Der Fast-Kanzler von 1972, Rainer Barzel, formulierte in seinem Buch "Plädoyer für Deutschland" Aussagen, die frappierend aktuell erscheinen, für all jene, die sich als Deutsche die Liebe zum eigenen Land nicht vermiesen lassen wollen und doch weit von einem schlichten „Hurra-Patriotismus“ entfernt sind.
Wir leben wieder in Zeiten, in denen oft von „typisch deutschem Charakter“ die Rede ist, auch hier auf der Achse, unter der Autoren- wie Leserschaft gleichermaßen. Es braucht kaum betont zu werden, dass dies in den seltensten Fällen positiv gemeint ist. Dabei versteht sich eigentlich von selbst, dass die Charakterisierung eines 80-Millionen-Volkes sich kaum auf einige wenige ausschließlich negative Eigenschaften herunterbrechen lässt. Auch gehört eigentlich zum Allgemeinwissen, dass Schattenseiten nie ohne Sonne geworfen werden können. Je heller sie strahlt, desto schärfer werden auch die Schatten.
Ein Leserbrief zu diesem Beitrag von Erik Lommatzsch hat mich dazu inspiriert, ein Buch von Rainer Barzel erneut aufzuschlagen. Titel: „Plädoyer für Deutschland“, erschienen 1988/89. Der Christdemokrat Barzel diente Zeit seines Lebens in verschiedenen politischen Funktionen unter Konrad Adenauer bis Helmut Kohl. Den Älteren ist er vielleicht noch bekannt durch sein „So nicht!“ zu den Ostverträgen.
In diesem Buch eröffnete Barzel dem Leser wohltuend differenzierte Einblicke auf das Land und seine Menschen. Wie es sich für einen echten Patrioten gehört, lag ihm fern, beide rundweg zu verteufeln. Sein Fazit: Die deutsche Geschichte erschöpfe sich nicht im „Dritten Reich“ und den namenlosen Verbrechen des Hitler-Regimes. Er leugnete nicht die historische deutsche Verantwortung, benennt aber ausführlich ebenso die Vorgeschichte des Unheils, die meist ausgeblendet wird, die zum Verständnis aber unabdingbar ist. Im übrigen bezweifelte Barzel, dass es einen „typisch deutschen“ Nationalcharakter gäbe, der allein alles erkläre.
So liest man in seinem Buch:
„Jede Verallgemeinerung, jede Einteilung 'der' Menschen nach gut oder böse, nach so oder so, ist nicht nur eine Sünde wider die Menschenwürde jedes einzigartigen einzelnen, sondern eine Dummheit, ein hinderliches und liederliches Vorurteil, das nicht vor der Wahrheit bestehen kann. 'Die' gibt es nämlich nicht.“ Er zitierte Theodor Heuss, der es für „eine fatale Sache“ hielt, „von einem Volk zu behaupten, daß für sein Wesen ganz bestimmte Eigenschaften bezeichnend sind“. Barzel: „Krampfhafte Zuteilungen von kollektiven Eigenschaften, verfügte Schablonen und heimliche Stempel vernichten die Möglichkeiten zum Verstehenlernen, zu Miteinander und Gemeinsinn.“ Barzel fragte völlig zu recht: „Wie soll man den Nachbarn erkennen und begreifen, wenn ihn schon vorher unser feststehendes Vor-Urteil abstempelt?“
Anschließend nimmt Barzel dann eine feine Differenzierung vor: „Auf einem anderen Blatt als dem der Studie über unseren Charakter steht, was über unsere Begabung zu Politik angemerkt werden muß und auch darf. Republikanische Gesinnung, demokratische Erfahrung und politische Einsicht sind wohl – wie die Kunst der Kompromisse, der Rede und der Widerrede – anderswo länger und ausgeprägter zu Hause.“
„Aber“, so betonte er, „das ist keine Charakterfrage. Zugleich fürchte ich, daß immer noch zu viele von uns sich scheuen, politisch zu entscheiden und dafür einzustehen.“ Er fügte noch hinzu: „Der 'Männerstolz vor Königsthronen' hat für viele hierzulande schon mit dieser literarische Metapher, dem Lesen oder Aufsagen des Gedichts, sich erschöpft – und damit für sie stattgefunden.“
Carl Zuckmayers ehrlicher Rückblick
Damit kommen wir zum Titel dieses Beitrags. Barzel zitierte nämlich an dieser Stelle in Auszügen Carl Zuckmayers „ehrlichen Rückblick“ auf das Ende der Zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts, erinnerte an „eine andere Wahrheit“, die wohl noch immer gelte, wie Barzel damals meinte:
„Die meisten von uns lebten …. wie Bauern, die Heu machen oder Getreide mähen, während sich am Horizont die Wolken eines Unwetters auftürmen ... Doch ist eine politische Bewegung … kein Wetter. Sie wird von Menschen gemacht und kann von Menschen bekämpft werden. Haben wir in der Zeit, bevor uns die Macht dazu genommen wurde, genug getan, um das Schicksal zu wenden? Ich glaube nicht ... Wir haben versäumt, als unsere Zeit und unsere Stunde war, ihnen zuvorzukommen ... Wir, die wir berufen gewesen wären, dem rechtzeitig entgegenzuwirken, haben zu lange gezögert, uns mit dem profanen Odium der Tagespolitik zu belasten, wir lebten zu sehr in der 'splendid isolation' des Geistes und der Künste ... Wir hofften bis zum letztem Moment, und auch dann wollten wir noch nicht recht glauben, daß es wirklich der letzte gewesen sei.“
Soweit Zuckmayer zu verpassten Chancen, oder zu der Engelsgeduld und der Gutgläubigkeit nicht weniger Deutscher, die darin sichtbar wurden. Nur, und das wäre wichtig zu begreifen, dass die Zeiten und Umstände gänzlich andere waren. Im Unterschied zu damals wäre es heute nämlich weit weniger mühevoll, sich mit tagespolitischen Themen auseinanderzusetzen – nicht zuletzt deshalb, weil wir Heutigen im Gegensatz zu unseren Vorvätern und -müttern im Wohlstand aufwuchsen, dank des Internets viel leichter an verschiedene Quellen kommen könnten und noch dazu sehr viel mehr Zeit zum Nachdenken hätten.
Das nur noch antiquarisch erhältliche Buch erscheint übrigens lediglich auf den ersten Blick ausschließlich von historischem Wert. Ich war beim Lesen überrascht, wie aktuell etliche Aussagen Barzels bis heute geblieben sind. Er zeigt darin eine ganze Reihe von historischen Zusammenhängen, Erfahrungen und Konsequenzen auf, die in der Gegenwart kaum noch vermittelt werden, aber bis in sie hineinreichen. Nicht umsonst hat Barzel seinem Buch ein Zitat des römischen Republikaners Marcus Tullius Cicero vorangestellt: „Nicht zu wissen, was vor deiner Geburt geschehen ist, heißt immer ein Kind bleiben.“
Zum Verständnis der Deutschen und ihrer Geschichte bietet das „Plädoyer für Deutschland“ reichlich Material und ist dennoch flüssig zu lesen. Das ideale Buch für alle, die sich als Deutsche die Liebe zum eigenen Land nicht vermiesen lassen wollen und doch weit von einem schlichten „Hurra-Patriotismus“ entfernt sind.
Quelle: Rainer Barzel, Plädoyer für Deutschland. Verlag Ullstein, Frankfurt/M. 1988/89
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