„Der Unteroffizier war der Kleinbürger in Uniform“ schreibt der Historiker Jürgen Osterhammel in dem Buch "Verwandlung der Welt". Und weiter: „Überhaupt spiegeln militärische Hierarchien oft die Rangordnung in der zivilen Gesellschaft getreulich und verdeutlichend wider.“ Ein Spruch von Chesty Puller, einem legendären General der US-Marines, fällt mir dazu ein. Jedenfalls werden ihm in der Serie "The Pacific" folgende Worte zugeschrieben: „Sie, das Unteroffizierskorps, sind das Gerüst der Truppe. Sie führen die Befehle aus, die von oben kommen. Und wenn dieser Krieg vorbei ist, ..., wird es die Strategie von Anderen gewesen sein. Aber Sie werden den Sieg errungen haben. Sie, die Unteroffiziere mit den Winkeln an den Ärmeln, mit ihrer Courage und mit dem Blut an ihren Stiefeln.“
Zwei wesentliche Dinge sind in dieser Äußerung angesprochen, die von größter Bedeutung sind: dass die Strategie von anderen kommt, aber dass die Unteroffiziere die mit dem Blut an den Stiefeln sind. Ich werde später darauf zurück kommen. Dennoch fällt es mir schwer, den Unteroffizier zu verehren, Osterhammels Vergleich mit dem Kleinbürger macht es nicht leichter. Jedenfalls für mich, mit meiner Allergie gegen alles militärische. Erfolgreich konnte ich mich von NVA und Bundeswehr fern halten, also kenne ich den Unteroffizier gar nicht, bloß aus den Erzählungen anderer. In der Berufsschule war ein Klassenkamerad der Sohn eines Feldwebels der NVA, das war es aber auch schon, näher bin ich an solche Leute nicht ran gekommen.
Aber die Kleinbürger kenne ich, ich wurde in dieses Milieu hinein geboren, im Grunde bin ich auch einer geblieben, bei allen Versuchen zu entkommen. Dort wo das Kleinbürgerliche lebt, da fühle ich mich geborgen, solange es nicht nach mir greift und von mir erwartet, es Ihnen gleich zu tun. Den Zwängen des Kleinbürgertums, ihrer Werteordnung, ihren Wahrheiten, möchte ich nicht unterworfen sein. Doch von welchen Kleinbürgern spreche ich? Gibt es den als Prototyp überhaupt und denken wir wir beim Kleinbürger nicht automatisch an den Spießer? Dieser, so meint der Historiker Jürgen Osterhammel, wäre ein Pejorativum des Kleinbürgers, also etwas implizit abwertendes, und ist somit keine Steigerungsform des Kleinbürgers, sondern nur seine Diffamierung.
Bestenfalls wird Bauernschläue zugestanden
Die hat allerdings Tradition, wer hat sich nicht schon alles von den vermeintlichen oder wahren Geistesgrößen über den Spießer ausgelassen. Ja, es scheint sicher, in unser aller Vorstellung ist Geist und Kleinbürger nicht vereinbar. Bestenfalls wird ihm noch so was wie Bauernschläue zugestanden, und damit das Streben nach dem eigenen Vorteil in den Mittelpunkt gestellt; verbunden mit der Unterstellung, Dinge nur intuitiv zu erfassen und nicht logisch. Oder dass das logische Handeln immer nur auf die eigene Person gerichtet ist, zu seinem Vorteil im Milieu, und von gänzlichem Desinteresse am theoretischen Überbau gekennzeichnet.
Doch welches Milieu ist das des Kleinbürgers, wo ist er zu Hause? In den Milieus der Marktforscher findet er sich schon gar nicht mehr. Er verbirgt sich irgendwo zwischen unterer und mittlerer Mittelschicht, würde ich mal vermuten. Das Bild bleibt unscharf, nur meine Verwandtschaft taucht ständig aus dem Nebel auf. Die sind fast durchweg Handwerker, was mich zu der ketzerischen Frage bringt, ob die allseits so geachteten Handwerker im Grunde nicht der Prototyp des verschmähten Kleinbürgers sind?
Es würde passen, tradiertes Können steht über tradiertem Wissen: „Ich will dein Gelaber nicht hören, zeig was Du kannst!” Jetzt sag ich lieber nicht, welches mir bestens bekannte Gesicht mit diesem Spruch aus dem Nebel aufgetaucht ist. Damit wird aber langsam klar: Der Kleinbürger grenzt sich sowohl vom Bildungs- als auch vom Wirtschaftsbürgertum ab. Natürlich auch vom Proletarier, sofern es den noch gibt, denn das Industriearbeitertum wird man schwerlich dem Proletariat zuordnen können. Da denke ich eher an Verhaltensproleten, solche die weder was wissen, noch was können, was durchaus auch Universitäts-Absolventen diverser Laberfächer sein können. Die Verachtung gegenüber "Geschwätz" ist wohl nirgends größer als im Kleinbürgertum, dort zählt die Praxis.
Doch das ist nicht der einzige Unterschied, ich muss noch mal Jürgen Osterhammel erwähnen, der meint, die Kleinbürger seien „in ganz besonders hohem Maße lokale Existenzen“ und „weniger mobil als wandernde Unterklassen, weniger international vernetzt als die Aristokratie mit ihren weitläufigen Familienbeziehungen und als die große Bourgeoisie mit ihren Geschäftskontakten in die Ferne“. Er schreibt diesbezüglich von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Entstehungszeit des Kleinbürgertums, welches sich von nun an vom Besitz- und vom Bildungsbürgertum abgrenzte. Vielleicht ist es auch eher umgekehrt, und die Abgrenzung ging ursprünglich vom "gehobenen Bürgertum" aus.
Egal, denn die wichtigsten Punkte, und so langsam bekomme ich den Kleinbürger zu greifen, sind einerseits die Verwurzelung im Lokalen, sprich der Heimat, als auch die aus der Handwerkertradition stammende Wertschätzung des Könnens, die Praxisorientiertheit also. Ein neues Milieu bildete sich heraus, mit Vernetzungen in Form von Eheschließungen innerhalb des Mileus, von Vereinen, mit einer eigenen Kultur. Auch wenn heute beim Kleinbürger nicht mehr automatisch an den Handwerker gedacht wird, so wird doch der Kleinbürger in seiner Natur durch diesen Rückblick auf seine Ursprünge begreifbarer.
Nutzen versus Geschwafel
Mit den Blick auf die kulturellen Institutionen des Kleinbürgers, seine Vereine, die organisierte Vernetzung, wird deutlich, dass es eine Verlagerung vom Handwerker zum Industriearbeiter gegeben hat. Besser gesagt, die Trennung ist weitgehend aufgehoben. Beide sind nicht mehr Unterschicht, schon aus einer relativen materiellen Sicherheit heraus, aber doch nicht so mit Kontakten in Ferne ausgestattet, wie es das Besitz- oder Bildungsbürgertum ist. Auch der Wertekanon ist noch der gleiche: Können steht über Wissen, welches natürlich auch geschätzt wird, doch immer untergeordnet dem Nutzen welches es in der Praxis bringen kann. Nutzen versus Geschwafel.
Ob den Gewerkschaften eigentlich bewusst ist, dass ihre Klientel heute eher Kleinbürger als Proletarier sind? Dabei hatte doch schon Horkheimer 1960 gemeint: „Die Arbeiter in den Industriestaaten werden größtenteils miese Kleinbürger“. Genau so bei der SPD, die gerne den Internationalismus hoch preist, mit dem aber der Kleinbürger eigentlich recht wenig anfangen kann, weil er seine Identität in der lokalen Vernetzung findet?
Auch wenn der Kleinbürger nun ein wenig deutlicher wird, so ist doch immer noch nicht klar, warum er so wenig Wertschätzung erfährt. Wirklich selten nur wird er geehrt, am ehesten noch beim Militär. Und dabei ist er es mit den Dreck unter den Fingernägeln, der Macher, der Praktiker, der die Dinge am Laufen hält. Nicht was er tut, wird von oben herab missbilligt, sondern das was er ist.
Gescholten wird er als Ignorant sämtlicher ideologischer Überbaue, ganz einfach weil sich seine Orientierung hauptsächlich auf Seinesgleichen und seine lokale Vernetzung ausrichtet. Was die da in der Gesellschaftshierarchie über und unter ihm so alles anstellen, interessiert ihn wenig. Auch die Aufstiegsambitionen sind bescheiden, vielleicht bis zu Meister wird angestrebt, zum Vorarbeiter oder zum Spieß beim Militär. „Schuster, bleib bei deinen Leisten“, sagt der Volksmund dazu.
Der untrügliche Blick des Kleinbürgers
Wenn es aber die Unteroffiziere sind, die den Sieg im Krieg erringen, wie Chesty Puller meinte, und zwar ohne dass sie eine Ahnung von der Strategie der Führung haben, im zivilen Leben sprechen wir dann von Ideologie, dann liegt das daran, dass im Kleinbürgertum nur die Teile der Vorgaben von oben umgesetzt werden, die auch praktikabel sind. Was geht, was machbar ist, weiß man eben nur dort. Das Kleinbürgertum wirkt als Korrektor und sortiert, ganz ohne Ideologie oder Strategie, das Machbare von dem nicht Machbaren aus. Kein Wunder dass Max Horkheimer von „miesen“ Kleinbürgern sprach.
Glücklich die Gesellschaft, die selbstbewusste und gut ausgebildete Kleinbürger hat, sie geht wesentlich weniger gesellschaftspolitische Experimente ein, und das ist der Garant für Wohlstand im zivilen Leben, oder für den Sieg im Krieg. Gäbe es die Kleinbürger nicht, das Land wäre Phantasten, irgendwelchen Utopisten oder sonstigen Weltverbesserern schutzlos ausgeliefert. „Keine Experimente”, mit diesem Slogen ging die Union 1957 in den Wahlkampf und traf damit den Kern der Befindlichkeiten der Kleinbürger. Es wurde ihr größter Erfolg, nie mehr wieder konnte eine Partei ein derartiges Ergebnis erzielen. Nie mehr wieder wurde auch der Kleinbürger ernst genommen. Er wurde mit Almosen ruhig gestellt, vom Kindergeld bis zum Bausparvertrag und vermögenswirksamen Leistungen, und ihm damit die Aussicht auf eine bessere Zukunft gegeben.
Doch genau dieses Zukunftsversprechen der Eliten, auch der Bildungs- und Wirtschaftsbürger, besteht den Praxistest des Kleinbürgers immer weniger. „Kleinbürger sind freilich zu politischen Kollektivhandeln fähig“, beschreibt das Osterhammel. Boykotte etwa könnten politischen Druck erzeugen. Momentan drückt sich der Boykott noch am ehesten in Wahlverweigerung aus, etwas was die Eliten nicht wirklich trifft, doch die Frage wird sein, wie lange dieser Zustand noch anhält.
Der Kleinbürger kann nicht dauerhaft in einer Welt ruhig bleiben, in der ein ideologischer Überbau den Diskurs bestimmt, die Regeln fest setzt, aber die Realität und die Praxis ausblendet. Denn die stimmt immer weniger mit den den Konstrukten der Schwätzer überein. Der Kleinbürger hat einen untrüglichen Blick dafür.
Von Quentin Quencher gerade erschienen: „Chlorhähnchen esse ich jederzeit“ hier.