Mein Urgroßvater, 1863 geboren, ein Mann, der es mit einem kleinen Drogeriegeschäft und drei Mietshäusern aus einer Familie von Köhlern zu relativem Wohlstand gebracht hatte, legte seine gesamten Rücklagen für die Alterssicherung in Kriegsanleihen des deutschen Kaiserreiches an. Ich weiß nicht, was meinen Urgroßvater dazu bewog. Er war schon älter, als meine Oma geboren wurde und starb, als sie noch ein Kind war. Sie erzählte nie viel von ihm.
Vielleicht war er überzeugt vom Sieg des deutschen Reiches. Vielleicht sah er es als seine patriotische Pflicht an. Vielleicht konnte er sich dem gesellschaftlichen Druck der Propaganda nicht entziehen („Wer zeichnen könnte und es nicht tut, der ist ein Streikender, verurteilenswerter noch als jene anderen.“ Frankfurter Zeitung in einem Artikel vom 17. März 1918). Vielleicht war der Berater der Sparkasse Chemnitz einfach sehr geschickt („Klug, vorsichtig und nützlich handelt nur, wer sein ganzes Geld in Kriegsanleihe anlegt.“ Aufruf des Sparkassenverbandes von April 1917).
Die deutsche Kriegsfinanzierung setzte auf das Geld meines Urgroßvaters. Kriegsanleihen sicherten zu einem großen Teil die Mittel für den Krieg, und die Bevölkerung scheint bis zuletzt auf die Sicherheit der Geldanlage vertraut zu haben. Die ersten Anleihen, die aufgesetzt wurden, fanden reißenden Absatz, und noch im letzten Kriegsjahr 1918 konnte der größte Zeichnungserlös von Kriegsanleihen erzielt werden. Kriegsnagelungen fanden allerorts statt. So wurden hunderte von Aktionen bezeichnet, bei denen während des Ersten Weltkriegs gegen eine Spende ein Nagel in ein dafür aufgestelltes hölzernes Objekt eingeschlagen wurde. Vielleicht spendete mein Urgroßvater am 1. Oktober 1915 ein paar Mark und schlug einen Nagel in das Chemnitzer Kriegsmal mit der Überschrift „Vaterlandsliebe“ ein.
Insgesamt beliefen sich die deutschen Kriegsschulden 1918/19 auf rund 164 Milliarden Mark (ungefähr 130 Prozent des BIP, also so viel wie Italien heute) – zum größten Teil finanziert durch die Ausgabe von Kriegsanleihen, die schätzungsweise jeder zweite deutsche Haushalt hielt. Der Erwerb dieser Anleihen war eine Wette auf den Sieg. Die Rückzahlung sollte durch Reparationszahlungen der Besiegten nach Ende der militärischen Auseinandersetzung erfolgen. Bereits 1915 hatte die Reichsregierung festgestellt, dass die enormen Kriegsschulden nicht allein durch die Besteuerung unterlegener Kriegsparteien zurückzuzahlen seien. Man beschloss, in dieser Angelegenheit Stillschweigen zu bewahren, nachdem der Staatssekretär Helfferich eingeräumt hatte, keine Ahnung zu haben, wie man die Schulden nach Kriegsende tilgen solle.
1914 gab man Golddeckung der Banknoten auf
Doch nicht nur bei der Bevölkerung, auch bei der Zentralbank lieh sich das Kaiserreich Mittel für den Krieg. 1914 hatte die Reichsbank die Golddeckung der Banknoten – „Die goldene Bremse an der Kreditmaschine“, wie es Joseph Schumpeter formulierte – aufgehoben. Statt Gold besicherten nun Schuldverschreibungen des deutschen Reiches die Währung. Der Staat verschuldete sich bei der Zentralbank und überließ ihr dafür kurzfristige Reichsschatzwechsel. Das Geld war somit nur noch so viel wert wie das Vertrauen, das man dem Staat entgegenbrachte.
Die Geldmenge stieg, obwohl sie teilweise durch die Ausgabe der Kriegsanleihen abgeschöpft wurde, und auf dem Schwarzmarkt, wo die meisten Konsumgüter nur noch zu beschaffen waren, explodierten die Preise. Mit der Niederlage und der Aussicht auf Reparationszahlungsverpflichtungen drehte sich diese Spirale immer rasanter und vernichtete schlussendlich die gesamte Altersvorsorge meines Urgroßvaters. Im November 1923 waren die 164 Milliarden Mark Kriegsschulden noch 16,4 Pfennige wert.
Nachblickend kann man feststellen, dass mein Urgroßvater bei seiner Alterssicherung eindeutig auf das falsche Pferd gesetzt hat. Wohlgemerkt hätte es wahrscheinlich kaum eine Anlagealternative im isolierten deutschen Kaiserreich gegeben, die 1923 nicht auch gänzlich entwertet worden wären. Aus solch einer wirtschaftlichen Krise kommen die Allerwenigsten unbeschadet heraus.
Der Historiker Frederick Taylor beschreibt, wie im September 1923 der Schriftsteller Maximilian Bern in Berlin seine gesamten Ersparnisse von über 100.000 Mark, die er ein Leben lang zurückgelegt hatte, von seinem Konto abhob und damit genau einen U-Bahn-Fahrschein bezahlte (zum Vergleich: 1906 hatte das durchschnittliche Sparguthaben auf Konten der Sparkassen im deutschen Reich 719 Mark betragen, 100.000 Mark waren also eine beträchtliche Summe). Er machte noch eine letzte Fahrt durch Berlin, um danach in seine Wohnung zurückzukehren, wo er verhungerte.
Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen
Vielleicht hätte mein Großvater mit seinen Kriegsanleihen als Sicherheiten einen Kredit aufnehmen, seine kleine Chemnitzer Drogerie zu einer deutschlandweit operierenden Kette aufbauen und die Schulden für den Gegenwert eines U-Bahn-Tickets zurückzahlen sollen – aber so schlau ist man ja immer erst hinterher. Bis zuletzt, er starb 1935, stand er in seinem Laden. Und dennoch ist er aus heutiger Sicht fast zu beneiden. Zumindest war er nicht dazu gezwungen worden, in Kriegsanleihen zu investieren, und den Nagel in das Chemnitzer Kriegsmal hätte er auch nicht schlagen müssen. Für ihn war relativ klar, wie viel Geld er in die Unternehmung Krieg gesteckt hatte, er wusste, wie viel für ihn auf dem Spiel stand. Das ist heute anders.
Wie hoch der Zinsverlust ist, den Sie durch die Niedrigzinsen zur Rettung des Euro erleiden, kann ich Ihnen nicht sagen. Dass das deutsche Netto-Auslandsvermögens-Einkommen zu den Zinsen, die noch 2007 erzielt werden konnten, heute um 604 Milliarden Euro höher ausfallen würde, sagt Ihnen Hans-Werner Sinn. Unsere politischen Projekte werden nicht über zweckgebundene Anleihen – als solche kann man die Kriegsanleihen bezeichnen – finanziert, sondern über eine allgemeine Staatsverschuldung.
Während mein Urgroßvater noch aus Überzeugung den Krieg finanziell unterstützte, oder zumindest klar vor Augen hatte, mit welchem Betrag und für welches Projekt der Staat bei ihm in der Kreide stand, werden wir heute alle durch die Hintertür zwangsverpflichtet. Als mein Sohn das Licht der Welt erblickte, entfielen als deutscher Bundesbürger auf seinen kleinen Kopf umgehend mehr als 23.000 Euro der aktuellen Staatsverschuldung. Der erste Brief, der bei uns im Briefkasten nach seiner Geburt landete, war keine Glückwunschkarte, sondern seine Steuer-ID.
Die Schulden von heute sind die Steuern von morgen. Niemand kann sagen, auf wieviele Erwerbstätige sich die Schuldenlast verteilen wird, wenn er einmal berufstätig sein wird. Er hält keinerlei Anleihen und dennoch ist seine Altersvorsorge bereits so unsicher wie die seines Ur-Urgroßvaters 1914. Egal ob Energiewende, Eurorettung, oder Migration – das Risiko der Projekte tragen nicht diejenigen, die an deren Rendite glauben, sondern alle. Und auch heute finden haufenweise Nagelungen, nur in abgewandelter Form, statt: Die Spende muss nicht mehr aus eigener Tasche geleistet werden, das gute Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, gibt es heute gratis. So kann ein Flüchtlingsbürge prätentiös einen Nagel in das Kriegsmal auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten einschlagen, für die Spende kommt dann die Allgemeinheit auf.
Der Businessplan der Regierung überzeugt mich nicht
"Es gibt bisher keinen Menschen in Deutschland, der einen Euro weniger bekommt, weil Flüchtlinge zu uns gekommen sind. Wir haben ja nirgends einen Euro gekürzt", sagte Wolfgang Schäuble im ZDF im September 2016. Eine solche Momentaufnahme hat in einer Kosten-Nutzen-Analyse bezüglich eines Investitionsprojekts wenig Bedeutung. Generell nimmt man eine Investition nur dann vor, wenn man davon ausgeht, am Ende mehr Geld zu haben als vorher. Der Barwert aller abgezinsten Nettoerträge über die Lebenszeit der Investition hinweg ist entscheidend. Das Investitionsprojekt mit dem höchsten Barwert wird gewählt. So gehen privatwirtschaftliche Unternehmer vor.
Bei öffentlichen Projekten sind wir, vertreten durch Regierung und Verwaltung, alle Unternehmer. Und aktuell vertreten uns Leute, die solche Sätze, wie den oben zitierten, von sich geben. Von keinem führenden Politiker würde ich eine Vermögens- oder Anlageberatung annehmen, dennoch haben sie alle mein Geld in der Hand.
In einer für einen Ökonomen idealen Welt – mit vollkommenen Informationen – würde jeder zu einem Projekt so viel beisteuern, wie er persönlich bereit ist zu zahlen. Das Problem bei öffentlichen Gütern ist jedoch, dass jeder einen Anreiz hat, hier zu untertreiben. Werden anlässlich der Errichtung einer öffentlichen Parkanlage die Bewohner des Dorfes gefragt, wie viel ihnen anteilig die Nutzung dieser Grünfläche wert ist, wird kaum einer gestehen, dass er plant, seine Sonntage auf der Wiese zu verbringen und zu grillen. Alle werden ihre Nutzung herunterspielen, um möglichst nichts zu diesem Projekt beisteuern zu müssen. Von der Nutzung öffentlicher Güter kann man niemanden ausschließen. Es wird somit immer Trittbrettfahrer geben: Leute zahlen nicht und nutzen das Gut trotzdem. Somit werden öffentliche Güter meist in zu geringen Mengen produziert. Soweit die Theorie.
Die Finanzierung des Ersten Weltkrieges sah sich nicht dieser Unterversorgung gegenüber. Begeistert zeichnete nicht nur mein Urgroßvater in Anleihen. Projekte wie Energiewende, europäische Fiskalunion und offene Grenzen scheinen heute ebenfalls viel Zustimmung zu finden, die Wahlergebnisse zeigen es. Ich glaube nicht, dass diese Investitionen eine besonders gute Rendite abwerfen werden. Nein, ich glaube vielmehr, dass der Barwert dieser Investitionen negativ ist, dass man also mehr hineinbuttert, als man herausbekommt. Man kann dem natürlich entgegnen, dass ein hehres Ziel keinen monetären Gewinn abwerfen muss. Aber auch hier muss ich sagen, nein danke, ich möchte keine Anteile an diesem Projekt erwerben, denn die Ausführung ist dilettantisch. Der Businessplan überzeugt mich nicht. Es kann natürlich absolut sein, dass ich mich irre. Aber ich hätte gerne das Recht auf einen persönlich verschuldeten Irrtum, wie dereinst mein Urgroßvater. Ich würde jedem einzelnen den Gewinn von Herzen gönnen.
Würden Grüne eine Bienenanleihe wagen?
Aktuell tut es nicht weh, ein „guter Mensch“ zu sein. Das Risiko tragen alle, das gute Gefühl hat man allein. Was wäre jedoch, wenn jeder Wähler der Grünen eine Anleihe für einen Migranten zeichnen müsste – die Rendite wäre dann der Nettosteuerbeitrag des Migranten und seiner Nachkommen. Gleichzeitig orderte man mit dem Kreuzchen bei Grün automatisch eine Anleihe für ein staatliches Lastenfahrradwerk, dessen Produkte den innerstädtischen Transportverkehr ersetzen sollen, sowie Anteile an erneuerbaren Energien und an deren staatlichen Subventionen. Natürlich gibt es auch eine Anleihe für „Gendergerechte Sprache“ – wobei dort die Berechnung des Barwerts etwas schwieriger wäre, da für * kein Markt existiert.
Ein bisschen interessieren würde es mich ja schon, wie viel Annalena Baerbock dann aus eigener Tasche investiert, von mir aus auch in eine Bienenanleihe. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, welche Projektanleihen die anderen Parteien emittieren würden. Absolut sicher bin ich mir nur dabei, dass den AfD-Wählern der Erwerb der allermeisten Projekttitel selbstverständlich verboten wäre. Nichtwähler würden durch den Kauf – oder die Entscheidung dagegen – plötzlich doch mitentscheiden. Und wer meint, dass die Verluste der EZB durch Anleihekaufprogramme und Target2 nur virtueller Natur wären, kann sehr gerne meine Steuerzahleranteile an der Zentralbank haben. Ich schenke sie ihm.
Ja, was wäre, wenn solche politischen Projekte, die damit angepriesen werden, dass sie einen Gewinn abwerfen (denn das bedeutete es, wenn Schäuble behauptet, niemand habe durch die Migrationspolitik weniger Geld in der Tasche) über Projektanleihen unmittelbar und direkt und nicht mittelbar und versteckt über die Staatsverschuldung finanziert werden würden? Wie grün, wie Greta, wie „offen“ und wie „gut“ wäre Deutschland dann?
Für meinen Urgroßvater hätte es am Ende keinen Unterschied gemacht, ob er nun sein gesamtes Vermögen in Kriegsanleihen angelegt hätte oder nicht. So oder so wäre er spätestens 1923 gänzlich enteignet worden. Für die politische Auseinandersetzung heute würde eine Anleihefinanzierung zumindest etwas Rationalität in eine infantile Debatte bringen. Passieren wird das natürlich nie. Wie 1915 Herr Helfferich, wird irgendjemand schon mal nachgerechnet haben. Darüber, dass niemand einen Plan hat, wie die zukünftigen Staatsschulden zu tilgen wären, wurde einvernehmlich Stillschweigen vereinbart.