Fabian Nicolay / 31.10.2021 / 16:00 / Foto: Pixabay / 34 / Seite ausdrucken

Wenn Zurückrudern alternativlos wird

Das Zurückrudern ist symptomatisch für eine Politik, die sich nicht um die Folgen langfristiger Ziele kümmern muss und diese nicht erklären oder verantworten will. Auch die Aufarbeitung politischer Irrtümer braucht ihre Zeit. Beim Atomausstieg ist sie gekommen.

Zurückrudern ist eine skurrile, olympische Disziplin von Politikern. Dabei sind jene am erfolgreichsten, denen es am besten gelingt, ihre Kehrtwenden wie realpolitische Manöver aussehen zu lassen. Vor dem Hintergrund drängender Krisen und schwärender Probleme nimmt der plötzliche Sinneswandel eine Art Mimikry an, dessen Form und Muster seine historische Widersprüchlichkeit verschwinden und geradezu vergessen macht. Mit solcher Finesse und dem Lärm der Claqueure verwandelt sich jede noch so widersprüchliche Volte in eine plausible Antwort „folgerichtiger”, geradliniger Politik.

Die Kehrtwende – eigentlich ein Eingeständnis von Fehlbarkeit oder gar eine politische Bankrotterklärung – konnte Angela Merkel zur Kür ihres erratischen Wirkens verwandeln. 16 Jahre Regierung gaben ihr genügend Zeit, um gravierende Entscheidungen und Eingriffe in die Struktur der deutschen Gesellschaft schlicht als demoskopische Ereignisse zu begreifen und erscheinen zu lassen – ganz so, als sei das Volk das Erdbeben und die Medien der Seismograph. Die Kanzlerin musste sich nur lange genug wegducken und die seismischen Wellen mitzählen, um am Ende so zu entscheiden, wie es die vermeintliche Vox Populi für richtig hielt. Unter wohlwollender Begleitung der Medien konnte die Zauderin ihr mimikry-politisches Handwerk zum Goldstandard verwandeln und als Zauberin des Wertewandels verklärt werden. Wer solche gefallsüchtige Politik macht, betreibt allerdings definitionsgemäß Populismus.

Die Top Zwei der populistischen Kehrtwenden der letzten Jahre sind die Migrationspolitik und die Abschaltung der Kernkraftwerke. Als dritter „Hit“ wird sicher noch die „Epidemische Notlage nationaler Tragweite” in Erinnerung bleiben.

Auf dem 17. Parteitag der CDU im Jahr 2003 hatte Angela Merkel noch gesagt: „Man muss natürlich darüber sprechen, dass es den Missbrauch des Asylrechts gibt. Man muss natürlich sagen: Die Folge können nur Steuerung und Begrenzung von Zuwanderung sein. Alles andere wird in der Bevölkerung keine Akzeptanz finden.” Was 2015 von diesen Sätzen übriggeblieben ist, wissen wir nach unkontrollierter Zuwanderung von über einer Million Menschen aus dem arabischen Raum, mehrheitlich junge Männer. Im Oktober 2010 hatte sie noch auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam zum Thema Multikulti das Bonmot von sich gegeben: „Dieser Ansatz ist gescheitert, absolut gescheitert.”

Unfreiwilliges Eigentor oder Rückrudern auf Start?

Noch im Herbst 2010 hielt es Angela Merkel für „fachlich vernünftig“, Kernkraftwerke bis zu 15 Jahre länger zu betreiben als vorgesehen, doch dann kam die Nuklearkatastrophe von Fukushima. „Die Ereignisse in Japan lehrten uns, dass Risiken, die für absolut unwahrscheinlich gehalten wurden, doch nicht vollends unwahrscheinlich sind”, sagte Sie ein halbes Jahr später. An die absolute Unwahrscheinlichkeit möglicher Risiken scheint Angela Merkel nun wieder zu glauben, denn vergangene Woche hat sie auf einem Not-Gipfel der EU-Energieminister, der wegen der explodierenden Energiekosten anberaumt worden war, offenbar ihre ablehnende Haltung gegenüber der Kernenergie aufgegeben. Merkel und Macron haben, so heißt es, einen Deal geschlossen, der es Frankreich erlauben soll, weitere Druckwasserreaktoren zu bauen. Atomstrom aus Frankreich ist aus deutscher Sicht also ab sofort prima, um der gefährlich fragilen Stromversorgung Deutschlands in Zukunft Stabilität zu geben.

Kürzlich verglich Lothar Wieler, der Präsident des Robert Koch-Instituts, Covid-19 mit der Grippe. Unfreiwilliges Eigentor oder Rückrudern auf Start? Wer jedenfalls einen solchen Vergleich vor wenigen Monaten gewagt hatte, wurde als Fake-News-Verbreiter, Querdenker oder Corona-Leugner gebrandmarkt. Eine Gleichsetzung mit der Influenza konnte nicht geduldet werden, denn der Maßnahmenzug war ja schon mit panischem Volldampf in der Republik unterwegs. Die Infragestellung der historischen Gefährlichkeit von Covid-19 wäre einer unerlaubten Ziehung der Notbremse gleichgekommen – Missbrauch strafbar. Doch im Oktober 2021 ist dem Maßnahmenzug endlich die Kohle ausgegangen, er pfeift auf dem letzten Loch und die Salonwagen mit der Aufschrift „Impfen für alle” hat man irgendwo auf freier Strecke abgehängt. Da ist die Notbremsung nicht mehr nötig. Deshalb meint es Lothar Wieler ehrlich, wenn er jetzt die Grippe zum Vergleich heranzieht. „Die haben beide viele Gemeinsamkeiten, beide sind Atemwegsinfektionen”. AHA, das klingt irgendwie harmlos. Heißt das jetzt alles wieder auf normal oder ist „Grippe” doch so etwas wie der zukünftige Panik-Hit?

Das Zurückrudern ist symptomatisch für eine Politik, die sich nicht um die Folgen langfristiger Ziele kümmern muss und diese nicht erklären oder verantworten will. Auch die Aufarbeitung politischer Irrtümer braucht ihre Zeit. Die Deutschen sollen ja Meister der Vergangenheitsbewältigung sein... Aber grüne Irrtümer haben bisher leider nicht den Weg in die intellektuelle Aufarbeitungsindustrie geschafft. Das mag an den glaubensgleichen Paradigmen grünen „Logik” liegen: Die Ängste vor dem Weltuntergang sind gewichtiger als rationale Abwägung, angemessenes Handeln und (selbst)kritische Reflexion. Da können die haltungs-politischen Geisterfahrten noch so klapprig und peinlich geendet haben: Waldsterben, Brent Spar, Erneuerbare Energien. Auch die Klimapolitik wird sich hier irgendwann einreihen, wetten?

Wir werden die kommenden, politischen Kehrtwenden und ihre Mimikry vielleicht nur noch am Rande wahrnehmen, sie gar ignorieren müssen, weil wir viel zu sehr mit der Bewältigung eines unkomfortablen Alltags beschäftigt sind. Dann könnten nämlich unsere Olympischen Disziplinen wieder Hamstern, Schwarzmarkt und Organisieren heißen.
 

Foto: Pixabay

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Emmanuel Precht / 31.10.2021

“Atomstrom aus Frankreich ist aus deutscher Sicht also ab sofort prima” Genauso, wie Ozeanien nicht im Krieg mit Eurasien ist! Wohlan…

Boris Kotchoubey / 31.10.2021

Noch gestern hatte Ozeanien zusammen mit Ostasien Krieg gegen Eurasien geführt. Heute aber führt Ozeanien zusammen mit Eurasien Krieg gegen Ostasien. Das bedeutet: Ozeanien hat IMMER den Krieg gegen Ostasien geführt und Eurasien war IMMER der beste Freund Ozeaniens. - Was ich mit diesem Orwell-Zitat sagen will: Es gibt kein Zurückrudern. Dieses veraltete Wort setzt voraus, dass ein Politiker gestern eine Meinung hatte, und heute hat er seine Meinung geändert. Dies ist aber nicht mögich, weil es in der totalitären Welt keinen Begriff “gestern” gibt. Frei nach dem Koran: Es gib keinen Gott außer Heute, und Mainstreammedien sind seine Propheten. Die Wahrheit von heute ist eine EWIGE und absolute Wahrheit. Morgen kann vielleicht das genaue Gegenteil die Wahrheit sein, und diese Wahrheit wird genauso ewig, absolut und unhinterfragbar. Das ist der real existierende Postmodernismus. Wenn ein Politiker heute sagt, dass Deutschlands Grenzen offen sein sollten, dann hat er IMMER so gesagt! Die Aussage von einer Dutzend AchGut-Lesern, dass derselbe Politiker erst gestern die Grenzen schließen wollte, interessiert niemand außerhalb dieses kleinen Gruppchens.

Reinhold R. Schmidt / 31.10.2021

Energie ist der entscheidende Faktor für das Leben der Menschheit. Ohne ausreichende Energie würden die wenigen Menschen noch heute als Jäger und Sammler ein armseliges, mühseliges Leben im Kampf gegen wilde Tiere und die menschenfeindliche Natur führen. Mit der Entdeckung des Feuers durch Verbrennung von Holz oder Kameldung (heute leider noch in vielen Teilen der Welt wegen fehlender Alternativen praktiziert) erfolgte ein erster deutlicher Fortschritt für das Wohlergehen. Mit Wind, Wasserkraft und Solarenergie (Windmühlen, Wassermühlen und Wasserspeicher) versuchte man im Mittelalter weiter voran zu kommen - erfolglos. Erst die Verfügbarkeit von Kohle und dann von Erdöl öffnete der Menschheit auf breiter Basis eine industrielle Entwicklung weg von ständigem Hunger und Sterben. Mit der Entdeckung der Kernspaltung und damit der Kernkraft durch den deutschen Nobelpreisträger Otto Hahn (1945) wurde endlich das Tor für eine CO2 freie und unbegrenzte Energiequelle für die Menschheit geöffnet. Dass gerade DEU aus ideologischen Gründen diesen Segen nicht nutzen will, ist ein Hohn der Geschichte. Aus ideologischen Gründen und um die Taschen der eigenen Anhänger mit Steuergeldern zu füttern, wird eine zukunftsweisende Technologie verteufelt (wie die Bilderstürmer im Mittelalter). Die ganzen vorgeschobenen “Argumente” sind völlig haltlos. Schon allein die mit Hilfe aller ÖRR und MSM geprägten Begriffe, wie “Atommüll” (hört sich an wie Hausmüll), “Endlager” (hört sich an wie Endlösung) zeigen das. Sonst gilt doch überall das Recycling-Prinzip, doch bei der Kernenergie ist das in DEU schon gedanklich verboten, obwohl es im Gegensatz zum Recycling von Photovoltaikmodulen oder Windrädern bereits erste funktionsfähige Einrichtungen gibt. Wir könnten also mit unserem “Atommüll” glänzende Geschäfte machen, nachdem die Restbestände alter Kernwaffen praktisch aufgebraucht sind.

T. Weidner / 31.10.2021

Tut mir leid, den Atomausstieg kann und will ich nicht unter “politischem Irrtum” subsummieren. Für die Grünen und deren Adlaten in den übrigen Altparteien ist der Atomausstieg eine Angelegenheit der Unregierbarmachung und Schädigung unseres Landes, während er für Merkel ein Vehikel war, grün-massenmedialen und grün-politischen Applaus einzuheimsen. Das war also Vorsatz und kein Irrtum. Und panikgetrieben mag Merkels anfängliche!!! Coronapolitik gewesen sein - aber an Panik mag ich bei ihrem Atomausstieg keinesfalls denken. Ebenso wie die Merkelschen Zustimmungen zur Eurozerstörung (es waren ja mehrere, begonnen mit der “Griechenland/Bankenrettung” bis hin zur Einsetzung von Lagarde) ja keine Zufälle und keine Irrtümer waren.

B.Kröger / 31.10.2021

Das Schlimmste an dieser verfehlten Politik, sind die vielen Mitläufer, die vielen Untertanen und begeisterten Standing Ovations Leute in Medien und Parteien. Kontrolle findet nicht mehr statt, wenn die obersten Richter Bürgereinsprüche stoppen, oder gar nicht erst zulassen. Die freiheitliche Demokratie hat einen schweren Stand in Deutschland.

R. Schäfer / 31.10.2021

Tut mir leid, ich kann keinerlei Zurückrudern erkennen. Weder bei der Energiepolitik noch in der Migrationspolitik, bei der wir nach vielen Jahren und vielen 100 tsd. Migranten angeblich immer noch unter “Fachkräftemangel” leiden. Und in der Covid Politik auch nicht, wo jetzt Booster Impfen forciert wird. Es gilt immer noch das Motto: wer die Covid Pandemie überlebt, stirbt am Klimawandel.

Max Esser / 31.10.2021

@Hajo Zeller; “ohne auch nur im Ansatz die Frage nach der sicheren Lagerung und Entsorgung der bisher angefallenen strahlenden Hinterlassenschaft dieser Technologie zu beantworten” Diese Frage ist längst geklärt. Die Atomkraftgegner wollen nur die Antwort nocht hören, halten sich die Ohren zu und summen laut.

Wilhelm Lohmar / 31.10.2021

Brent Spar war für mich das Damaskuserlebnis bezüglich Grüne, NGOs und Mainstream-Medien. Damals natürlich allen voran Greenpeace.

Weitere anzeigen Leserbrief schreiben:

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Fabian Nicolay / 06.04.2024 / 06:00 / 56

Grüne Pickelhauben und das Getrampel der 20.000

Ich gestehe: In puncto Artenschutz schlägt mein Herz schon immer „grün“. Ich hatte als Kind das Glück, mich jeden Tag in der freien Natur aufhalten…/ mehr

Fabian Nicolay / 23.03.2024 / 06:00 / 51

Alles andere als demokratisch

Eigentlich soll die Politik nur die Rahmenbedingungen für die freiheitliche demokratische Grundordnung schaffen. Wir erleben aber eine zunehmend übergriffige Vereinnahmung staatlicher Institutionen durch Parteien. So…/ mehr

Fabian Nicolay / 20.01.2024 / 06:15 / 126

Szenischer Schauprozess für rechte Langeweile

Das sogenannte Potsdamer „Geheimtreffen“ wurde im Berliner Ensemble auf die Bühne gebracht. Die Zuschauer sind sich nicht gewahr, dass sie dem deutschen Topos schlechthin verhaftet…/ mehr

Fabian Nicolay / 13.01.2024 / 06:00 / 110

Demonstrationsrecht nur für Gute, Doppelstandards und grünes Mimimi

Es ist nicht der Wunsch nach Umsturz, wie es Habeck und Co. weismachen wollen, sondern der Wunsch nach demokratischer Verwirklichung echter Alternativen im Gegensatz zu…/ mehr

Fabian Nicolay / 23.12.2023 / 06:00 / 62

Im Verhörzimmer der Gedankenpolizei

Unsere Aufgabe als Medium ist, dem gesellschaftlichen Treiben möglichst früh den Spiegel vorzuhalten und die politische Gemengelage stetig zu dokumentieren. Später wird man wissen wollen,…/ mehr

Fabian Nicolay / 16.12.2023 / 06:00 / 29

Zoon politikon: Die Kunst des Überlebens in unwirtlicher Umgebung

Auch die künftigen Archäologen der jeweiligen „Moderne“ werden ihre Funde unter dem Einfluss des Zeitgeistes betrachten. Wie werden sie wohl über die 20er-Jahre des 21.…/ mehr

Fabian Nicolay / 02.12.2023 / 06:00 / 102

Schneetreiben vor Gelächter

Die Regierungserklärung von Olaf Scholz war ein Offenbarungseid an Ideen- und Teilnahmslosigkeit. Zumindest entfleuchte er diese Woche vor dem gut besetzten Plenum erneut in das…/ mehr

Fabian Nicolay / 25.11.2023 / 06:00 / 112

Abwahl vor dem Jüngsten Klimatag

Die Umfragen lassen sich unmissverständlich als Forderung nach Rücktritt und Neuwahlen deuten, das Vertrauen der Wähler ist dahin. Allein die Protagonisten wollen keine Konsequenzen ziehen.…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com