Der volkswirtschaftliche Wert der EU wird überbewertet, wie das Beispiel Großbritannien zeigt. Das Vereinigte Königreich gehört weder zu Schengen noch zum Euro, hatte aber in den letzten zehn Jahren mehr Wachstum als Deutschland (trotz Hartz-Reformen). Auch Schweden hatte mehr Wachstum, obwohl es nicht zum Euro gehört. Eine Rückkehr zur EWG würde daher alle wirtschaftlichen Vorteile der EU ohne die zahlreichen Probleme bieten. Der Anteil Europas an der Weltwirtschaft sinkt dabei so oder so. Deutsche Firmen werden sich verstärkt um den asiatischen und lateinamerikanischen Markt bemühen müssen, statt sich um die Handelsbedingungen mit Frankreich oder Polen zu sorgen. Deutschland hat eine größere Wirtschaftsleistung als Russland und käme sehr gut allein klar - wenn wir unser Geld vernünftig investieren, eine humane Asyl- und eine Vernunft- statt Ideologie-orientierte Einwanderungspolitik betreiben würden.
Jeder, der noch alle Sinne beisammen hat und jeder, der die Geschehnisse einigermaßen interessiert verfolgt hat, konnte das wissen oder zumindestens ahnen. Auch in Deutschland selbst löst sich das Gemeinwesen mit atemberaubender Beschleunigung auf. Man sieht das an der zunehmend nicht mehr geltenden Gesetzeslage und umgekehrt an immer mehr Verordnungen, die nicht mehr für alle gelten und deshalb keine Allgemeingültigkeit mehr beanspruchen können.
Die EU wird niemals scheitern. Wo sollen denn dann die ganzen politischen Leichtgewichte, Gschaftlhuber und Absahner auf Kosten der Steuerzahler untergebracht werden? Bleibt nur die Frühverrentung, was auch wieder viel Geld kostet.
Der Einigungsprozess, und ich beobachte ihn als politisch sehr interessierter Bürger der alten BRD, seit ca. 1970 sehr genau: Er ist in erste Linie ein Projekt der europäischen, politischen Eliten, insbesondere seit 1970. Es wird getragen von wohlwollendem, aber eher passivem Verhalten der Bürger Europas, die ja in erster Linie weiterhin Dänen, Deutsche, Engländer, Polen, Franzosen etc. sind. So lange Deutschland von Kanzlern geführt wurde, denen Europa auch emotional etwas bedeutete, wie z.B. Helmut Kohl - so lange war der Prozess positiv. Ich bin und war als Wähler mit Angela Merkel insbesondere genau aus diesem Hauptgrund immer zutiefst unzufrieden, weil sie keine Politik aus europäischer, sondern aus primär nationaler Sicht macht, schlicht, weil sie nur von den Deutschen gewählt wird - und bei den Deutschen will sie die “Gewinnerin”, diejenige sein, die nicht verliert. Opfer zu bringen, auch eigene in Punkto Popularität, gar das eigene Volk von einem gemeinsamen Europa zu überzeugen - das liegt ihr fern. Kohl wurde von der Bild-Zeitung als “Zahlmeister der EU” kritisiert - und das nicht selten. Trotzdem: wenn es dem Einigungsprozess diente, war er spendabel. Es ist meiner Meinung nach zu einem sehr wesentlichen Teil die Verantwortung von Angela Merkel, die Europa in der konstituierten Form der EU, eine andere Form von Europa haben wir nicht, über Jahre Schritt für Schritt in die Zerreißprobe führte und weiter führt. Leider gibt es in Deutschland keine politische Alternative zu Angela Merkel. Die Austeritätspolitik und jetzt die Flüchtlingspolitik - alles Politik, die reinen Angela-Merkel-Interessen der Wiederwahl, also ihrer eigenen Alternativlosigkeit dient - verkauft als “nationale Interessen”.
Höre ich da einen Anfall von “Die Geister die ich rief…” durch? Monatelang hat Herr Hartwich den Euroskeptikern Beifall geklatscht. Allmählich wird ihm klar, worauf diese hinauswollen und dass ihre Ziele nur wenig mit der früher noch bei Liberalen hochgehandelten Freizügigkeit zu tun haben. Ein Europa von Farage, Le Pen, Gauland und den anderen Putin-Groupies wäre ein Europa der Abschottung. Da das Referendum in Großbritannien voraussichtlich erst in zwei Jahren stattfinden wird, braucht man auf aktuelle Umfragewerte noch nicht viel geben. Die drücken in der Regel immer ein “Fuck You” an die gegenwärtige Regierung aus und lagen in diesem Jahr bereits vor mehreren wichtigen Wahlen kräftig daneben. Wenn es hart auf hart kommt und die Bürger an die Urnen gehen, sieht das schon anders aus. Da wird vielen Briten bewusst sein, welche wirtschaftlichen Folgen mit einem EU-Austritt verbunden sind. Als Erstes müssten zum Beispiel die zahlreichen Auswanderer in Spanien wieder ins verhasste Heimatland zurückkehren. Der EU wurde schon so oft der Untergang prophezeit, aber sie erwies sich trotz aller Krisen als stabil. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass Dissens und Streitkultur zu einer auch supranationalen Debattenkultur dazugehören, ohne gleich in apokalyptische Endzeitpanik zu verfallen.
Aus jeder Krise erwächst auch eine Chance. Schon seit langem wird die EU mit der Idee “vorwärts immer - rückwärts nimmer” gegen die Wand gefahren. Euro und Flüchtlingskrise zeigen nun schonungslos das Versagen dieser Politik. Wäre die Krise nicht groß genug, würde man es weiter mit Beschwichtigung und Kleister versuchen. Doch so leuchten Sinn und Vorteil der EU immer weniger ein. Der Kaiser steht nackt da. Zeit für eine grundlegende Reform.
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