Jesko Matthes / 21.07.2017 / 06:00 / 2 / Seite ausdrucken

„The Shining“ und der politische Zeitgeist

Erste Vorbemerkung: Ich liebe Stanley Kubrick. Ein gutes Jahr älter als meine Mutter, gehörte er zu der Generation, die vom Zweiten Weltkrieg geprägt, aber nicht für ihn verantwortlich war. Als US-amerikanischer Jude schon gar nicht. Überliefert ist, dass Kubrick einen intensiven Briefwechsel mit Raoul Hilberg führte, dem Autor des Standardwerks über die Vernichtung der europäischen Juden.

Zweite Vorbemerkung: Ich hasse Horrorfilme. Das Schweigen der Lämmer fand ich gut gemacht, aber letztlich langweilig. Absonderlichkeiten ohne allgemeingültige Schlussfolgerungen interessieren mich nicht. Nosferatu und Faust von Friedrich Wilhelm Murnau betrachte ich als Horrorfilme mit allgemeingültiger Botschaft; der erste sagt etwas über die Sehnsucht nach dem ewigen Leben und über das Verhältnis von Eros und Thanatos, der zweite etwas über die sehr deutsche Sehnsucht nach Besserwissen und Macht um den Preis des Paktierens mit dem Teufel; für Deutschland sind es charakteristische, in Teilen prophetische, symbolistische, psychoanalytische Filme.

Es gibt eine umfangreiche, fast schon massive „Sekundärliteratur“ im Internet zu einem Film Stanley Kubricks, der gemeinhin der Kategorie „Horrorfilm“ zugeschrieben wird und immer noch hinsichtlich seiner Qualität umstritten ist, unter anderem, weil er weit von Stephen Kings Romanvorlage abweicht: The Shining (1980). Für mich steht dieser Film in einer Reihe mit Kubricks anderen Meisterwerken, Dr. Strangelove, 2001, A Clockwork Orange, Full Metal Jacket, Eyes Wide Shut.

Was haben diese Filme gemeinsam? – Das war eine Frage, die mich lange beschäftigte. Zuletzt denke ich, es ist das Thema „Verantwortung“. Eine Verantwortung, die jeder für sich selbst trägt, eine Verantwortung, die nicht delegierbar ist, weder nach „oben“, nicht an Politiker, nicht an Gott, noch nach „unten“, an Untergebene, noch nicht einmal an die eigenen Kinder.

Praktisch alle Filme Kubricks haben diesen politischen Subtext der persönlichen Verantwortung. Und deshalb lernte ich auch The Shining lieben. Mein Tipp: Sehen Sie sich The Shining noch einmal an, genießen Sie den subtilen Horror, die absurde Architektur, die scheinbar sinnlosen Dialoge, die dunklen Vorahnungen, die sich langsam verdichtende Atmosphäre einer Katastrophe – und Sie erkennen etwas Wesentliches über das 20. Jahrhundert und die Lehren, die aus ihm zu ziehen sind.

Identitäres Denken als Einstieg in die Katastrophe

Die von Jack Nicholson sehr menschlich und sehr diabolisch gespielte Zentralfigur ist der gescheiterte Lehrer und scheiternde Schriftsteller Jack Torrance. Seinem Alkoholismus, seinen Gewaltimpulsen und seiner Schreibblockade, einer Anspielung auf Hugo von Hoffmannsthals „Chandos-Brief“, sucht er durch die Isolation als Hausmeister eines im Winter verlassenen Hotels zu entkommen, in das er Ehefrau und Sohn mitnimmt. Doch das Hotel ist eine Paraphrase auf ihn selbst und das Land, aus dem er stammt und mit dem er sich identifiziert: die USA. Und so ist er auf sich selbst zurückgeworfen und auf die Phantasien, die aus dieser Tradition und Gemengelage erwachsen; denn das Hotel steht auf einem Indianerfriedhof. Das ist als Anspielung sogar auf den Holocaust gelesen worden, denn Jack Torrance schreibt auf einer deutschen Schreibmaschine, einer „Universal 39“. Breit steht auf ihr der Firmenname „ADLER“, und das Firmensymbol sieht aus wie der Reichsadler der Nationalsozialisten, nur ohne das Hakenkreuz. Das alles ist schon bemerkt worden.

Doch so äußert sich auch Jack Torrance. Auf der Fahrt ins Hotel outet er sich als Sozialdarwinist, indem er zynische Bemerkungen über Kannibalismus als Mittel zum Zweck des Überlebens macht, um Frau und Kind zu ärgern. Er „outet“ sich als Macho, wenn er seine Frau in der Barszene dem imaginierten Barmann Lloyd gegenüber die „alte Samenbank eine Treppe höher“ nennt (eine Formulierung, die man nur im englischsprachigen Original so zu hören bekommt), und er outet sich als sehr dubioser Familienvater, wenn er in der Hotelhalle das „Playgirl“-Magazin liest, in dem von Inzest und scheiternden Beziehungen die Rede ist. Er outet sich auch als Rassist, indem er dem ebenso imaginierten Kellner Delbert Grady in der Toilettenszene nicht widerspricht, wenn dieser den ungefähr einzig Guten im ganzen Film, den schwarzen Chefkoch Dick Hallorann, einen „Nigger“ nennt – den einzigen, den Jack am Ende tatsächlich ermorden wird.

Mit dieser Grundeinstellung muss den bedauernswerten Jack Torrance in der Isolation allmählich der Wahnsinn überkommen. Es ist der Wahnsinn eines von ihm selbst artikulierten, aber nicht ernst genommenen inneren Konflikts, dem er durch Gewalt ausweicht. Denn er selbst schreibt über Hunderte von Seiten All work and no play makes Jack a dull boy („Nur Arbeit und kein Spiel macht Jack zu einem tumben Jungen“), aber seiner Frau Wendy gegenüber betont er schreiend in der Treppenszene , wie wichtig ihm Pflichterfüllung ist, sie stehe über allem, und nur sie begreife das nicht. Das ist keine Psychose, es ist eine halluzinatorisch endende Neurose – Wendy beantwortet das ganz zuletzt mit dem Schlag eines Baseballschlägers auf seinen Kopf

Die offiziösen Neurosen – eine Lehre aus The Shining

Es ist also kein persönlicher Wahnsinn, der hier beschrieben wird, nicht der Wahnsinn eines einsamen, von aus der Luft gegriffenen Visionen eines Geisterhauses geplagten Poeten. Es ist der politische Wahnsinn eines sozialdarwinistischen, frauenfeindlichen, kindesmissbrauchenden, rassistischen „Patrioten“, eines Nationalsozialisten, der sich selbst, am Ende mordend und danach sich in einem Labyrinth verirrend, in seinen alternativlos-vorhersehbaren Untergang manövriert.

Stanley Kubrick soll sich für übersinnliche Phänomene interessiert haben. In The Shining gibt er ihnen die Gestalt des politischen Zeitgeists. Ich denke, aus diesem Grund findet meine Frau The Shining „lustig“. Es ist kein klassischer Horrorfilm, es ist die Persiflage, die Farce über die Tragödie des Chauvinismus.

Lebe kritiklos in einem Haus, dass dich mit seinen identitären Ideologien überzieht, identifiziere dich kritiklos mit deiner Führung, sieh ihre Ideologie als deine Pflicht – und du wirst dich im Wahnsinn dieses Hauses, der nun deine eigenen Pflichtübung geworden ist, verirren und verenden. Und so ist am Ende Jack Torrance mit offenen Augen erfroren und erstarrt. Das ist der politische Horror. Da hatte Kubrick die USA schon verlassen. Er kehrte nie zurück. The Shining ist auch ein Film über das Exil des Stanley Kubrick. The Shining ist ein Film über jeden, der kritiklos der Führung vertraut und widerspruchslos in den offiziösen Neurosen seines eigenen Landes verharrt.

Jesko Matthes ist Arzt und lebt in Deutsch Evern

Sie lesen gern Achgut.com?
Zeigen Sie Ihre Wertschätzung!

via Paypal via Direktüberweisung
Leserpost

netiquette:

Stefan Leikert / 21.07.2017

Großen Bogen eingeschlagen…und am Ausgangspunkt angekommen. Was wollten Sie sagen, Herr Matthes?

Th. Paulke / 21.07.2017

Danke! ist was daran!

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen
Jesko Matthes / 16.02.2024 / 11:00 / 39

Wie man eine potemkinsche Landesverteidigung aufbaut

Deutschland erreicht das Zwei-Prozent-Ziel der NATO auf wundersame Weise ganz von alleine, und Boris Pistorius ist ein Genie. Boris Pistorius sieht Deutschland als militärisch-„logistische Drehscheibe in…/ mehr

Jesko Matthes / 24.11.2023 / 16:00 / 52

EMA: Niemand hatte die Absicht, eine Massenimpfung zuzulassen

Die EMA gibt gegenüber EU-Parlamentariern zu, dass die Covid-Impfstoffe nicht für die epidemiologische Verwendung zugelassen wurden. Die Impfkampagnen hätten auf einem "Missverständnis" beruht. Impfzwänge und…/ mehr

Jesko Matthes / 15.11.2023 / 16:00 / 7

Auf zu den Sternen! – Der Kosmonaut Igor Wolk

Heute vor 35 Jahren startete zum ersten und letzten Mal „Buran“, das sowjetische Space Shuttle. Was dem Kosmonauten und Testpiloten Igor Wolk widerfuhr, hat bleibende…/ mehr

Jesko Matthes / 29.08.2023 / 10:00 / 17

Fabio De Masi gegen Olaf Scholz: Der Trank des Vergessens

Im Gedächtnis bleibt uns immer nur das Entscheidende. Das Unwichtige, wie ein paar Millionen oder Milliarden ergaunerte Steuergelder, vergessen wir im Angesicht des Schönen, wie…/ mehr

Jesko Matthes / 25.07.2023 / 14:00 / 7

Hauptsache, die Brandmauer steht!

In Hintertupfenheim an der Wirra soll eine Brandmauer den Bürgermeister und seinen Möchtegern-Nachfolger vor politischen Zündlern schützen. Auch die Feuerwehr steht bereit. Doch dann wird…/ mehr

Jesko Matthes / 20.07.2023 / 13:00 / 37

Kurzkommentar: Einen Wodka-Söder, bitte!

Söder beruft sich wieder einmal auf seinen großen Vorgänger Franz Josef Strauß. Dabei kann man dem nun wirklich nicht nachsagen, die eigene Haltung nach Söder-Art immer wieder…/ mehr

Jesko Matthes / 13.07.2023 / 11:00 / 8

Milan Kundera, oder: Die Banalität des Guten

Mit dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ wurde Milan Kundera weltberühmt. Nun ist der tschechisch-französische Schriftsteller im Alter von 94 Jahren gestorben. Irgendwann im Herbst 1988 saß ich…/ mehr

Jesko Matthes / 25.05.2023 / 16:00 / 21

Goethe-Institut: Werde woke und lande als Joke

Der geistige Bankrott des Wokismus zieht weitere Kreise und erfasst zunehmend auch jene Stellen, die Deutschland international geistig repräsentieren. Ein Beispiel dafür liefert aktuell die…/ mehr

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com