Vor fünf Jahren bot mir Alan Kohler an, im wöchentlichen Turnus die Wirtschaftslage in Europa zu kommentieren. Inzwischen habe ich die europäische Schuldenkrise in mehr als 200 Kolumnen für den Business Spectator aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Rettungspakete und Notprogramme, dazu eine unorthodoxe Währungspolitik: an Themen hat es nicht gemangelt.
Im Wirbel der tagespolitischen Ereignisse in der Eurokrise fällt es schwer, den Blick für das große Ganze zu bewahren. Wir schauen auf einzelne Krisenschauplätze und lassen die Wurzeln der Krise außer acht. Mein kürzlich erschienener Essay ”Why Europe Failed” soll helfen, den Überblick wiederzugewinnen. Darin untersuche ich die wesentlichen Fehler, die Europa während der letzten Jahrzehnte begangen hat, und ich betrachte den fortschreitenden Niedergang des Kontinents durch eine historische Brille.
„Die Geschichtsschreibung hat unter anderem den Nutzen, uns von einer Vergangenheit zu befreien, die so nie stattgefunden hat“, schrieb einmal der bedeutende US-amerikanische Jurist Robert Bork. „Je weniger wir darüber wissen, wie Ideen Fuß gefasst haben und gewachsen sind, desto leichter tappen wir in die Falle, sie unhinterfragt als selbstverständliche Merkmale unserer Umwelt zu akzeptieren.“ Damals äußerte Bork seine Mahnung im Kontext der Kartellpolitik, doch gilt sie ebenso gut für die Europäische Union und ihr Streben nach stetig enger werdender politischer Integration.
Um die Begründung der Europäischen Union und der europäischen Integration ranken sich Mythen. Der Gründungsmythos lautet ungefähr so: Nach einer Reihe von Kriegen zwischen den Großmächten Europas (der Deutsch-Französische Krieg von1870/71, die beiden Weltkriege) sollte das Einbetten der europäischen Staaten in ein größeres Konstrukt potentielle Konflikte vermeiden helfen. So gesehen war die Europäische Union schon immer ein Friedensprojekt.
Frieden durch Integration und Zusammenarbeit: das Leitmotiv der EU, das die europäischen Politiker regelmäßig beschwören, wenn sie ihre neuesten Initiativen rechtfertigen sollen. Aber diese überglänzte Darstellung der europäischen Geschichte zeichnet die Vergangenheit in falschem Licht. Der wahre Hintergrund der europäischen Integration ist viel nüchterner.
Es sind zwei Punkte, an die erinnert werden muss, wenn man an die Gründerjahre europäische Integration in der unmittelbaren Nachkriegsära denkt. Erstens: Es war die Zeit des Kalten Kriegs, als Westeuropa sich durch die Sowjetunion und ihre Verbündeten bedroht fühlte. Und westeuropäische Staaten sorgten sich, dass von Deutschland wieder eine Aggression ausgehen könnte oder, schlimmer noch, die Deutschen sich in den sowjetischen Einflussbereich locken lassen könnten.
Die Antwort auf diese Ängste lautete jeweils: Integration von (West-)Europa. Indem man Deutschland in ein Korsett aus politischen und wirtschaftlichen Institutionen einband, konnte man es besser kontrollieren und gleichzeitig Westeuropa gegenüber der Sowjetunion konsolidieren. Folgerichtig begann der Prozess der europäischen Einigung mit der Europäischen Montanunion, denn Kohle und Stahl waren für die Entwicklung militärischer Schlagkraft von entscheidender Bedeutung.
Selbstverständlich wurden auch idealistische Gründe für die europäische Integration angeführt, und mancher hat sie sicherlich auch geglaubt. Alleine wären diese Gründe jedoch nie stark genug gewesen. Das europäische Projekt wurde von kaltherziger Realpolitik angetrieben. Dank ihr wurden die geostrategischen Herausforderungen, denen sich die westeuropäischen Nationen damals gegenübersahen, realistisch eingeschätzt.
In „Why Europe Failed“ argumentiere ich, dass diese Doppelnatur in die Europäische Union bereits seit Gründung ihrer Vorläufer eingeschrieben ist. Die EU war immer schon ein Projekt mit idealistischem Überbau und den Mitteln, auch weniger idealistische politische Ziele zu erreichen. Sie diente als Werkzeug, um nationalistische Egoismen zu überwinden und nationale Interessen auf europäischer Ebene zu befördern. Sie bietet einen Rahmen, um Handel zwischen den Mitgliedern zu ermöglichen und einen Weg, um eigene Industriezweige zu schützen.
Klar ist jedoch eines. Die Europäische Union war niemals ein Projekt der Wirtschaft, noch wurde sie je primär von dem Wunsch angetrieben, effizienter zu wirtschaften. Es ging immer um Machtpolitik, so schlicht das klingt.
Europa leidet darunter, dass es wirtschaftliche Probleme so behandelt, als wären es politische Probleme. Das ist die direkte Folge seiner Gründerjahre. Die europäische Integration ist ein politisches Projekt. Die europäische Währungsunion steht dafür pars pro toto. Belastbare Gründe, weit auseinander klaffende Volkswirtschaften anhand einer gemeinsamen Währung zu integrieren, gibt es nicht und hat es nie gegeben.
Der Euro ist der Inbegriff von Machtpolitik. Er repräsentiert den (untauglichen) Versuch, Deutschlands wirtschaftliche Macht zu bändigen, indem es zur Aufgabe seiner Währungssouveränität gezwungen wurde. Auch die lebenserhaltenden Maßnahmen für den Euro trotz seines evidenten Scheiterns sind ein Beispiel dafür, wie politische Ambitionen volkswirtschaftliche Gegebenheiten ignorieren.
Erstaunlich ist, wie die europäische Integration immer weiter fortgeschritten ist, ohne je breite öffentliche Unterstützung zu gewinnen. Meinungsumfragen zeigen, dass die Europäer für die Übertragung weiterer Befugnisse an Brüssel nur sehr gedämpften Enthusiasmus an den Tag legen. Selten genug wurden Referenden zu Fragen der europäischen Integration abgehalten. Leider stimmten die Wähler dann auch noch manchmal mit „Nein“, was eine Wiederholung der Referendumsfrage nötig machte, bis sie schließlich die richtige Antwort gaben.
Meine Hypothese: Dass die europäische Integration so wie bisher verlaufen ist und die Öffentlichkeit dem Tun ihrer politischen Elite nicht widersprochen hat, verdankt sich vor allem dem Füllhorn sozialer Segnungen, das über den Bürgern ausgeschüttet wurde. Nirgendwo sonst auf der Welt ist der Staat auf ein Ausmaß wie in Europa angewachsen.
Ihre duldsamen Bürger versorgen die europäischen Eliten mit kostenloser oder stark subventionierter Bildung, medizinischen Leistungen, TV- und Radioprogrammen, Straßen, Hilfen zum Lebensunterhalt und Pensionen, öffentlichem Personennahverkehr, Büchereien, Opernhäusern und Theatern. Allerdings konnte der Staat seine Bürger nur mit ihrem eigenen Geld bestechen. Eine Statistik beleuchtet den Sonderstatus Europas schlaglichtartig: Obwohl die 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zusammen nur 7 Prozent der Weltbevölkerung entsprechen, entfallen auf sie 54 Prozent der weltweiten Wohlfahrtsausgaben.
Wie die Euro-Krise deutlich zeigt, hat das europäische Modell sein Haltbarkeitsdatum überschritten. Die europäischen Regierungen haben zu viel Geld ausgegeben, zu viele Steuern erhoben und obendrein zu viel Geld geliehen.
Im Verlauf der politischen Integration während der letzten Jahrzehnte hat Europa schwere volkswirtschaftliche Fehler gemacht. Seine Staatsapparate sind so sehr gewachsen, dass sie privater wirtschaftlicher Aktivität die Luft zum Atmen nehmen. Europa hat politische Entscheidungen auf die europäische Ebene und großenteils nicht gewählte politische und bürokratische Eliten verlagert. Fragen der Wirtschaft wurden regelmäßig wie politische Probleme behandelt, wofür der Euro nur das prominenteste Beispiel ist. Darüber hinaus hat Europa es nicht geschafft, Antworten auf einige seiner wichtigsten Fragen zu finden – nicht zuletzt die Herausforderung durch eine alternde Gesellschaft.
Wenn wir also die neuesten Nachrichten über Europas laufende Währungs- und Schuldenkrise besprechen, sollten wir nicht vergessen, dass es sich nur um die Symptome einer gravierenden zugrundeliegenden Malaise handelt.
Als mich Alan Kohler einlud, Europas Schwierigkeiten in einer wöchentlich erscheinenden Kolumne zu behandeln, sagte er noch, ich könnte sie fortführen, „solange diese europäische Krise andauert“. So wie sich die Dinge entwickeln, könnte daraus eine Lebensstellung werden.
Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.
‘The roots of Europe’s decline’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 02. September 2015. Übersetzung aus dem Englischen von Eugene Seidel (Frankfurt am Main).