„Die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln“ ist kein Sprichwort, das vor Veralterung geschützt ist. Seine moderne Fortschreibung in dem Sinne, dass schwer Beschulbare die klügsten Beiträge zur Künstlichen Intelligenz liefern, würde nicht einmal Heiterkeit hervorrufen.
Auch in der Landwirtschaft selbst kann sich niemand mehr auf bloßes Glück verlassen. In der dörflichen Schulzeit des 1943 geborenen Autors wurden die Bauernsöhne noch beneidet, weil ihnen die Väter das Schulschwänzen nachsahen oder gar ermöglichten, solange sie auf dem Feld mit anpackten. Heute errechnen Computer „per Algorithmus Regenwahrscheinlichkeiten und Bodensensoren ideale Erntetermine. Drohnen überwachen Felder. Smartphones informieren die Bauern über die ‚Vitaldaten‘ ihrer Tiere im Stall. [...] Mehr als jeder zweite Landwirt (53 Prozent) nutzt digitale Lösungen.“
Auch unterhalb der Algorithmen Künstlicher Intelligenz können – etwa im Kamera- oder Telefonbau – nur solche Nationen noch mithalten, deren Menschen über exquisite kognitive Fähigkeiten verfügen. Als Deutschland bei diesen Industrien im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts seine Weltführerschaft verliert, ist man nicht gescheit genug, die Gründe dieses Verlusts zu verstehen. Japaner – so hieß es stattdessen lange – seien nicht innovativ genug, um eigenständig solche Produkte zu entwickeln.
Aus einer Verbindung von Industriespionage und geringen Löhnen sei es dann ein Leichtes gewesen, die Weltmärkte zu erobern. Doch Südasien oder Lateinamerika, Afrika oder Nahost werben mit noch geringeren Löhnen. Warum haben diese Territorien vor einem halben Jahrhundert nicht ebenso nach den deutschen Spezialitäten gegriffen? Warum tun sie es auch heute nicht, obwohl ihre Lohnvorteile noch gewachsen sind? Warum nehmen Spanien oder Griechenland ihre Chance nicht wahr, obwohl ihre Löhne weit unter den japanischen liegen? Die 350 Milliarden Euro etwa, die seit 2010 als Geschenk und Vorzugskredite in die Griechenlandrettung fließen, sollen ausdrücklich die Rückkehr der Hellenen auf die Weltmärkte sicherstellen. Ungeachtet der knapp 100.000 Euro Fremdhilfe pro Arbeitskraft fallen die – ohnehin niedrigen – Hightech-Exporte allein zwischen 2016 und 2017 noch einmal um 15 Prozent.
Angriff auf die Weltmärkte
Nur wer kapiert, kann auch kopieren und dabei das Stibitzte gleich so verbessern, dass der Bestohlene so deutlich übertroffen wird, dass er die Aufholjagd nicht mehr bewältigt. Wirklich schlecht steht es um all die Wettbewerber, die bei der Industriespionage nicht mithalten können, weil ihnen die geistigen Fähigkeiten zum Stehlen hochkarätigen geistigen Eigentums nicht zu Gebote stehen.
Im März 1970 bringt Time Magazine eine Titelgeschichte mit der Schlagzeile „Toward the Japanese Century“. Osaka veranstaltet die erste Weltausstellung im Land der aufgehenden Sonne. Man registriert, wie der Inselstaat ein Vierteljahrhundert nach den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki seinen Angriff auf die Weltmärkte vorantreibt, aber man versteht ihn nicht.
Unter den 3,7 Milliarden Erdbewohnern von 1970 gibt es nur 104 Millionen Japaner. Gleichwohl sagt Thomas Zengage noch 1989 in „The Japanese Century“ voraus, dass die ökonomische Führung des 21. Jahrhunderts in Nippons Hand liegen werde. Noch im selben Jahre 1989, am 29. Dezember, erreicht der Nikkei 225 mit fast 39.000 Punkten seinen welthistorisch höchsten Stand. 1991 ist er auf 23.000 abgestürzt. Die Japan-Besessenheit erlischt.
Die Wissenschaftler sind blamiert. Die zentralistische Industriepolitik durch das MITI-Ministerium, mit der westliche Wissenschaftler das „Wunder“ gerne erklärt hatten, verliert ihren Einfluss. Japans Anteil am Weltsozialprodukt fällt von 17,9 (1994 mit 2,3 Prozent der Weltbevölkerung) auf 6,6 Prozent (2016 mit 1,7 Prozent der Weltbevölkerung). „Verlorene Jahrzehnte“ werden zum negativ besetzten Dauerschlagwort für das Inselreich und alle, die seinem Schicksal nachfolgen könnten.
Die besten Kameras kamen 2019 aus Japan
Groß ist damals die Schadenfreude über den Crash der Tokioter Börse. Die Asiaten erweisen sich als fehlbar, glaubte man. Entsprechend erhofft man sich auch heute insgeheim viel von anstehenden Finanzkrisen in China zugunsten der eigenen Konkurrenzfähigkeit. Die werden kommen und sich auch wiederholen, weil Krisen zur Eigentumsökonomie gehören wie Zins und Geld. Doch bei genauerem Hinschauen liegt Japans Effektivität in der industriellen Produktion – auf die weltweit rund zwei Drittel des Forschungsaufwands entfällt. 2016 immer noch auf dem zweiten Platz hinter Deutschland, das allerdings beim Einfluss seiner Innovationen auf die globale Industrieproduktion um 50 Prozent übertroffen wird. Das verweist darauf, dass die japanische Forschung und Entwicklung disruptiver und damit zukunftsorientierter ist.
Da Krisen alle treffen, ist es aufschlussreicher, sich auf die Potenzen zu konzentrieren, mit denen es nach einer Krise wieder aufwärts gehen kann. Erfindungsgeist, der zuvor da ist, sollte – solange ein demografischer Kollaps ausbleibt – auch anschließend noch zur Verfügung stehen. Dasselbe gilt für Zähigkeit und Fleiß. Wo diese Komponenten zuvor stärker sind als bei der Konkurrenz, werden sie es auch danach sein. Hiroshima und Nagasaki waren schneller wiederaufgebaut als viele flächenbombardierte Städte in Deutschland.
So kann nicht überraschen, dass die besten Kameras auch 2019 immer noch von japanischen Unternehmen entworfen werden, obwohl man sie überwiegend in China bauen lässt. Kein Konkurrent – mit der Ausnahme anderer Ostasiaten – hat sich diesbezüglich Japans langjährige Finanzkrise zunutze machen können.
Auch nach ökonomischen Krisen bleibt die Cognitive Ability intakt. Im Gegenzug machen hingegen Zölle auf asiatische Waren die westlichen Hersteller nicht klüger. Dasselbe gilt für das Verbot des Aufkaufens westlicher Firmen durch ostasiatische. Das empfehlen schon damals gegenüber Japan nicht nur Politiker, sondern auch begabte Gelehrte. Gegen China wiederholt sich das etwa mit Jonathan Holslags Werk The Silkroad Trap. How China’s Trade Ambitions Challenge Europe. Der aktuelle Versuch, Chinas Patente-Weltsieger Huawei von amerikanischen und europäischen Lieferanten abzuschneiden, mag beim Publikum gut ankommen. Westliche Firmen wie Google aber fürchten, heute einen guten Kunden zu verlieren, der morgen die bisher bei ihnen gekauften Produkte in höherer Qualität und zu besseren Preisen der gesamten Menschheit anbieten wird. Sie verstehen, dass harte Bandagen zum Einhalten der Spielregeln Chinas großes Überholmanöver bestenfalls verlangsamen, nicht aber beenden kann.
Die Kompetenz wird kaum thematisiert
Aufkaufabsichten mögen Eigentümer und Belegschaften beunruhigen. Wirkliche Probleme aber haben Firmen, die fürs Aufkaufen oder Ausspionieren nicht mehr interessant genug sind. Ihnen fehlt offensichtlich das Talent zum „Gegendiebstahl“ oder zum Ausweichen in voranweisende Technologien in anderen Gebieten. Wären sie dazu imstande, würden sie ja das durch Ostasiaten Gestohlene und für den Konkurrenzsieg umgehend Verbesserte ihrerseits stehlen, weiter verbessern und sich damit für eine neue Runde im ökonomischen Rennen attraktiver machen. Wo man das nicht kann, wird die Übernahme durch kognitiv Überlegene keineswegs zu einer Drohung, sondern zur letzten Hoffnung, weil sie Talentpools fürs Überleben eröffnet, die bei nationalistischer Blockade nicht zur Verfügung stünden.
Ein hohes Durchschnittsalter der Übernehmenden ist in sich genauso wenig ein Problem, wie Jugendlichkeit als solche einen Vorteil darstellt. Auch das lässt sich an Japan belegen. Seine Beständigkeit auf dem dritten Rang der Wirtschaftsmächte (nach USA und China) wirkt noch bemerkenswerter, wenn man sich bewusst macht, dass seit 1970 die Weltbevölkerung und damit die potenzielle Konkurrenz um fast vier Milliarden Menschen zugelegt hat. Damals europäische Spitzenindustrien mit nur einem von fünfunddreißig Weltbürgern zu übernehmen, bleibt sensationell genug. Sie heute mit nur einem von siebzig souverän verteidigen zu können, sollte deshalb noch neugieriger auf die Gründe solcher Erfolge machen. Die sich darin ausdrückende Kompetenz aber wird kaum thematisiert.
Dabei stehen die Erfolge bei Kameras oder Tonträgern nicht isoliert. Die drei besten Hybrid-Automodelle der Welt kommen 2019 aus Japan. Konkurrenz hat man vor allem von Korea zu fürchten, nicht jedoch aus Deutschland oder irgendeinem anderen westlichen Land. Sechs japanische Anbieter stehen 2016 für gut drei Viertel der global installierten Industrieroboter. Das erklärt Japans Vorsprung beim internationalen industriellen Einfluss gegenüber Deutschland, das mit KUKA (Augsburg) 2016 seine einzige Roboterfirma von Rang an einen chinesischen Käufer abtritt. Nicht zuletzt, um so an kompetentes Personal für weiteres Wachstum zu gelangen.
Bei den besonders streng gesiebten Patentanmeldungen nach dem Patent Cooperation Treaty (PCT) kommen 2018 fast 50.000 Erfindungen aus Japan, aber nur knapp 20.000 aus Deutschland. Bei zwei Dritteln der japanischen Bevölkerung (82 zu 126 Millionen) hätten die Deutschen für einen Gleichstand aber 33.000 Anmeldungen benötigt. Was die Patentmenge signalisiert, bestätigen auch die Unternehmen. Zu den fünfzig patentstärksten Einzelfirmen des Jahres 2018 gehören sechzehn japanische, aber nur fünf deutsche, die fürs Gleichziehen mit Japan jedoch zwei Drittel davon beziehungsweise zehn bis elf benötigen würden.
Unterschiedliche Einwanderungspolitiken
Dabei ächzt Japan unter einem höheren Durchschnittsalter als selbst die Bundesrepublik. Beim Altenquotient (Verhältnis der Personenmenge im Ruhestandsalter zur Personenmenge im Erwerbsalter) liegt Japan 2016 mit 45 Prozent sogar dramatisch vor Deutschland mit 33 Prozent. Warum können die Deutschen mit dem so schnell vergreisenden Inselvolk dennoch nicht mithalten? Warum endet das Volk der Dichter und Denker 2017 unter den bestgebildeten Erwachsenen der Welt nur auf Platz sieben, während Japan die Nummer eins darstellt?
Dabei ist es doch Deutschland, das erstmals in der Geschichte die damalige industrielle Führungsnation, Großbritannien also, in einem hundertjährigen Rennen aus Nachahmungen und innovativen Kühnheiten vom Sockel stößt. In den strategisch zentralen chemischen und metallurgischen Industrien wird von der preußischen Eigentums-Installierung (Stein-Hardenberg 1807–1811) bis 1907 ein Vorsprung von 25 bis 50 Prozent herausgearbeitet. Daten über die kognitive Kompetenz der Deutschen aus jener Zeit liegen nicht vor. Aber für das Jahr 1909 stammen 45 Prozent der in den Chemical Abstracts (1907 in den USA gegründet) referierten Studien aus deutschsprachigen Zeitschriften.
Die Deutschen überholen den britischen Rivalen trotz geringerer politischer Freiheit. Doch die Gesetze des Eigentums, das nur durch Innovationen, nicht aber durch Gewalteinsatz gegen Bankrott und Vollstreckung verteidigt werden kann, verinnerlichen sie umgehend. Womöglich liegen sie damals bei der Kompetenz auf der aktuellen Höhe der Schweizer und Liechtensteiner, die als einzige Europäer die Ostasiaten bei den Schulleistungen zwar nicht übertreffen, bei PISA 2015 in Mathematik aber direkt hinter ihnen und vor dem Rest der übrigen Welt rangieren.
Es sind unterschiedliche Einwanderungspolitiken, die seit den 1960er Jahren die Schere zwischen den Deutschsprachigen in Berlin und Wien hier sowie Bern und Vaduz dort immer weiter öffnen. Entsprechend bleiben auch die Muslime der Schweiz (fünf Prozent der Bevölkerung) so unauffällig wie die übrigen Eidgenossen. Unter allen Religionsgruppen findet man sie sogar am seltensten beim Gottesdienst, dem 46 Prozent gänzlich fernbleiben und nur 12 Prozent einmal pro Woche nachkommen.
Dies ist der erste Teil einer zweiteiligen Serie.
Lesen Sie hier den zweiten Teil dieses Beitrages
Dies ist ein Auszug aus „Wettkampf um die Klugen“ von Gunnar Heinsohn, 2019, Zürich: Orell Füssli Verlag, hier bestellbar.
Professor Dr. Gunnar Heinsohn, geboren 1942, ist ein deutscher Wirtschaftswissenschaftler und Soziologe, emeritierter Professor für Sozialpädagogik an der Universität Bremen und freier Publizist.