Wohin es führt, wenn eine staatlich verordnete Ideologie ins Familienleben hineinregiert, zeigt das Beispiel Jutta Gallus (heute: Fleck) mit ihren beiden Töchtern Beate und Claudia. Die ihnen angetanen und erlittenen Leiden sind unvorstellbar. Dabei ging diese Geschichte – im Gegensatz zu vergleichbaren Schicksalen, in denen die SED den Eltern ihre Kinder raubte – am Ende noch glimpflich aus.
Es gibt Geschichten, die man nie vergisst, weil sie zu Herzen gehen. Die Geschichte von Jutta Gallus (heute: Fleck), damals 35, und ihren beiden Töchtern Beate (9) und Claudia (11), gehört für mich dazu. Aufmerksam auf ihr Schicksal machte mich ursprünglich in den 1980er Jahren Werner Kahl mit seinen Reportagen in der Tageszeitung DIE WELT. Deutlich später wurde Jutta Fleck auch einem breiteren Publikum bekannt durch das Buch und den gleichnamigen Film „Die Frau vom Checkpoint Charlie“.
Eine Rückblende. Deutschland im Jahre 1982. Es ist Sommer, Ende August. In dem Teil Deutschlands, der sich „DDR“ nannte, aber kein bisschen demokratisch und schon gar keine Republik war, regierte die SED mit Erich Honecker. Seine Frau Margot war „Volksbildungsministerin“ und damit auch verantwortlich für die dortige Familienpolitik. Das Ehepaar wurde im Übrigen für seine Verbrechen nie strafrechtlich belangt. Man ließ sie laufen, genauer: unbehelligt nach Chile abhauen.
Und dies, obwohl zur Politik Margot Honeckers – neben der Indoktrination von Kindern und Jugendlichen in Kindergärten, Schulen, diversen Organisationen und Bildungseinrichtungen – ebenso gehörte, Eltern aus rein politischen Gründen ihre Kinder zu entziehen und sie in ein Heim, meist für „schwererziehbare Kinder“, zu stecken. Oder sie wurden, wenn es um Kleinkinder und Babys ging, einem regimetreuen Ehepaar zur Adoption freigegeben – Stichwort Zwangsadoptionen, siehe hier und hier. Ein Schicksal, das auch jene Kinder betraf, deren Eltern „Republikflucht“ begangen hatten, dabei scheiterten und vom SED-Staat inhaftiert wurden. Ein Beispiel für diese grausame Praxis ist der unbedingt erwähnenswerte Fall von Gisela Mauritz und ihrem Sohn Alexander, der ihr als Kleinkind nach einem missglückten Fluchtversuch entrissen wurde, und den sie erst nach 15 Jahren wiedersehen durfte – da war er 18 Jahre alt, und jede Basis für eine tragfähige Mutter-Kind-Beziehung war irreparabel zerstört.
Erfolglose Ausreiseanträge
Den Versuch von Jutta Gallus, mit ihren beiden Töchtern auf dem Umweg über Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien in die Bundesrepublik zu fliehen, verriet ein Stasi-Mitarbeiter im Westen, welcher der Familie nahestand. Am 25. August 1982 wurden sie von dem in das Vorhaben eingeweihten rumänischen Geheimdienst festgenommen. Vor 35 Jahren, am 25. August 1988, waren Mutter und Töchter nach sechs für sie furchtbaren Jahren wieder vereint. Ihre Geschichte sei hier nachgezeichnet. Dabei habe ich in weiten Teilen auf das Buch von Jürgen Aretz und Wolfgang Stock, „Die vergessenen Opfer der DDR“ (Verlag Bastei Lübbe, erschienen 1997, Seite 184–193) zurückgegriffen.
Dort erfahren wir: Jutta Gallus wurde 1946 in Dresden geboren. Ihr Vater war schon frühzeitig in den Westen geflüchtet. Mutter und Kind blieben allein im Osten zurück. Der Kontakt zum Vater blieb dennoch bestehen, so dass die Tochter sich mehrfach mit ihm und weiteren Verwandten im Westteil Berlins treffen konnte. Beides aber brachte ihr ganz erhebliche Nachteile in ihrem noch jungen Leben ein: die Erweiterte Oberstufe (EOS) durfte sie ebensowenig besuchen wie eine Sportschule.
Gleichzeitig, so schreiben Aretz und Stock, erlebte sie im Westen eine Offenheit und herzliche Aufnahme bei ihren Westverwandten, dass in ihr früh der Wunsch reifte, im westlichen, im freien Teil Deutschlands zu leben. Mit dem Mauerbau am 13. August 1961 aber brach dieser Traum für das damals erst 15-jährige Mädchen vorerst zusammen.
Den Vater ihrer späteren Kinder heiratete sie 1967. Kurz nach der Hochzeit begann sie ein Fernstudium der Kybernetik und Informatik. Ein Direktstudium wurde ihr wegen ihrer Westverwandtschaft verwehrt. Den ersten Ausreiseantrag stellte sie 1974 noch zusammen mit ihrem Mann für sie beide und ihre Kinder. Er wurde ohne Begründung abgelehnt. Weitere Ausreiseanträge in den Folgejahren unterschrieb ihr Mann nicht mehr, so dass Jutta Gallus sie alleine für sich und ihre beiden Töchter stellte. Ihr einst systemkritischer Ehemann, so mutmaßt sie, wurde zu dem Zeitpunkt womöglich schon von der Stasi beeinflusst; später galt er als Linientreuer des SED-Regimes.
Die Ausreiseanträge, nun allein gestellt von Jutta Gallus, hatten jedenfalls schwerwiegende Konsequenzen. Ihren bisherigen Arbeitsplatz in einem VEB Bau- und Montagekombinat musste sie 1977 aufgeben und sich mit Heimarbeit und Aushilfsarbeiten begnügen, bis sie 1979 eine Anstellung bei den Landesbühnen Sachsen fand. Zeitgleich wurde sie mit dem Angebot einer Arbeit beim Standesamt Dresden „geködert“: eine gute Gelegenheit für SED und Stasi, sie im Land zu halten und gleichzeitig kontrollieren zu können.
Die erste Ehe von Jutta Gallus scheiterte. 1981 wurde das Ehepaar geschieden. Sie erhielt aber das alleinige Sorgerecht für ihre beiden Töchter. Nach dem Tod ihrer Mutter im Jahre 1982, die sie nach einer schweren Erkrankung zwei Jahre lang gepflegt hatte, wollte sie so schnell wie möglich mit ihren beiden Kindern in den Westen fliehen; in ihrer alten Heimat hielt sie nun nichts mehr.
Missglückter Fluchtversuch von Rumänien nach Jugoslawien
Wie aber überwindet eine Mutter mit zwei Kindern die strengbewachten mörderischen Grenzsperranlagen, die Deutschland brutal in zwei Teile zerschnitt? Jutta Gallus gelang es, zu einer professionellen Fluchthilfeorganisation Kontakt aufzunehmen. Diese sollte Mutter und Töchter dann im Sommer 1982 auf dem Umweg über Rumänien und Jugoslawien in den Westen bringen. In ihrer Heimatstadt traf sie sich mit den Fluchthelfern, mit in der „DDR“ lebenden Jugoslawen. Sie verlangten für ihre Hilfe insgesamt 100.000 Mark, zahlbar in Devisen in zwei Raten, die erste in Höhe von 50.000 Mark in Dresden. Eine immense Summe, die nur durch viele kleine Tauschgeschäfte erreicht werden konnte, so Jutta Gallus. Die zweite Hälfte sollte sie dann in der Bundesrepublik begleichen.
Was Jutta Gallus zu dem Zeitpunkt nicht wusste: die Fluchthilfeorganisation stand im Visier der Stasi. Das MfS war bestens informiert über den Plan, der sie und ihre Kinder in den Westen bringen sollte: mit gefälschten bundesdeutschen Pässen, die sie in der rumänischen Stadt Severin gegen einen Zettel mit einem Decknamen in einem Hotel abholen sollte. Anschließend sollten sie mit einer Fähre über die Donau nach Jugoslawien übersetzten. Doch während sie im Hotel warteten, wurden der Mutter Hand- und Reisetasche entrissen und ihr Auto aufgebrochen, schreibt Ines Veith in ihrem Buch auf Seite 21. Angeblich landeten die Papiere in der Donau, in Wahrheit aber war der ganze Vorgang mitsamt dem Dieb, der gestellt und festgesetzt wurde, von vornherein inszeniert, wie sie – später! – aus den Stasi-Akten erfahren wird. Noch ahnte sie nichts.
In dieser verzweifelten Situation glaubte Jutta Gallus, ihre Rettung in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Bukarest finden zu können. Dort konnte ihr in Bad Oeynhausen lebender Onkel ihre Identität bestätigen, und so stellte man ihr und den Töchtern denn auch die Ersatzpapiere aus. Doch sie mussten noch in die rumänische Ausreisevisastelle. Hier zeigte sich, dass das Zusammenspiel der östlichen Geheimdienste bestens funktionierte: die Mutter wurde dreimal in die Visastelle einberufen, schließlich am 25. August 1982 festgenommen und mit ihren Töchtern zum Flughafen Bukarest verfrachtet.
Hier wurden sie sieben Tage lang interniert. Für die Verpflegung hatte die Mutter selbst aufzukommen. In dieser Zeit gelang es ihr, einen Brief an den damaligen CDU-Politiker Rainer Barzel zu schreiben und diesen unauffällig einer Stewardess der Lufthansa auszuhändigen, die voller Mitleid mit der Familie war, und die ihn tatsächlich an den Adressaten weiterleitete. Wäre ihr dies nicht gelungen, und hätte es diese hilfreiche Stewardess nicht gegeben, so Jutta Fleck später, wären westdeutsche Behörden womöglich auf ihr Schicksal niemals aufmerksam geworden.
Das Martyrium für Mutter und Töchter beginnt
Am 2. September 1982 erfolgte dann der Rückflug. Noch während des Fluges wurden Mutter und Töchter voneinander getrennt, wurde die Mutter von der Stasi verhört. Jutta Fleck: „Der schlimmste Moment in meinem Leben war die Trennung von meinen Töchtern. Ich durfte sie bei der Rückführung von Bukarest in die DDR nur noch vom Bullauge des Flugzeuges ein letztes Mal sehen. Sie haben mir gewunken. Danach erhielt ich lange Monate erst einmal überhaupt keine Informationen über den Verbleib meiner Kinder. Diesen letzten Blick auf meine Kinder sehe ich immer noch täglich vor mir.“ Und: „Die Stasi-Leute haben sich an den Schreien meiner Töchter, als wir getrennt wurden, geweidet.“
Die beiden Schwestern Beate und Claudia Gallus wurden nach der Landung sofort in ein Heim für schwererziehbare Kinder in Munzig bei Meißen gesteckt. Beate Gallus sagt dazu: „Als man Mama von uns trennte, stand unser Leben sofort Kopf.“ In den Verhören, denen auch die Kinder unterzogen wurden, wusste man sie mit Schuldgefühlen zu quälen und ihnen Privates zu entlocken. „Ich hatte eine schöne Kindheit in Geborgenheit, aber plötzlich war alles herzlos, und die Liebe fehlte“, so die jüngere Tochter. Und sie fuhr fort: „Hinter allem stand die Erziehung zu guten, sozialistischen Persönlichkeiten.“ Auf ganz viele Fragen erhielten die Kinder keine Antworten. Sie versuchten mehrmals, aus dem Heim zu fliehen, was ihnen auch gelang. So kamen sie 1983 schließlich in die Obhut ihres Vaters. Jutta Gallus willigte ein, da sie sich aus der Haft heraus ja nicht um ihre Kinder kümmern konnte. Dass ihr tatsächlich aber in Abwesenheit das Erziehungsrecht abgesprochen wurde, erfuhr Jutta Gallus erst nach ihrer Freilassung im Notaufnahmelager Gießen (1).
Für sie begann unmittelbar nach der Festnahme und der Trennung von ihren Töchtern ein regelrechtes Martyrium. Mehrwöchige, bis zu achtstündige ununterbrochene Verhöre, ohne jegliche Nahrungsaufnahme, musste sie über sich ergehen lassen. Sehr genau erinnere sie sich dabei an MfS-Leutnant Wilfried Pohl, der nichts unversucht gelassen hätte, sie psychisch zu brechen, indem er ihr ins Gesicht schmetterte: „Ihre Kinder sehen Sie nie wieder.“ Jutta Gallus hatte damals noch die Chuzpe, ihm zu erwidern: „Wir kommen raus, und Sie bleiben hier“, berichten Aretz und Stock in ihrem Buch.
Die beiden Autoren schreiben aber auch: Auf Dauer war Jutta Gallus den folterähnlichen Verhören physisch nicht gewachsen; sie verlor mehrfach das Bewusstsein. Psychisch hielt sie dennoch stand. Sie zog trotz drohenden Gerichtsverfahrens ihren Ausreiseantrag für sich und ihre Töchter nicht zurück. Im Januar 1983 wurde sie dann zu drei Jahren Haft verurteilt – wegen „versuchter Republikflucht in einem besonderes schweren Fall“. Dabei wurde ihr in der Bundesrepublik Deutschland lebender Onkel wegen Beihilfe zur Flucht in Abwesenheit gleich mitverurteilt.
In der Hölle „Burg“ Hoheneck
Jutta Gallus kam nach ihrer Haft in Berlin und Dresden schließlich in das für seine besonders schlimmen Haftbedingungen berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck in Stollberg im Erzgebirge. Demütigungen, Schikanen, Züchtigungen und Entwürdigungen waren an der Tagesordnung, so berichtet Jutta Fleck später. Psychoterror, besonders gegenüber den „Politischen“, war System. Die Verhältnisse im Gefängnis waren in jeder Beziehung die denkbar primitivsten, die Arbeitsbedingungen menschenverachtend, Privatsphäre gab es keine. Die Häftlinge waren nur noch namenlose Nummern. Aus einem gemeinsamen Foto mit ihren Töchtern musste Jutta Gallus ihren Kopf herausschneiden, wenn sie das Foto behalten wollte. Briefe, die sie an ihre Kinder schrieb, wurden oft nicht weitergeleitet, auch durfte sie darin keine Zuneigung zu ihnen ausdrücken, so erfährt man in dem Buch „Hilferufe von drüben. Eine Dokumentation wider das Vergessen“ (1). Zudem war Jutta Gallus mehrfach „Absonderungen“ ausgesetzt, wie die Isolationshaft auf kleinstem Raum hieß, wo man auf dem nackten Boden liegen musste, und der zudem mit Wasser geflutet werden konnte. Letzteres widerfuhr Jutta Gallus offenbar nicht, dafür aber wurde sie im Burgverlies über Stunden unter eine eiskalte Dusche gestellt, dass sie sich fragte, ob dies eine Methode war, Menschen auf stille Art zu ermorden, wie man aus dem Buch „Die Frau vom Checkpoint Charlie“ (Seite 69) entnehmen kann.
Dass sie diese zutiefst unmenschlichen Haftbedingungen ohne größere psychische Folgeschäden überstand, grenzt an ein Wunder. Andere politische Häftlinge wurden von den Torturen deutlich gezeichnet. Was Jutta Gallus aufrechterhielt, war der Glaube an ihre Töchter und die Gewissheit, dass sie ebenfalls zu ihrer Mutter standen. Diese schrieben ihr regelmäßig Briefe, die die Mutter aber oft erst nach ihrem Freikauf oder auch viel später der Stasi-Akte fand. Auch aus heimlich von den Mädchen aufgenommenen Tonaufnahmen ging hervor, wie sehr die beiden ihre Mutter vermissten und zu ihr in den Westen wollten. „Ich möchte so gerne bei dir sein, fleht Beate“ – diese Überschrift stand am 4. Oktober 1984 wahrheitsgemäß in der WELT.
Mitte Januar 1984 kam Jutta Gallus dann in die Abschiebehaft in das damals noch Karl-Marx-Stadt genannte Chemnitz. Hier stellte sie erneut einen „Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland“ – für sich und ihre Kinder. SED-Anwalt Wolfgang Vogel konfrontierte sie daraufhin mit vorgegebenen Schwierigkeiten und einer Verzögerung ihrer Ausreise. Ihr wurden von Vogel zweifelhafte Alternativen aufgezeigt: Zurück entlassen zu werden in die „DDR“ und von dort erneut einen Ausreiseantrag zu stellen sowie ihre Reststrafe abzusitzen; oder die Kinder ihrem geschiedenen Ehemann zuzusprechen und dafür allein in den Westen ausreisen zu können.
Jeder Versuch, Vogel umzustimmen, mit ihm über eine andere Lösung zu verhandeln, misslang. Jutta Gallus kannte das Schicksal von Gisela Mauritz und wollte auf keinen Fall in ihre alte Heimat zurück. So ließ sie sich schließlich widerstrebend auf die letzte Alternative ein, in der vagen Hoffnung, vom Westen aus besser um ihre Töchter kämpfen zu können. Nach fast zweijähriger Haft konnte die Bundesrepublik sie für 90.000 DM freikaufen. Ihre Kinder blieben im anderen Teil Deutschlands beim Vater zurück. Sie waren in der Schule Diskriminierungen und Mobbing ausgesetzt, da die Geschichte ihrer Mutter als „Staatsfeindin“ schnell die Runde machte.
„Hilferufe von drüben“ und IGfM halfen beim Kampf um die Töchter
Nun begann für die Mutter ein weiterer vierjähriger Kampf um eine Ausreisegenehmigung für Beate und Claudia Gallus – diesmal aber vom freien Teil Deutschlands aus. Sie schrieb alle möglichen Politiker an, machte auf ihr Schicksal aufmerksam. Sie nahm Kontakt auf zum Verein „Hilferufe von drüben“ und zur Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGfM). Dort riet man ihr, wovon sämtliche Politiker in der Bundesrepublik ihr abrieten: mit ihrem Anliegen an die Öffentlichkeit zu gehen. Was sie dann auch tat. Mit aufsehenerregenden Aktionen an verschiedensten Orten kämpfte sie unermüdlich um die Rückgabe ihrer Töchter. So wurde sie auch bekannt als „Die Frau vom Checkpoint Charlie“. An dem damaligen Grenzübergang mitten in Berlin stand sie ein halbes Jahr lang den ganzen Tag mit zwei Plakaten, auf denen sie ihre Forderungen an die SED unterstrich, ihre Töchter zu ihr in den Westen ausreisen zu lassen.
Die Antworten der Politiker im Westen Deutschlands waren meist ausweichend. Sicher bedauerten viele ihr Schicksal, sahen aber keine Möglichkeit, ihr konkret zu helfen, oder sie hatten schlicht Angst um die vermeintlich „guten Beziehungen“ nach Ostberlin (2). Sogar vom innerdeutschen Ministerium in Bonn wurde Jutta Gallus hingehalten, ihre Akte immer wieder weggeschoben (3). Gerhard Löwenthal dagegen sagte ihr jede Hilfe zu, unterstützte sie beim Kampf um ihre Töchter und gab ihr in seiner Sendung „Hilferufe von drüben“ mehrmals die Möglichkeit, ihr Schicksal der Öffentlichkeit bekanntzumachen. Der gleichnamige Verein konnte ihr außerdem helfen, dass Mutter und Töchter wieder regelmäßig voneinander hörten, nachdem sie den – wie sich später herausstellte: richtigen – Eindruck gewonnen hatte, dass der postalische Austausch von der SED wiederholt behindert wurde (4).
Jutta Gallus trat in einen Hungerstreik, nutzte 1985 eine Audienz beim Papst, wo sie ihre Bittschrift vortrug, sie kettete sich im gleichen Jahr auf der KSZE-Konferenz in Helsinki vor dem Tagungsgelände an ein Geländer an. Beinahe wäre sie dort in eine Falle gelockt worden, das wäre ihr Ende gewesen: „Dort sollte ich liquidiert werden“, so Jutta Fleck. Bei einer Gedenkveranstaltung zum 25. Jahrestag des Mauerbaus gelang es ihr, vor 1.500 Zuhörern – darunter auch Helmut Kohl (CDU) – ihr Plakat mit der Forderung nach Rückgabe ihrer Töchter zu enthüllen. Der Kanzler ging zu ihrer großen Enttäuschung in seiner Rede jedoch nicht darauf ein.
Nach sechs Jahren endlich wieder glücklich vereint
Ein Grund dafür, warum die SED so lange gemauert hatte, ist sicher auch darin zu suchen, dass beide Töchter in „DDR“-Fernsehfilmen mitwirkten, die eine „heile sozialistische Welt“ darstellen sollten. So waren sie einem breiteren Publikum bekannt, und ihre Ausreise in den Westen hätte die Sendungen vollends desavouiert (5). Schließlich gab die SED dem Druck nach, nicht zuletzt aus Angst um ihr Ansehen in der Weltöffentlichkeit.
Die Schwestern Claudia und Beate Gallus stellten am 25. Januar 1988 beim Rat des Bezirkes Dresden eigenhändig einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik, einmal persönlich abgegeben, einmal per Einschreiben mit Rückschein. Es gelang den Mädchen, ihre Mutter zu informieren. Dass sie zu dieser Antragstellung als Minderjährige gar nicht berechtigt seien, wie sie belehrt wurden, schreckte sie nicht ab, couragiert zu schreiben, dass ihre Bindung zu ihrer Mutter weitaus stärker sei als die zu ihrem Vater. Deshalb solle man sie zu ihrer Mutter übersiedeln lassen, forderten sie (WELT v. 26.08.1988, „Das gute Ende einer bösen Geschichte“). Folge: Claudia Gallus wurde vom Abitur ausgeschlossen und zur Zwangsarbeit in einer Waffelfabrik verdonnert, in der sie ihre Arbeit schon um 4 Uhr in der Frühe antreten musste (WELT v. 05.07.1988, „14.000 Menschen beschlossen: Keine Rückkehr in die ‚DDR‘ “).
Der langjährige Kampf um ihre Töchter hatte Jutta Gallus langsam an ihre seelischen und körperlichen Grenzen gebracht. Dann kam der 5. Juli 1988 und mit ihm berechtigte Hoffnung auf: An dem Tag erfuhr sie, dass ihre Töchter endlich zu ihr in den Westen dürfen. Dies geschah am 25. August 1988. Beate Gallus: „An diesem Tag wurden wir in Dresden abgeholt. Sie brachten uns zu dem Anwalt Wolfgang Vogel nach Berlin. Wir stiegen in seinen Mercedes um und fuhren dann über den Grenzübergang Invalidenstraße ohne irgendeine Kontrolle nach Westberlin. Einfach so.“
Das glückliche Ende einer bösen Geschichte. Nun lagen sich Mutter und Töchter nach sechsjähriger Trennung weinend vor Freude in den Armen. Das damals in der WELT veröffentlichte Foto, das eine freudestrahlende Mutter mit ihren glücklichen Töchtern Arm in Arm in West-Berlin zeigte, das werde ich nie vergessen. Es hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Hut ab vor drei unglaublich starken, unbeirrbaren, mutigen Frauen!
Sabine Drewes ist im freien Teil des damals noch geteilten Deutschlands aufgewachsen und beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.
Quellen aus „Hilferufe von drüben. Eine Dokumentation wider das Vergessen“, Hänssler 2002:
(1) Seite 75, (2) Seite 102f., (3) Seite 104, (4) Seite 103, (5) Seite 107f.
Lesen Sie zu diesem Thema von Sabine Drewes (https://www.achgut.com/autor/drewes_s) auch: