Richard Wagner / 29.04.2010 / 08:02 / 0 / Seite ausdrucken

Ungarn für Frühaufsteher

Wer wüsste es nicht: Unsere Öffentlichkeit ist eine Empörungsöffentlichkeit. Sie kann sich über die Missstände, die ihr unterkommen, mächtig aufregen, die Aufregung vergeht ihr aber in der Regel schnell wieder. Anders gesagt, sie kämpft, angesichts der Erklärbarkeit von allem und jedem, mit der Langeweile.

Das hat auch damit zu tun, dass sie für alles, auch für den Fall der Empörung, ein entsprechendes Vokabular bereithält. Es ist ein Vokabular der Katastrophe und praktisch auf alle Themen anwendbar. Eines davon war in den letzten Wochen die Ungarnwahl. Schon im Vorfeld wurden richtungweisende Schubladen aufgezogen: Rechtspopulismus, Rechtsruck. Dementsprechend fielen auch die Fragen der Journalisten aus. Markige Worte wie „Autokratie“ und „innere Emigration“ setzten die Akzente.

Man diskutierte exterritorial, und es war wie immer in solchen Fällen, nicht ganz klar, wer der Adressat dieser Meinungsbildung nun sein könnte. War es der Frühaufsteher in Deutschland, der schon vor dem Frühstück vor den Gefahren, die auf die Ungarn warten, gewarnt sein wollte? Oder waren all die Gespräche und Kommentare versteckte Warnungen an die frisch gewählten Maulhelden in Budapest? Wollte man ein deutliches Wort an Viktor Orban und seine FIDESZ oder gar an den studierten Pöbel des extremistischen Jobbik richten?

Oder geht es um nichts weiter als um die statutengemäß festgeschriebene Informationspflicht? Wer informiert, kann sich heute nicht mehr fragen, was Information ist, weil die Frage nach der Information die Information selbst infrage stellen würde. Angesichts einer solchen Erkenntnis aber bleibt einem eine einzige Schlussfolgerung: Wir möchten das alles zwar gar nicht wissen, aber wir möchten auch nicht, dass uns nachgesagt wird, dass wir das alles nicht wissen möchten.

Zu dem Vielen, was wir nicht wissen möchten, gehört auch das meiste, was uns aus Osteuropa erreicht. In den Zeiten des Kommunismus verpackte man die Nachrichten von dort in die Frage der Menschenrechte. Für unsere pflichtgemäße Empörung wurde durch die Zusammenarbeit zwischen Amnesty International und den Agenturen gesorgt. Diese Art Nachricht lebte von ihrem moralischen Anstrich. Wie der Ökostrom oder die Biowurst. Osteuropa, das nach Jahrzehnten des bolschewistischen Experiments logischerweise kaum noch was zu bieten hatte, was das Leben hätte verschönern können, rettete sich in die moralische Aufmerksamkeit.

Es war die Zeit, in der die Schriftsteller zu Sprechern der Nation wurden. Vorübergehend, bis sich eine neue politische Klasse eingerichtet hatte. Diese hatte zwar, im Unterschied zu den Kommunisten, nun demokratische Institutionen zu berücksichtigen, sie tat es aber mit geringem Respekt. Wenn man sich früher den Anschein gab, kommunistisch sein, so erweckte man jetzt den Eindruck des Demokraten. Das hatte eines zur Folge, den schlechten Ruf der Demokratie. Dass zwanzig Jahre nach 1989 das Vertrauen in die Demokratie so gering ist, wird auch Konsumenten der Frühnachrichten bei uns nicht weiter überraschen.

Eher gelassen wird er sich anhören, was die ungarischen Schriftsteller zum Wahldebakel in Budapest zu sagen haben. Diese geben wie eh und je bereitwillig Auskunft. Der Unterschied zu früher aber ist, sie haben kein Mandat und so hört sich jede Erklärung, die sie geben, fast schon wie eine Rechtfertigung an.

György Konrad erinnert an die faschistischen Pfeilkreuzler der Zwischenkriegszeit als Vorbilder der neuen Rechtsextremisten. Auf die Frage der deutschen Journalistin, ob denn eine liberale Partei in Ungarn keine Chance hätte, antwortet er: „In Ungarn wird der Liberalismus mit den Kommunisten und mit den Juden identifiziert“. Des weiteren spricht Konrad von zwei politischen Traditionen in Ungarn, jene von Horthy in der Zwischenkriegszeit, und jene von Janos Kadar im Poststalinismus. Beide seien paternalistisch gewesen.

Ähnlich äußert sich dazu Laszlo Földenyi. Er befürchtet eine Autokratie in Ungarn. Darüber hinaus sieht er ein politisch neutrales Problem, das der Korruption.

Als einen Hauptgrund der politischen Optionsverschiebung betrachtet Peter Nadas den Stillstand. Er sagt, alle Regierungen der letzten 20 Jahre hätten notwendige Reformen versäumt. Nadas: „Wir leben noch immer in einem Staat, der uns irgendwie unterhält, ein gutmütiger Staat, dem gegenüber wir uns nicht gutmütig verhalten“. Dieser Staat sei zu schwach, er könne den Rechtsextremisten nicht Paroli bieten.

Gefragt hat man auch eine Autorin der jüngeren Generationen, Noemi Kiss. Sie macht die politische Lüge für die Krise verantwortlich. Sie sagt: „Die Worte passten gut zu den Krawatten der Politiker, keiner nahm sie ernst“. Und weiter: „Demokratie - das ist in dieser Region im Augenblick nur ein Wort und gehört nicht annähernd zur täglichen Praxis“. Sie bekennt, dass sie Orban und die FIDESZ gewählt habe.

Soweit die ungarischen Schriftsteller. Einer hat sich übrigens nicht geäußert: Peter Esterhazy. Es ist sein gutes Recht. Der Frühaufsteher weiß es zu schätzen. Er atmet kurz auf ,und schon wird ihm das nächste Thema angekündigt, die nächste Gefahr gemeldet.

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