Das Zurückrudern ist symptomatisch für eine Politik, die sich nicht um die Folgen langfristiger Ziele kümmern muss und diese nicht erklären oder verantworten will. Auch die Aufarbeitung politischer Irrtümer braucht ihre Zeit. Beim Atomausstieg ist sie gekommen.
Zurückrudern ist eine skurrile, olympische Disziplin von Politikern. Dabei sind jene am erfolgreichsten, denen es am besten gelingt, ihre Kehrtwenden wie realpolitische Manöver aussehen zu lassen. Vor dem Hintergrund drängender Krisen und schwärender Probleme nimmt der plötzliche Sinneswandel eine Art Mimikry an, dessen Form und Muster seine historische Widersprüchlichkeit verschwinden und geradezu vergessen macht. Mit solcher Finesse und dem Lärm der Claqueure verwandelt sich jede noch so widersprüchliche Volte in eine plausible Antwort „folgerichtiger”, geradliniger Politik.
Die Kehrtwende – eigentlich ein Eingeständnis von Fehlbarkeit oder gar eine politische Bankrotterklärung – konnte Angela Merkel zur Kür ihres erratischen Wirkens verwandeln. 16 Jahre Regierung gaben ihr genügend Zeit, um gravierende Entscheidungen und Eingriffe in die Struktur der deutschen Gesellschaft schlicht als demoskopische Ereignisse zu begreifen und erscheinen zu lassen – ganz so, als sei das Volk das Erdbeben und die Medien der Seismograph. Die Kanzlerin musste sich nur lange genug wegducken und die seismischen Wellen mitzählen, um am Ende so zu entscheiden, wie es die vermeintliche Vox Populi für richtig hielt. Unter wohlwollender Begleitung der Medien konnte die Zauderin ihr mimikry-politisches Handwerk zum Goldstandard verwandeln und als Zauberin des Wertewandels verklärt werden. Wer solche gefallsüchtige Politik macht, betreibt allerdings definitionsgemäß Populismus.
Die Top Zwei der populistischen Kehrtwenden der letzten Jahre sind die Migrationspolitik und die Abschaltung der Kernkraftwerke. Als dritter „Hit“ wird sicher noch die „Epidemische Notlage nationaler Tragweite” in Erinnerung bleiben.
Auf dem 17. Parteitag der CDU im Jahr 2003 hatte Angela Merkel noch gesagt: „Man muss natürlich darüber sprechen, dass es den Missbrauch des Asylrechts gibt. Man muss natürlich sagen: Die Folge können nur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung sein. Alles andere wird in der Bevölkerung keine Akzeptanz finden.” Was 2015 von diesen Sätzen übriggeblieben ist, wissen wir nach unkontrollierter Zuwanderung von über einer Million Menschen aus dem arabischen Raum, mehrheitlich junge Männer. Im Oktober 2010 hatte sie noch auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam zum Thema Multikulti das Bonmot von sich gegeben: „Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.”
Unfreiwilliges Eigentor oder Rückrudern auf Start?
Noch im Herbst 2010 hielt es Angela Merkel für „fachlich vernünftig“, Kernkraftwerke bis zu 15 Jahre länger zu betreiben als vorgesehen, doch dann kam die Nuklearkatastrophe von Fukushima. „Die Ereignisse in Japan lehrten uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind”, sagte Sie ein halbes Jahr später. An die absolute Unwahrscheinlichkeit möglicher Risiken scheint Angela Merkel nun wieder zu glauben, denn vergangene Woche hat sie auf einem Not-Gipfel der EU-Energieminister, der wegen der explodierenden Energiekosten anberaumt worden war, offenbar ihre ablehnende Haltung gegenüber der Kernenergie aufgegeben. Merkel und Macron haben, so heißt es, einen Deal geschlossen, der es Frankreich erlauben soll, weitere Druckwasserreaktoren zu bauen. Atomstrom aus Frankreich ist aus deutscher Sicht also ab sofort prima, um der gefährlich fragilen Stromversorgung Deutschlands in Zukunft Stabilität zu geben.
Kürzlich verglich Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch-Instituts, Covid-19 mit der Grippe. Unfreiwilliges Eigentor oder Rückrudern auf Start? Wer jedenfalls einen solchen Vergleich vor wenigen Monaten gewagt hatte, wurde als Fake-News-Verbreiter, Querdenker oder Corona-Leugner gebrandmarkt. Eine Gleichsetzung mit der Influenza konnte nicht geduldet werden, denn der Maßnahmenzug war ja schon mit panischem Volldampf in der Republik unterwegs. Die Infragestellung der historischen Gefährlichkeit von Covid-19 wäre einer unerlaubten Ziehung der Notbremse gleichgekommen – Missbrauch strafbar. Doch im Oktober 2021 ist dem Maßnahmenzug endlich die Kohle ausgegangen, er pfeift auf dem letzten Loch und die Salonwagen mit der Aufschrift „Impfen für alle” hat man irgendwo auf freier Strecke abgehängt. Da ist die Notbremsung nicht mehr nötig. Deshalb meint es Lothar Wieler ehrlich, wenn er jetzt die Grippe zum Vergleich heranzieht. „Die haben beide viele Gemeinsamkeiten, beide sind Atemwegsinfektionen”. AHA, das klingt irgendwie harmlos. Heißt das jetzt alles wieder auf normal oder ist „Grippe” doch so etwas wie der zukünftige Panik-Hit?
Das Zurückrudern ist symptomatisch für eine Politik, die sich nicht um die Folgen langfristiger Ziele kümmern muss und diese nicht erklären oder verantworten will. Auch die Aufarbeitung politischer Irrtümer braucht ihre Zeit. Die Deutschen sollen ja Meister der Vergangenheitsbewältigung sein... Aber grüne Irrtümer haben bisher leider nicht den Weg in die intellektuelle Aufarbeitungsindustrie geschafft. Das mag an den glaubensgleichen Paradigmen grünen „Logik” liegen: Die Ängste vor dem Weltuntergang sind gewichtiger als rationale Abwägung, angemessenes Handeln und (selbst)kritische Reflexion. Da können die haltungs-politischen Geisterfahrten noch so klapprig und peinlich geendet haben: Waldsterben, Brent Spar, Erneuerbare Energien. Auch die Klimapolitik wird sich hier irgendwann einreihen, wetten?
Wir werden die kommenden, politischen Kehrtwenden und ihre Mimikry vielleicht nur noch am Rande wahrnehmen, sie gar ignorieren müssen, weil wir viel zu sehr mit der Bewältigung eines unkomfortablen Alltags beschäftigt sind. Dann könnten nämlich unsere Olympischen Disziplinen wieder Hamstern, Schwarzmarkt und Organisieren heißen.