Vera Lengsfeld / 04.09.2021 / 14:00 / Foto: Imago / 3 / Seite ausdrucken

„Ich denke auf eigene Rechnung“

Deutschland hat nicht nur Hidden Champions in der Wirtschaft. Es gibt sie auch in der Literatur. Zu besichtigen und erleben bei den Gesprächen auf Schloss Ettersburg. Mitsamt der Einsicht: Wir brauchen die Anderen.

Es gibt viele Gründe, das Schloss Ettersburg bei Weimar zu besuchen. Seit diesem Jahr ist einer dazugekommen. Der Schlossgarten von Goethes Lieblingsaufenthalt wurde aufwendig restauriert und präsentiert sich jetzt im Gewand der Goethezeit, samt wunderbar duftenden historischen Rosen. Aber Hauptgrund bleibt das von Peter Krause organisierte künstlerische Programm, das seit Jahren Schauspieler, Musiker, Literaten, Philosophen und ihr Publikum magisch anzieht. Dazu gehören die Ettersburger Gespräche, die in der Regel sonntags um 16 Uhr stattfinden. Letzten Sonntag wurden sie nach anderthalbjähriger Corona-Zwangspause unter dem Motto „Weltlosigkeit“ wieder aufgenommen.

Zu Gast waren Uwe Tellkamp und Christoph Schmitz-Scholemann, der 22 Briefe von Horaz neu übersetzt hat. Und was für eine Übersetzung! Deutschland hat nicht nur Hidden Champions in der Wirtschaft. Es gibt sie auch in der Literatur. Einer davon ist Schmitz-Scholemann, ein ehemaliger Arbeitsrichter, also ein Humorist (Tellkamp), von der Neigung aber Altsprachler, der sich in seiner Freizeit literarischen Übersetzungen widmete. Seine Horaz-Übersetzung erschien unter dem Titel: „Und zum Glück fehlt mir nichts – nur Du“.

Horaz wollte im letzten Drittel seines Lebens etwas schreiben, das „den Armen ebenso nützt wie den Reichen, etwas, worüber sich niemand, ob alt oder jung, ohne Schaden hinwegsetzt“. Gewählt hat er die Form des literarischen Briefes, der ihm die besten, privatesten Ausdrucksmöglichkeiten bot. Verfasst sind dieses Briefe in Hexametern. Es gibt zahlreiche Übersetzungen, auch von Wieland und Herder, die sich aber mehr um die Hexameter als um die Leser kümmerten. Schmitz-Scholemann wollte es anders machen. Er war überrascht gewesen vom „unverbrauchten, humorvollen Ton und dem großstädtischen Tempo dieser Gedichte“, die ihn brüderlich ansprachen. Diesen Ton wollte er den Lesern vermitteln. Das ist vollkommen gelungen.

Wie soll man leben?

Horaz' Briefe lesen sich, als wären sie gestern abgeschickt. „Krieg an den Rändern des Imperiums, billige Arbeitskräfte aus dem Osten drängen in die Metropole. Unermesslicher Reichtum der Eliten. Empfängnisverhütung, Kochbücher und Schminke haben Konjunktur, die Geburtenrate sinkt, die Scheidungsrate steigt. Die Massen rennen in die Stadien und brüllen vor Begeisterung, wenn Männer aus fremden Ländern einander bekämpfen. Die Gerichte werden mit Klagen überschwemmt, die Redekunst der Anwälte ist exquisit […] Ingenieure verfeinern die Heizungstechnik, den Straßenbau, die Waffen. Wen mitten in den lukullischen und venerischen Orgien die Langeweile anfällt, dem helfen öffentliche Spaßvögel und Philosophen, die ihren Zynismus für teures Geld unters Volk bringen“. Rom, wenige Jahrzehnte vor der Geburt Christi, oder heutige Zeiten? Diese Skizze römischen Lebens liest sich wie eine aktuelle Zustandsbeschreibung.

Horaz will seinen Zeitgenossen vermitteln, wie sich der Mensch in solchen Verhältnissen verhalten kann. Wie soll man leben? Zu allen Zeiten haben Menschen an den sie umgebenden Zuständen oder ihrer Unfähigkeit gelitten. Horaz ist Optimist: „Ob Jähzorn Dich quält, oder Geiz, ob Du ein Hurenbock bist, ein Trunkenbold oder ein Faulpelz – niemand ist so verwildert, dass er sein Leiden nicht mildern könnte. Nur muss er bereit sein, zu lernen.“

Horaz plädiert also für ein selbstbestimmtes Leben, ohne die Erwartung, dass der Staat alles richten soll. Das ist eine wichtige Botschaft für unsere Zeit, in der die Meinung allgegenwärtig ist, dass man die Vorstellung vom richtigen Leben besser nicht dem Einzelnen überlassen sollte. Im Gegenteil, es herrscht die Idee, wie Schmitz-Scholemann in seinem Nachwort schreibt, dass dies eine Sache von Verordnungen, ja Programmierungen ist, die den Einzelnen nicht mehr unterschieden lassen soll, was er will. Er zitiert einen Soziologen, der im Radio äußerte: „Die Menschen müssen das, was sie sollen, auch wollen können.“ Das ist ein Plädoyer dafür, dass Politiker, Beamte, externe Berater festlegen, wie ein richtiges Leben auszusehen hat. Gegen diese Zumutung hilft die Lektüre von Horaz.

Zeitlose Orientierung für eine gelungene Existenz

Was der auf seinem Landgut, dem von Maecenas, an den der erste Brief gerichtet ist, gesponsort wurde, aufschreibt, ist eine zeitlose Orientierung für eine gelungene Existenz. Entgegen dem eben zitierten Leben nach Gebrauchsanweisung kommen Horaz' Ratschläge als Gesprächsangebote daher, nicht als Direktiven. Um „Haltung und wenn möglich Heiterkeit zu bewahren, braucht der Mensch keine tausend Steuertricks, keine Tofu-Schnitzel und keine disruptiven Narrative. Er braucht einen anderen Menschen, um mit ihm zu reden. Zum Glück fehlt Horaz nichts, außer ein Gegenüber. Wir Corona-Maßnahmen-Opfer wissen, dass er recht hat. Wir brauchen die Anderen. Horaz lädt ein: Wenn Du Lust hast, zu lachen, komm zu Besuch.“

Diese Botschaft hat das Publikum des Ettersburger Gesprächs sehr beschwingt, wie an den lebhaften Diskussionen nach der Veranstaltung zu merken war. Jeder ist bereichert nach Hause gegangen mit dem frohen Wissen, dass die nächsten Ettersburger Gespräche bereits fest geplant sind.

Hinweis: Morgen, am 5. September kommt Monika Maron, über alle Gespräche kann man sich hier informieren.

Foto: Imago

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lutzgerke / 04.09.2021

“Wer die Alten liest, bleibt ewig jung.” Marie von Ebner-Eschenbach; “Ja, wenn der Erdball krachend einstürzt, treffen die Trümmer ein furchtloses Herz.” Horaz / Was ist Satire? Satire ist Sittenschilderung. Der Name „Satire“ stammt von den Römern und bedeutete zunächst „Vermischte Gedichte“. Bei ihrer angeborenen Neigung zu scharfer Beobachtung und derbem Spott leisteten die Römer ihr Bestes. Horaz verstand es, mit graziösen Plaudereien „lächelnd die Wahrheit zu sagen“. Schärfer wird die Satire bei Persius, er dozierte schulmeisterlich, der schlimmste jedoch war Juvenal, der sich voll Erbitterung über die Zustände seiner Zeit entrüstete. Es gab noch andere Formen der Satire, aber die wichtigsten seien hiermit genannt. Juvenal verallgemeinerte grenzenlos, seine pessimistische Grundhaltung erkannte selten etwas an, insbesondere gegen seine formlose Satire gegen die „Weiber“. Die harmlosesten Torheiten, wie etwa Putzsucht, die uns sonst als Vorzüge erschienen würden, etwa weibliche Belesenheit, den schwersten Verbrechen wie Giftmord oder sadistische Grausamkeit gleichgesetzt: „Kaum einen Rechtsstreit gibt’s, wo nicht ein Weib den Prozeß betreibt.“ / Weil ich nun grundsätzlich der Meinung bin, daß das, was man uns hier als Kultur aufzutischen gedenkt, nichts anderes ist als der Wiedergänger des Römischen Reichs, bin ich auch der Meinung, daß wir sehr wohl das Recht dazu haben, den Graben zu vertiefen als die Nachfahren Juvenals. / „Wer in die Öffentlichkeit tritt, hat keine Nachsicht zu erwarten und keine zu fordern.“ Marie von Ebner-Eschenbach / In diesem Fall der Fälle wiederhole ich mich zum Teil.

Gerhard Hotz / 04.09.2021

Politiker, Beamte und externe Berater können noch lange festlegen, wie ein richtiges Leben auszusehen hat. Sie werden mit ihren diesbezüglichen Bemühungen scheitern. Die Motivation zur eigenen Veränderung muss von innen kommen. Nicht einmal den eigenen Ehepartner oder die eigenen Kinder kann man verändern. Auch die Afghanen haben sich von den Amerikanern nicht verändern lassen.

Heiko Stadler / 04.09.2021

Soziologe: „Die Menschen müssen das, was sie sollen, auch wollen können.“ Dazu kommt mir ein Experiment von einem Hirnchirurgen in den Sinn: An der geöffneten Schädeldecke eines Patienten bei vollem Bewusstsein führte er Elektroden ein. Sobald er Strom anlegte, bewegte der Patient den Arm. Der Chirurg fragte den Patienten, ob ihm bewusst sei, dass er den Arm bewegt. Der Patient sagte, dass er (bei jedem Stromstoß) den WUNSCH hat, den Arm zu bewegen. Das ist doch eine geniale Entdeckung! Man baut allen Menschen einen ferngesteuerten Chip mit Elektroden im Gehirn ein und je nachdem welcher Knopf in Berlin oder Brüssel gedrückt wird, haben die Menschen den Wunsch zu jubeln und klatschen, aus dem Fenster zu springen oder das Haus des kritischen Nachbarn anzuzünden. . .  . Selbst denken ist Schnee von gestern, die heile Welt kommt per Knopfdruck aus dem Chip!

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