Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 18.09.2015 / 10:13 / 6 / Seite ausdrucken

Die EU zerfällt

Letzte Woche schrieb ich an dieser Stelle, dass Europas Flüchtlingskrise die EU entzweien könnte. Diese Woche konstatiere ich die Fortschritte während der letzten sieben Tage auf dem Weg dorthin.

Die Geschwindigkeit, mit der Kernelemente der europäischen Integration sich aufgrund des Eindringens von Hunderttausenden Asylbewerbern in die EU auflösen, ist atemberaubend. Wer hätte vor nur einer Woche gedacht, dass mehrere europäische Staaten ihre Grenzen schließen und internationale Zugverbindungen stoppen würden? Wer hätte es für möglich gehalten, dass die Mitgliedsstaaten der EU angesichts des Zustroms von Millionen in die EU keine bindende Einigung über die Umverteilung auch nur eines kleinen Bruchteils von ihnen erzielen würden?

Auf den ersten Blick ist diese Krise eine politische, nicht volkswirtschaftliche. Aber die volkswirtschaftlichen Auswirkungen auf den Kontinent werden erheblich sein. Auf dem Spiel steht nichts weniger als die Zukunft der EU und ihres gemeinsamen Markts. Bis jetzt war die politische und volkswirtschaftliche Integration Europas eine Einbahnstraße. Nun wird klar, dass die nächsten Integrationsschritte auch rückwärts verlaufen können.

Hier lohnt es sich, den zeitlichen Rahmen weiter aufzuspannen. Seit den Römischen Verträgen 1957, mit denen gerade einmal sechs Mitgliedsstaaten (Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlande und Westdeutschland) die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründeten, hat das Projekt der europäischen Integration nicht nur eine Erweiterung, sondern auch eine starke Vertiefung erfahren.

Die Integration gerät ins Stocken

Heute hat die EU 28 Mitglieder. Sie ist weit mehr als nur eine Freihandelszone. Sie hat ihre Volkswirtschaften miteinander verzahnt, eine gemeinsame Währung für die meisten Mitgliedsstaaten eingeführt sowie die Landesgrenzen untereinander praktisch aufgehoben.

Wie auch immer man zu Geschwindigkeit und Richtung des europäischen Projekts steht, man muss anerkennen, dass die EU bei seiner Förderung erfolgreich gewesen ist – bis zu diesem Jahr.

Zukünftige Historiker werden vielleicht 2015 als ein Jahr einstufen, nach dem die EU nicht mehr dieselbe war. Zuerst der wiederholte Ausbruch der griechischen Schuldenkrise, der zu einem Novum führte: der Drohung, die Mitgliedschaft Griechenlands in der Eurozone zu beenden.

Zuvor schon war es auf Druck von Brüssel hin zu Regierungswechseln in Italien und Griechenland gekommen (2011 mussten die Premierminister Papandreou und Berlusconi den Hut nehmen). Dennoch war der Druck, der auf den griechischen Premier Alexis Tsipras ausgeübt wurde, um EU-Forderungen zu erfüllen – trotz eines soeben gewonnen Referendums über deren Ablehnung – so noch nie dagewesen.

Brutaler Kampf um Interessen

Das heißt nicht, dass Tsipras’ Position vernünftig oder nachhaltig gewesen wäre. Jedoch zeigte die griechische Krise, wie brutal Konflikte innerhalb der EU inzwischen ausgetragen werden. Früher wären solche Konflikte damit geendet, dass man zumindest den Anschein eines Kompromisses bewahrt und auf beiden Seiten das Gesicht gewahrt hätte. Dieses Mal aber wurden Griechenlands Forderungen vom Tisch gefegt und Tsipras gedemütigt, auch wenn er etwas anderes vorgibt.

Somit war die griechische Schuldenkrise das passende Vorspiel zur paneuropäischen Flüchtlingskrise. Wieder traten einseitige Entscheidungen und grenzüberschreitende Schuldzuschreibungen an die Stelle der gewohnten multilateralen Kompromisse. Das führte dazu, dass Europa sein über zwei Jahrzehnte bewährtes Schengen-System für Personenverkehr ohne Grenzkontrollen suspendierte. Die vorherigen Vereinbarungen zum Umgang mit Flüchtlingen wurden praktisch aufgehoben. So kam es dazu, dass der Nationalstaat wieder zum wichtigsten Faktor in der europäischen Politik wurde.

Für die Zukunft der EU hat das schwerwiegende Auswirkungen. Die letzte Woche hat gezeigt, dass die europäische Integration rückgängig gemacht werden kann, wenn nationale Interessen auf dem Spiel stehen. Aber worin besteht dann der Sinn und Zweck der EU?

Kernbestand der EU in Gefahr

Freizügigkeit für Personen, Kapital, Waren und Dienstleistungen – die berühmten „Vier Freiheiten“ der EU – sind nicht mehr sakrosankt. Wenn es die Situation erfordert, können Grenzkontrollen für den Personenverkehr wieder eingeführt werden. Im Fall von Griechenland hat man außerdem gesehen, dass Kapitalverkehrskontrollen auch innerhalb der Eurozone eingeführt werden können.

Vom alten Projekt der europäischen Integration verbleibt nur der freie Verkehr für Waren und Dienstleistungen, er wurde bis jetzt noch nicht in Frage gestellt. Nach den Erfahrungen dieses Jahres sollte man nicht allzu überrascht sein, wenn bei Ausbruch einer passenden Krise auch diese Freiheiten eingeschränkt werden sollten.

Die Europäische Union befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Wenn meine Worte Sie nicht überzeugen, wie wäre es dann mit dem Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker (mit dem ich selten einer Meinung bin). In seiner Rede zur Lage der Union am Mittwoch letzter Woche sagte Juncker: „Unsere Europäische Union ist in keinem guten Zustand. Es gibt nicht genug Europa in dieser Union. Und es gibt in dieser Union nicht genug Union.“

Das hat Juncker ganz richtig beobachtet. Die EU scheint nicht mehr eine Organisation zu sein, die die besonderen Interessen ihrer Mitglieder bündelt. Stattdessen ist sie jetzt eine Arena, in der ihre Mitglieder ihre widerstreitenden Positionen ausfechten.

Der Ausblick: düster

Für die EU-Krise liegt keine Lösung parat. Das Jahr 2015 hat das Wiederaufkommen des Nationalstaats in Europa verzeichnet. Es war das Jahr, in dem die EU zu einem zahnlosen Tiger degradiert wurde. Am Horizont braut sich für die EU aber noch ganz anderes zusammen.

Während alle diese Dramen sich entfalten, steht in Großbritannien ein Referendum über den Verbleib des Landes in der EU bevor. Wer würde es den Briten angesichts der gegenwärtigen Entwicklung verübeln, würden sie „Nein“ sagen? Wenn die britischen Euroskeptiker das möglicherweise schon nächstes Jahr anstehende Referendum gewinnen wollen, sollten sie Jean-Claude Junckers Rede zur Lage der Union allgemein verbreiten. Ein Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU wäre der endgültige Beweis, dass die europäische Integration auch rückwärts verlaufen kann.

Meine Leser wissen, dass ich nicht der größte Fan der EU bin. Als Institution ist sie zu bürokratisch, zu volksfern und zu verknöchert. Allerdings sorge ich mich, dass in dieser Krise auch alles Gute an der EU – insbesondere der Binnenmarkt – hinweggefegt werden könnte.

Europa steht 2015 am Scheideweg. Die Euro-Krise und die Flüchtlingskrise stellen die Grundfesten des europäischen Projekts auf die Probe. Selbst wenn die EU diese Herausforderung besteht, wird sie in Zukunft eine stark veränderte und vermutlich auch stark geschwächte Union sein. An und für sich wäre das nicht schlimm. Die Möglichkeit eines wieder aufkommenden Nationalismus und Protektionismus in Europa ist jedoch mehr als furchterregend.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

‘The EU is falling apart’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 17. September 2015. Übersetzung aus dem Englischen von Eugene Seidel (Frankfurt am Main).

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Sabine Meisner / 19.09.2015

Der volkswirtschaftliche Wert der EU wird überbewertet, wie das Beispiel Großbritannien zeigt. Das Vereinigte Königreich gehört weder zu Schengen noch zum Euro, hatte aber in den letzten zehn Jahren mehr Wachstum als Deutschland (trotz Hartz-Reformen). Auch Schweden hatte mehr Wachstum, obwohl es nicht zum Euro gehört. Eine Rückkehr zur EWG würde daher alle wirtschaftlichen Vorteile der EU ohne die zahlreichen Probleme bieten. Der Anteil Europas an der Weltwirtschaft sinkt dabei so oder so. Deutsche Firmen werden sich verstärkt um den asiatischen und lateinamerikanischen Markt bemühen müssen, statt sich um die Handelsbedingungen mit Frankreich oder Polen zu sorgen. Deutschland hat eine größere Wirtschaftsleistung als Russland und käme sehr gut allein klar - wenn wir unser Geld vernünftig investieren, eine humane Asyl- und eine Vernunft- statt Ideologie-orientierte Einwanderungspolitik betreiben würden.

Mike van Dyke / 18.09.2015

Jeder, der noch alle Sinne beisammen hat und jeder, der die Geschehnisse einigermaßen interessiert verfolgt hat, konnte das wissen oder zumindestens ahnen. Auch in Deutschland selbst löst sich das Gemeinwesen mit atemberaubender Beschleunigung auf. Man sieht das an der zunehmend nicht mehr geltenden Gesetzeslage und umgekehrt an immer mehr Verordnungen, die nicht mehr für alle gelten und deshalb keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen können.

Armin Steinmeier / 18.09.2015

Die EU wird niemals scheitern. Wo sollen denn dann die ganzen politischen Leichtgewichte, Gschaftlhuber und Absahner auf Kosten der Steuerzahler untergebracht werden? Bleibt nur die Frühverrentung, was auch wieder viel Geld kostet.

Hermann Neuburg / 18.09.2015

Der Einigungsprozess, und ich beobachte ihn als politisch sehr interessierter Bürger der alten BRD, seit ca. 1970 sehr genau: Er ist in erste Linie ein Projekt der europäischen, politischen Eliten, insbesondere seit 1970. Es wird getragen von wohlwollendem, aber eher passivem Verhalten der Bürger Europas, die ja in erster Linie weiterhin Dänen, Deutsche, Engländer, Polen, Franzosen etc. sind. So lange Deutschland von Kanzlern geführt wurde, denen Europa auch emotional etwas bedeutete, wie z.B. Helmut Kohl - so lange war der Prozess positiv. Ich bin und war als Wähler mit Angela Merkel insbesondere genau aus diesem Hauptgrund immer zutiefst unzufrieden, weil sie keine Politik aus europäischer, sondern aus primär nationaler Sicht macht, schlicht, weil sie nur von den Deutschen gewählt wird - und bei den Deutschen will sie die “Gewinnerin”, diejenige sein, die nicht verliert. Opfer zu bringen, auch eigene in Punkto Popularität, gar das eigene Volk von einem gemeinsamen Europa zu überzeugen - das liegt ihr fern. Kohl wurde von der Bild-Zeitung als “Zahlmeister der EU” kritisiert - und das nicht selten. Trotzdem: wenn es dem Einigungsprozess diente, war er spendabel. Es ist meiner Meinung nach zu einem sehr wesentlichen Teil die Verantwortung von Angela Merkel, die Europa in der konstituierten Form der EU, eine andere Form von Europa haben wir nicht, über Jahre Schritt für Schritt in die Zerreißprobe führte und weiter führt. Leider gibt es in Deutschland keine politische Alternative zu Angela Merkel. Die Austeritätspolitik und jetzt die Flüchtlingspolitik - alles Politik, die reinen Angela-Merkel-Interessen der Wiederwahl, also ihrer eigenen Alternativlosigkeit dient - verkauft als “nationale Interessen”.

Hubert Cumberdale / 18.09.2015

Höre ich da einen Anfall von “Die Geister die ich rief…” durch? Monatelang hat Herr Hartwich den Euroskeptikern Beifall geklatscht. Allmählich wird ihm klar, worauf diese hinauswollen und dass ihre Ziele nur wenig mit der früher noch bei Liberalen hochgehandelten Freizügigkeit zu tun haben. Ein Europa von Farage, Le Pen, Gauland und den anderen Putin-Groupies wäre ein Europa der Abschottung. Da das Referendum in Großbritannien voraussichtlich erst in zwei Jahren stattfinden wird, braucht man auf aktuelle Umfragewerte noch nicht viel geben. Die drücken in der Regel immer ein “Fuck You” an die gegenwärtige Regierung aus und lagen in diesem Jahr bereits vor mehreren wichtigen Wahlen kräftig daneben. Wenn es hart auf hart kommt und die Bürger an die Urnen gehen, sieht das schon anders aus. Da wird vielen Briten bewusst sein, welche wirtschaftlichen Folgen mit einem EU-Austritt verbunden sind. Als Erstes müssten zum Beispiel die zahlreichen Auswanderer in Spanien wieder ins verhasste Heimatland zurückkehren. Der EU wurde schon so oft der Untergang prophezeit, aber sie erwies sich trotz aller Krisen als stabil. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass Dissens und Streitkultur zu einer auch supranationalen Debattenkultur dazugehören, ohne gleich in apokalyptische Endzeitpanik zu verfallen.

Michael Sander / 18.09.2015

Aus jeder Krise erwächst auch eine Chance. Schon seit langem wird die EU mit der Idee “vorwärts immer - rückwärts nimmer” gegen die Wand gefahren. Euro und Flüchtlingskrise zeigen nun schonungslos das Versagen dieser Politik. Wäre die Krise nicht groß genug, würde man es weiter mit Beschwichtigung und Kleister versuchen. Doch so leuchten Sinn und Vorteil der EU immer weniger ein. Der Kaiser steht nackt da. Zeit für eine grundlegende Reform.

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