Alle zusammen wollen sich bei passender Gelegenheit mit großem Mut auf den Einen stürzen und Rache nehmen am Sprecher der Abtrünnigen. Der aber – so CSU-Manfred Weber von der Europäischen Volkspartei in Brüssel – entziehe sich durch „feiges Verhalten“ dem Vermöbeln durch Kontinentaleuropäer.
Der Journalist Issio Ehrich – Spezialist für Außenpolitik, Beauftragter für Sicherheitspolitik, Experte für die Türkei, dazu Fachmann für Immigration sowie Kenner der Grünen (alles bei n-tv.de) – ergänzt die Brüsseler Verdammung durch eine ganze Batterie seiner ureigenen psychiatrischen Diagnostik. Die Brexit-Galionsfigur Boris Johnson sei „zu feige für das Endspiel“, neige „ohne Mumm“ als „Chamäleon“ zur „Zockerei“ und stehe als übles Beispiel für die „große Lüge“ und „falsche Versprechungen“, um „auf der Karriereleiter einen Schritt höher“ zu gelangen.
Der Wutausbruch lebt von der Ahnung, dass der so heftig beschworene Niedergang des Vereinigten Königreiches ausbleiben könnte. Noch am 25. Juni rechnet n-tv.de triumphierend vor, dass die Briten durch Johnsons Zockerei „binnen Stunden Billionen an Börsenwerten“ verlieren. Doch als Johnson am 30. Juni das Amt des Premiers ausschlägt, steht die Londoner Börse bereits 1,6 Prozent höher als vor dem Brexit. Die deutschen Werte dagegen stehen zum selben Zeitpunkt (30.06 um 17:00) immer noch knapp 7 Prozent darunter.
Johnson ist nobel genug, den Deutschen diese Differenz nicht einzureiben. Unter den hiesigen Printmedien aber kann sich nicht eines dazu überwinden, den Vorsprung von Footsie vor DAX als Aufmacher zu bringen. Die ungebrochen scharf gegen den Brexit schreibende Financial Times ist da mutiger und meldet das – bereits am 29. Juni – erreichte Aufholen der Kursverluste souverän auf der ersten Seite vom 30. Juni: „Footsie recovers post-Brexit losses“.
Das Zurückbleiben der Frankfurter Börse kann nicht verwundern, gibt es 2015 doch deutsche Exporte nach England in Höhe von 89 Mrd. Euro, während die Briten nur für 38 Mrd. Euro liefern. Käme die Erregung à la Weber und Ehrich gegen England ungebremst zum Zuge, säße der Verlierer zwischen Rhein und Weser, aber nicht an der Themse.
Eines allerdings muss man dem Deutschland gegenüber bemerkenswert milden Boris Johnson zugestehen: politische Schlauheit. Den verhasstem Brexit-Sieger würde man in den Trennungsverhandlungen tatsächlich so hinterhältig wie möglich behandeln. Wer daran noch Zweifel gehegt haben sollte, wird durch den hiesigen Hass aus Politik und Medien umgehend eines Besseren gelehrt. Also nimmt Johnson durch Zurückstellung des eigenen Ehrgeizes England aus der Schusslinie.
Wenn stattdesse Theresa May in London an die Spitze rückt, verhandelt eine Gegnerin des Brexit, der Ehrerbietung gebührt und die deshalb Respekt vor dem demokratischen Votum ihrer Heimat fordern kann. In der Entschlossenheit zur Wiedergewinnung der britischen Grenzhoheit – Johnsons wichtigstes Vorhaben – rangiert die Innenministerin womöglich noch vor dem erst einmal Verzichtenden. Da könnte sich ein Team formieren, das es in sich hat.
Lesen Sie zum Thema auch diesen Bericht in der NZZ: Bremsklotz Brüssel