Thomas Jefferson hat einmal gesagt: „Diejenigen, die ihre Freiheit zugunsten der Sicherheit aufgeben, werden am Ende keines von beiden haben - und verdienen es auch nicht.“
In der momentanen Eurokrise muss dieses Zitat abgewandelt werden: Diejenigen, die die Demokratie zugunsten wirtschaftlicher Stabilität aufgeben, könnten am Ende auch mit leeren Händen dastehen.
Dies ist die Frage, um die es im Bundesverfassungsgericht geht. Deutschlands höchstes Gericht berät gegenwärtig über einen Eilantrag, nach dem Bundespräsident Gauck die Unterzeichnung internationaler Verträge zur Einrichtung eines dauerhaften europäischen Rettungsschirms und neuer Haushaltsvorschriften für EU-Mitglieder untersagt werden soll. Die Märkte warten gespannt auf das Urteil, da sie fürchten, verfassungsrechtliche Schwierigkeiten könnten die nächsten Bailout-Runden und letztlich eine Vergemeinschaftung der europäischen Staatsschulden verhindern.
Das Gericht muss folgende Fragen abwägen: Ist die anhaltende Verlagerung von Machtbefugnissen aus nationalen Parlamenten (wie dem Bundestag) an nicht gewählte und nicht rechenschaftspflichtige europäische Institutionen (wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus) mit den Prinzipien der parlamentarischen Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit vereinbar? Dürfen gewählte Abgeordnete sich ihrer grundlegendsten Verantwortung - des Rechts, über die Verwendung von Steuergeldern zu entscheiden - entledigen?
Hier handelt es sich nicht um vorrangig wirtschaftliche Überlegungen. Es sind Fragen, die den innersten Kern der Regierungsführung in einem demokratischen Land berühren. Sie verlangen ein Nachdenken über das Wesen der Nation, über Souveränität und Konstitutionalismus und gehen damit weit über die Kurzsichtigkeit moderner Politik hinaus. Den Zusammenbruch spanischer Banken zu verhindern, mag aktuell Priorität haben. Erfordert diese kurzfristige Hilfe jedoch radikale Veränderungen im Verhältnis zwischen Bürger und Staat, ist es nur richtig und gerecht, dass die Verfassungsmäßigkeit solcher Manöver festgestellt wird.
Für Europas Top-Entscheider ist dies ein höchst ärgerliches Verfahren. Sie sind es gewöhnt, mit einem Federstrich Hunderte von Milliarden bereitzustellen. Sie sind es nicht gewöhnt, der Allgemeinheit die Rechtmäßigkeit ihrer komplizierten Transaktionen zu erklären. Sie sind auch nicht bereit - oder vielleicht schlicht nicht in der Lage -, ihre Handlungen Parlamentariern zu erläutern, geschweige denn ihren Staatsvölkern. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind sie nun genau dazu gezwungen.
In der Gerichtsverhandlung am Dienstag prallten die Welt der Politik und die Welt des Rechts aufeinander. Auf der einen Seite stand Finanzminister Wolfgang Schäuble mit der Warnung, Verzögerungen in der Ratifizierung des ESM-Vertrages könnten schwere Folgen für die Volkswirtschaften haben. Auf der anderen Seite betonte Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle, die Verfassung eines Landes gelte auch in Krisenzeiten.
Voßkuhle hat Recht - er hätte es jedoch deutlicher ausdrücken können. Wann, wenn nicht in Krisenzeiten, ist eine Verfassung wirklich von Bedeutung? Eine Verfassung, die nur in einer Schönwetterdemokratie mit einem gleichmäßigen Wirtschaftskreislauf ihre Funktion erfüllt, ist nicht viel wert. Gerade in Krisenzeiten stehen die Fundamente eines Landes auf dem Prüfstand und müssen stabilisiert werden. Hier denkt man wieder an Jeffersons Warnung, unsere tief verankerten Werte nicht für einen ungewissen kurzfristigen Nutzen aufzugeben.
Nach der Katastrophe des „Dritten Reichs“ und des Holocaust gab sich Westdeutschland eine Verfassung, die eine Abkehr von den Prinzipien einer demokratischen Republik praktisch unmöglich machte. Das Grundgesetz enthält in Artikel 79 Absatz 3 eine so genannte „Ewigkeitsklausel“, mit der diese Prinzipien festgeschrieben und Änderungen, die auf ihre Abschaffung zielen, untersagt werden.
Finanzminister Schäuble, selbst Jurist, kennt die Grenzen der Verfassung nur zu gut. Er weiß, dass eine Entleerung der parlamentarischen Demokratie durch die Übertragung von Staatsgewalt an Institutionen wie den ESM nicht ohne weiteres mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen ist. Sie würde nahezu mit Sicherheit dem Artikel 79 widersprechen. Zudem würde sie auf jeden Fall langwierige Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit sich bringen, in denen die Rechtmäßigkeit jedes einzelnen Eurorettungsplans beurteilt werden müsste.
Allerdings weiß Schäuble auch, dass es im Grundgesetz ein Schlupfloch gibt, mit dem sich die Dauer der Ewigkeit verkürzen ließe.
Nach Artikel 146 GG „verliert [das Grundgesetz] seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ Würde eine neue Verfassung entworfen und in einem Volksentscheid zur Abstimmung gestellt, könnten die in das Grundgesetz eingebauten Schutzmechanismen überwunden werden. Eine Beseitigung der Grundsätze der Demokratie, eine Beschneidung der Befugnisse des Verfassungsgerichts, eine Verankerung der dauerhaften Verlagerung von Souveränität auf die EU und plötzlich wären alle Maßnahmen, über die das Gericht derzeit zu befinden hat, automatisch rechtmäßig. Da verwundert es wenig, dass Schäuble vor kurzem die Möglichkeit einer Volksabstimmung über eine neue Verfassung zur Sprache brachte.
Ob das deutsche Volk tatsächlich das Grundgesetz aufgeben würde, das ihm im Großen und Ganzen im Laufe der Jahrzehnte gute Dienste geleistet hat, ist fraglich. Noch ungewisser ist es, ob das Volk dem zustimmen würde, damit mehr Geld und mehr Macht an Brüssel, Athen oder Madrid übertragen werden können. Wenn man Meinungsumfragen Glauben schenken darf, scheint unter den Deutschen dazu kaum Bereitschaft zu bestehen. Und das ist verständlich: Warum sollten sie sich auch mit Begeisterung ihre demokratischen Grundrechte beschneiden lassen, um Staatsschulden anderer Länder zu übernehmen?
Umso wichtiger wird das gegenwärtige Gerichtsverfahren. Sollte das Bundesverfassungsgericht nun die umgehende Unterzeichnung der neuen Euroverträge durchkreuzen und sollte es schließlich diese Maßnahmen für verfassungswidrig erklären, würde das praktisch das Ende der Schuldenvergemeinschaftung und wahrscheinlich auch das Ende des Euro in seiner derzeitigen Form bedeuten.
Für diejenigen Deutschen, die ihre Demokratie behalten wollen, die unverändert an einem scheinbar antiquierten Glauben an die nationale Souveränität festhalten und die die gefeierten Werte ihrer Verfassung nicht für den zweifelhaften Nutzen eines Marsches in einen europäischen Superstaat aufgeben wollen, könnte das Bundesverfassungsgericht die letzte Hoffnung sein.
Lässt das Gericht jedoch diese jüngsten Gesetze passieren, könnte sich die Übertragung der Souveränität von den nationalen Regierungssitzen auf europäische Bürokratien tatsächlich als unumkehrbar erweisen.
Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.
‘To Brussels for eternity?’ erschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 12. Juli 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).