Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 08.07.2012 / 23:07 / 0 / Seite ausdrucken

Die deutsche Großzügigkeit wird Berlin zerreißen

Nach dem entscheidenden EU-Gipfel der letzten Woche (der 20. seiner Art) und der Befürwortung der neuesten Bailout-Pläne durch den deutschen Bundestag ist der Euro gerettet! Wieder einmal.  An den Börsen überall auf dem Kontinent war der übliche Seufzer der Erleichterung zu vernehmen und auch diesmal gratulierten sich die Politiker zu ihren historischen Erfolgen.

Wollte man die Ereignisse zynisch interpretieren, käme man zu einer anderen Schlussfolgerung. Die deutschen Entscheidungsträger sahen sich praktisch mit der Wahl zwischen zwei Übeln konfrontiert. Mit der Blockierung der Soforthilfe für Griechenland, Spanien und Italien hätten sie einen Zusammenbruch dieser Länder auslösen können. Ohne Zugang zu erheblichen Rettungsgeldern wie dem Europäischen Stabilitätsmechanismus wären die Regierungen der stark belasteten Peripherieländer der Eurozone nicht in der Lage gewesen, ihre Aktivitäten noch lange zu finanzieren. Das war das erste Übel – und niemand war bereit, dieses Ergebnis zu riskieren.

Daher wählten die Deutschen statt dessen die zweite Option: Mit der Selbstverpflichtung zu einem potenziell unbegrenzten Vermögenstransfer von ihren Steuerzahlern in die europäische Peripherie haben sie möglicherweise eine unmittelbare Katastrophe abgewendet. Zugleich aber befreiten sie diese Länder von ihrem Reformdruck - und gewährleisteten auf diese Weise, dass die Eurokrise nicht mit dem Bankrott von Athen, Madrid oder Rom enden wird. Sie wird erst mit dem Untergang Berlins zu Ende gehen.

In den Jahren vor der Krise hatten sich die Zinsdifferenzen zwischen den Anleihen der stabileren europäischen Länder wie etwa Deutschland und der weniger beruhigend wirkenden Peripherie wie Italien sich auf wenige Basispunkte verengt. Dieser Preisfestsetzung lag eine einfache Annahme zugrunde. Die Mitgliedschaft in der Eurozone hatte Investitionen in Südeuropa sicherer gemacht, da ihre Stabilität praktisch durch den wohlhabenderen Kern der Eurozone besichert wurde – das heißt durch Deutschland.

Im Laufe der Weltwirtschaftskrise wurden die Märkte fast über Nacht risikobewusster und bald darauf auch risikoscheuer. Unversehens erkannten sie, dass die Mitgliedschaft in der Eurozone keineswegs bedeutete, vor dem Risiko eines Ausfalls gefeit zu sein. Je lauter die Deutschen und ihre Boulevardzeitungen aufheulten und sich über ihre verschwenderischen südlichen Nachbarn beschwerten, desto mehr mussten die Märkte ihre bisherigen Annahmen überprüfen. Dementsprechend weiteten sich die Zinsdifferenzen zwischen deutschen Anleihen und PIIGS-Anleihen stetig aus.

Die neuesten Entwicklungen in der Eurokrise dürften dies in Frage stellen. Wieder und wieder haben wir erlebt, dass die deutsche Regierung rote Linien in den Sand zog. Kein Bailout für Griechenland! Kein europäisches Rettungspaket! Kein Stabilitätsmechanismus! Keine Finanzhilfen für Spanien ohne damit einher gehende Sparzusagen! Kein Anleihenaufkauf durch die Europäische Zentralbank! Nein! Nein! Nein!

Als es dann so weit war, hat die Eurokrise jede einzelne dieser deutschen Linien hinweggeschwemmt. Kanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung haben sich zwar mit Händen und Füßen gewehrt, doch stets den Forderungen nach einer weiteren Ausdehnung des deutschen Engagements nachgegeben.

Paradoxerweise hat kaum jemand davon Notiz genommen: Außerhalb Deutschlands nicht, wo Frau Merkel nach wie vor als ‘Madame Non’ wahrgenommen wird, und auch in Deutschland selbst nicht, wo es ihr bisher gelang, sich als Einzelkämpferin für Deutschlands Interessen darzustellen. Tatsächlich ist ihre Verteidigung des deutschen Geldbeutels so wirksam wie die Bemühungen der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen den italienischen Stürmer Mario Balotelli. Seine beiden Tore warfen Deutschland aus der Fußball-Europameisterschaft.

Angesichts von Merkels Unfähigkeit, ihr Land vor exponenziell steigenden Haftungsrisiken gegenüber dem übrigen Europa zu schützen, ist es an der Zeit, die Preisfestsetzung von Länderausfallrisiken zu überdenken. Man muss schon eine gute Begründung finden, um die inzwischen beträchtlichen Zinsdifferenzen zwischen Deutschland und den anderen europäischen Ländern beizubehalten. Eine solche Begründung ist jedoch nirgendwo in Sicht.

Mit einer offiziellen Schuldenquote von über 80 Prozent kann Deutschland nicht für sich in Anspruch nehmen, ein Muster an fiskalischer Besonnenheit zu sein. Seine langfristigen demografischen Probleme sind wahrscheinlich noch größer als die der aktuellen Krisenländer. Und mit seiner offenkundigen Unfähigkeit, seine Interessen – und sein Geld – gegen Ansprüche aus der Peripherie der Eurozone zu verteidigen, hat Deutschland sich Verpflichtungen aufgeladen, die es nur mit großer Mühe wird erfüllen können.

Nicht einmal die Aussicht auf einen deutschen Regierungswechsel nach den Bundestagswahlen im nächsten Jahr verändert das Bild. Im Gegenteil: Dieser würde Deutschlands Weg in die finanzielle Auszehrung nur beschleunigen. Während Merkel zuerst ‘nein’ sagt und dann dennoch grummelnd ihrem Land weitere Eurozonen-Risiken aufbürdet, unterscheiden sich die deutschen Oppositionsparteien davon nur darin, dass sie ihr Land mit größerer Begeisterung in den Ruin führen. Die oppositionellen Sozialdemokraten spielen offen mit dem Gedanken der Eurobonds, die Merkel soeben kategorisch und grundsätzlich ausgeschlossen hat.

Wenn Deutschland offensichtlich zum Bürgen aller europäischen Staatsschulden – und wahrscheinlich auch der meisten Bankenschulden in Europa – geworden ist, dann ist es höchste Zeit, zu den vor der Weltwirtschaftskrise bestehenden Annahmen der Kapitalmärkte über die Sicherheit der Staatsschulden in der Eurozone zurückzukehren. Sie müssten alle als so sicher (oder vielmehr so unsicher) betrachtet werden wie deutsche Anleihen.

Das könnte bedeuten, dass die hohen Zinsen für die Staatsschulden der Eurozonen-Peripherie übertrieben sind und gesenkt werden müssen. Angemessener wäre jedoch, die Zinsen für deutsche Anleihen anzuheben. Sobald den Märkten dies klar wird, sind die Zeiten vorbei, in denen das deutsche Finanzministerium Mittel für zwei Jahre zu negativen Zinsen aufnehmen konnte. Und die Renditen für zehnjährige deutsche Staatsanleihen müssten auf jeden Fall höher sein als die Marke von mageren 1,5 Prozent, um die sie sich in letzter Zeit eingependelt hatten.

Um es ganz deutlich zu sagen: Die Märkte bewerten Deutschland zwar gegenwärtig als einen der wenigen verbliebenen sicheren Häfen, doch eigentlich ist es eines der risikoreichsten Länder überhaupt. Wenn die europäische Schuldenkrise nicht bewältigt werden kann, steckt Deutschland in gewaltigen Schwierigkeiten.

Wann immer ein europäischer „Rettungsgipfel“ es schafft, die Zinssätze für Länder wie Spanien und Italien zu senken, müssten die deutschen Zinsen entsprechend steigen. Andernfalls machen die Märkte einen logischen Fehler. Man kann nicht einem Land helfen, ohne die Kreditwürdigkeit des Bürgen zu beschädigen.

Die Bailout-Maßnahmen der letzten Zeit und der Europäische Stabilitätsmechanismus bestätigen sämtlich, dass in der Eurokrise alle Mitglieder der Eurozone nun gesamtschuldnerisch für ihre Schulden haften. Sobald die letzten rechtlichen Hürden im Bundesverfassungsgericht überwunden sind, gibt es keinen Fluchtweg für Deutschland mehr. Die Deutschen werden für zahlungsunfähige spanische Sparkassen, italienische Rentner und griechische Beamte aufkommen müssen.

Leider wird das übrige Europa dadurch nicht deutscher werden. Deutschland wird auf diese Weise nur ebenso bankrott gehen wie das übrige Europa.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der New Zealand Initiative (www.nzinitiative.org.nz).

German generosity will break Berlin’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 5. Juli 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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