinen Grund mehr, mich so zu sehen.

Ein guter Mensch zu sein ist nicht einfach. Macht man keine wirklichen Anstrengungen, um ein guter Mensch zu sein, dann ist man eben auch kein guter, sondern ein in gemäßigter Weise schlechter Mensch. Das ist noch immer meilenweit entfernt von einem abgrundtief schlechten, schrecklichen Monster, aber die Entfernung zu einem richtig guten Menschen ist mindestens genauso groß. 

Nach diesem Erlebnis nahm ich mich etwas mehr in acht vor mir selbst, weil ich verstand, dass die menschliche Psyche ein monströses Element enthält, mit dem man rechnen muss. In einem gewissen Sinn sollte man sich selbst wie eine geladene Waffe sehen. Das ist insbesondere im Umgang mit Kindern wichtig, weil man da in der Tat eine geladene Waffe ist. Das bezeugen die schrecklichen Erfahrungen, die manche Kinder mit ihren Eltern machen. 

Dieser Beitrag ist ein Ausschnitt aus dem Vortrag „The Psychological Significance of the Biblical Stories 7: Walking with God - Noah and the Ark“. Hier geht’s zum Original-Vortrag auf dem YouTube-Kanal von Jordan B. Peterson.

Foto: jordanbpeterson.com

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Leserpost

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Albert Pflüger / 06.02.2019

Ich kenne die Erfahrung, die Peterson beschreibt, diesen Punkt, an dem man erkennt, daß man kein total guter Mensch ist. Ich wurde mal niedergeschlagen und zusammengetreten, und in diesem Moment wußte ich, daß ich die Peiniger erschossen hätte, hätte ich denn eine Pistole gehabt. Und schlimmer: Ich ahnte, ich hätte es genossen. Vorher habe ich immer gedacht, dazu nicht in der Lage zu sein. Alle Soldaten, die im Krieg waren, wissen das. Es ist nicht unbedingt so, wie Hildegard Knef in einem Lied sang: “Beim ersten Mal, da tut’s noch weh…”. Mit der nötigen moralischen Ermunterung durch Religion und Brauchtum beispielsweise kann es von Anfang an gefallen. Viele Einzelfälle beweisen das.

Henry Meckpe / 06.02.2019

Immer wieder erstaunlich wenige Menschen wissen was Psychopathie wirklich ist. Ich empfehle -Psychopathin Partnerin- oder gleich den Autoren Dr. Hare zu lesen. Und zu erschrecken, wie auch die eigene Realitaet wirklich Ist.

K.Anton / 06.02.2019

Jeder sollte dankbar sein, dass es ihm erspart worden ist, in Situationen zu kommen, wo er ohne Konsequenzen den Monster in ihm ausleben konnte. Erst dann erweist sich nämlich, ob man ein guter Mensch ist, oder nicht. Ohne dieser Prüfung meint man nur ein guter Mensch zu sein.

Frank Holdergrün / 06.02.2019

Die seelischen Demütigungen in der modernen Schön- und Schlankgesellschaft sind zahlreich,  nirgendwo gibt es einen größeren Ausgrenzungsradius als von diesen Gruppen und nirgendwo wird er brutaler ausgelebt als in Schulen.  Kein Wunsch wird dem Menschen in der Folge stärker in Fleisch und Blut getackert, als andere Menschen kompensatorisch ebenfalls demütigen zu wollen. Die effizienteste Triebabfuhr von Demütigungen wird auf der Autobahn/Straße praktiziert. Drängeln, Überholen, Stinkefinger im Panzer der eigenen Autowaffe - es erspart Psychologen massenweise und kann täglich Morde verhindern. Ich werde nie vergessen, wie mir ein rechts überholender Fahrer eine echte Waffe entgegenhielt, obwohl sich vor mir eine Schlange auf viele Kilometer schlängelte. Dieses irre Gesicht bleibt mir ein Leben lang eingebrannt.

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