Oliver Marc Hartwich, Gastautor / 10.06.2012 / 23:13 / 0 / Seite ausdrucken

An der deutschen Schuld wird Europa nicht genesen

Die Verbindung zwischen dem Holocaust und der europäischen Krise zu analysieren, ist bei weitem interessanter, als die Krise zu bewältigen - jedenfalls für einen Deutschen. Während der übrige Kontinent dem monetären Abgrund entgegentaumelt, würden die Deutschen offenbar lieber eine weitere Debatte über ihre historische Schuld führen.

Daran ist nur Thilo Sarrazin schuld – schon wieder. Der ehemalige Bundesbankdirektor und frühere Berliner Finanzsenator, der vor zwei Jahren mit seinen Ansichten über Zuwanderung und Multikulturalismus Empörung hervorrief, hat gerade einen weiteren Wälzer vorgelegt. Der Titel: „Europa braucht den Euro nicht“.

Die Erwartungen waren hoch, das Buch stand schon Wochen vor der Veröffentlichung an der Spitze der deutschen Amazon-Bestsellerlisten und ist mit einer Auflage von 350.000 Exemplaren auf eine skandalhungrige Leserschaft vorbereitet. Wer aber eine euroskeptische Schmährede erwartet hatte, erlebt eine Enttäuschung. Sarrazin liefert eine trockene wirtschaftswissenschaftliche Abhandlung, die vor Forderungen nach radikalen Lösungen wie etwa einer Aufgabe der Währungsunion zurückschreckt.

Im öffentlichen Diskurs ist Sarrazin jedoch eine so polarisierende Figur, dass ein einziger Satz aus 464 Seiten für seine Gegner ausreichte, das Buch und seinen Autor zu verdammen. Dieser Satz stammt aus einer Passage, in der er die deutschen Eurobond-Befürworter verspottet als „getrieben von dem sehr deutschen Reflex, wonach die Buße für Holocaust und Weltkrieg erst endgültig getan ist, wenn wir alle unsere Belange, auch unser Geld, in europäische Hände gelegt haben.“

Politiker aller Parteien, darunter auch Finanzminister Wolfgang Schäuble, äußerten ihren Abscheu gegen die Vorstellung, Deutschlands Haltung gegenüber dem Euro habe irgendetwas mit der beschämenden Vergangenheit des Landes zu tun. Sarrazin, behaupteten sie, missbrauche den Holocaust zur Rechtfertigung seiner euroskeptischen Positionen – oder, noch schlimmer, um die Verkaufszahlen seines Buches zu steigern. Kein aufrechter Demokrat solle sich noch zusammen mit Sarrazin in eine Talkshow setzen, äußerte ein sozialdemokratischer Hinterbänkler in einer Boulevardzeitung.

Vielleicht fiel die Empörung nur deshalb so heftig aus, weil Sarrazin hier Salz in eine sehr deutsche Wunde streute. Von der polemischen Überzeichnung abgesehen, ist das, was er sagt, eine recht genaue Zusammenfassung der deutschen Europapolitik der Nachkriegszeit. Die aus den deutschen Sünden der Vergangenheit gelernte Lektion bestand stets in der festen Anbindung Deutschlands an Europa. Von Konrad Adenauer bis Angela Merkel hatten die deutschen Bundeskanzler diese Staatsräson internalisiert. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, trennten sie sich zur Erhaltung von Frieden und Einigkeit in Europa gerne von Geld und Macht.

Sarrazin wies nun in der ihm eigenen klarsichtigen Art darauf hin, dass eine solche Begründung im währungspolitischen Umfeld abwegig ist. Ja, Deutschland trägt wegen des nationalsozialistischen Völkermords eine schreckliche historische Schuld, sagt er. Aber kann das jemals ein hinreichender Grund dafür sein, dass Deutschland die Staatsschulden seiner europäischen Nachbarn schultern sollte? Sarrazins Antwort ist ein klares ‘Nein’. Die Geschichte dürfe keine Ausrede für schlechte Wirtschaftspolitik sein. Statt dessen empfiehlt er eine Rückkehr zur geldpolitischen Orthodoxie der Bundesbank und die Durchsetzung der Europäischen Verträge, angefangen mit dem „Bailout“-Verbot des Maastrichter Vertrages.

Die Diskussion, die Sarrazin in Deutschland ausgelöst hat, zeigt, dass das Land zwischen zwei unvereinbaren Positionen hin- und hergerissen ist. Auf der einen Seite steht das alte Nachkriegsparadigma, Deutschland könne es sich aus politischen und historischen Gründen nicht leisten, seine eigenen Positionen allzu lautstark zu verkünden. Ein Beispiel dafür ist die Aussage von Kanzlerin Merkel: „Europa scheitert, wenn der Euro scheitert.“ Auf der anderen Seite steht ein zunehmendes Unbehagen bei der Übernahme von immer mehr Verantwortlichkeiten und immer höheren Verbindlichkeiten für andere Länder; dies ist zum Beispiel am Erfolg von Sarrazins Buch erkennbar. Meinungsumfragen zufolge ist Deutschland in dieser Frage nahezu geteilt.

Vielleicht ist aus einigem Abstand zu Deutschland besser zu erkennen, wohin das führt. Letzte Woche vertrat Daniel Hannan, britisches Mitglied des Europaparlaments, in einer Veranstaltung der New Zealand Initiative in Auckland (Video hier) die Ansicht, die Deutschen würden schließlich noch erkennen, dass sie ihre Europolitik nicht länger von ihrer historischen Schuld bestimmen lassen könnten. Letztlich, so prognostizierte Hannan, würden andere europäische Länder ohne Schuldkomplex – wie etwa die Niederlande, Finnland und Luxemburg – ständig wachsende Zusagen zu Eurorettungsaktivitäten nicht mehr unterstützen. Damit würde Deutschland mit seinem Einsatz für eine Kombination aus Sparpolitik und Transferunion praktisch isoliert dastehen.

An diesem Punkt, so Hannan, sei das Spiel zu Ende. Es sei schlicht nicht vorstellbar, dass die Deutschen künftig Europa ganz allein retten würden.  Davon abgesehen zeigte sich Hannan überzeugt, dass die Kriegsschuld für eine jüngere Generation von Deutschen kein überzeugendes Argument mehr sei, Griechenland, Irland oder Portugal unter die Arme zu greifen. „Der Gedanke, Deutschland würde wieder in Polen einmarschieren, sobald es diese Länder nicht mehr unterstützt, ist kompletter Unsinn“, spottete Hannan mit Blick auf das Schuldbewusstsein in der deutschen Politik.

Möglicherweise wird eine Richtungsänderung der deutschen Europapolitik einen viel trivialeren Auslöser haben als historische, philosophische oder politische Debatten. Letztlich könnte es einfach um Geld gehen.

In den letzten drei Jahren ist Deutschland mit der Eurokrise nicht allzu schlecht gefahren. Da sich das Land im stillen Auge des Euro-Hurrikans befindet, hat es eine Periode kräftigen Wirtschaftswachstums erlebt, gefördert durch einen günstigen Wechselkurs und extrem niedrige Zinsen. Letzte Woche konnte das deutsche Finanzministerium sogar 2-jährige Anleihen zum Nullsatz verkaufen.

Die Eurokrise hat Deutschland nicht viel gekostet. Die geleisteten Bürgschaften sind enorm hoch, doch bisher mussten die Deutschen für das Engagement ihres Landes für Europa nichts ausgeben - im Gegenteil. Kein Wunder, dass die Deutschen sich noch nicht für eine radikale Richtungsänderung ihres Verhältnisses zu Europa aussprechen.

Was würde jedoch geschehen, wenn eine der Bürgschaften Deutschlands gegenüber Griechenland, dem EFSF oder der Europäischen Zentralbank in Anspruch genommen würde? Ein plötzlicher Abfluss von Milliarden Euro deutscher Steuergelder würde unausweichlich zu einem Umdenken in der traditionell eurofreundlichen Politik des Landes führen.

In einem Punkt hat Daniel Hannan Recht: Wenn das Projekt Euro scheitert und die Haftung Deutschlands für die Schulden des Kontinents offensichtlich wird, würden die Deutschen nicht urplötzlich wieder in ihre alte Gewohnheit zurückfallen, in andere Länder einzumarschieren. Statt dessen werden sie aber möglicherweise gegen ihre eigenen eurofreundlichen Parteien rebellieren, die ihnen das eingebrockt haben.

Der politische Backlash wäre dann sicherlich unangenehmer als der sanfte Spott eines ehemaligen Bundesbankdirektors über eine wirtschaftspolitisch naive politische Klasse.

Dr. Oliver Marc Hartwich ist Executive Director der The New Zealand Initiative.

German guilt won’t save Europeerschien zuerst in Business Spectator (Melbourne), 31. Mai 2012. Aus dem Englischen von Cornelia Kähler (Fachübersetzungen - Wirtschaft, Recht, Finanzen).

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