Von Kathi Garnier.
Es ist soweit. C’est la rentrée ! (Übersetzt heißt das etwa so viel wie „Die Rückkehr findet statt!“). Der Begriff rentrée steht in Frankreich traditionell für die Rückkehr aus den großen Ferien im August. Die Idee der Sommerferien hat ihren Ursprung in den dreißiger Jahren, um der arbeitenden Bevölkerung von der französischen Volksfront (front populaire) Erholung zu bieten. Und zu dieser französischen Idee von Ferien gehört auch, dass nachher, im September, alles wieder von vorn anfängt: Arbeit und Schule. Der Alltag.
Heute, am ersten September, ist für meine dreijährige Tochter auch zum ersten Mal rentrée. Sie darf von heute an mit ihren gleichaltrigen Freundinnen und Freunden in die école maternelle gehen, eine kostenlose Vorschule, die drei Jahre dauert, bis die Kinder mit sechs Jahren in die école primaire (Pendant zur deutschen Grundschule) kommen.
Es ist der Tag der Tage. Wir haben heute morgen gefrühstückt, mein Mann hat extra frische Croissants für seine Prinzessin beim Bäcker besorgt. Das Schmetterlingskleid lag noch während des Frühstücks auf der Couch (um Marmeladenflecken zu vermeiden). Der kleine Schulranzen stand gepackt am Eingang. Nach dem Frühstück und noch viel zu früh, zogen wir die Schuhe und die Jacke an und mein Töchterlein stürmte fröhlich vor mir aus dem Haus.
Eigentlich wären wir mit der ganzen Familie zur Schule gekommen
Wir liefen gemeinsam nebeneinander zur Schule, und meine Tochter plapperte munter drauf los. Sie war ganz aufgedreht und stellte – wie üblich – viele Fragen. (Heute: Ob Viren lieb sein können und ob Gott auch in meinen goldenen Stiefeletten sei). Je länger wir aber liefen, desto langsamer wurde ihr Schritt. Auch ihr fröhliches Schnattern nahm merklich ab. Schließlich musste ich sie schon antreiben, da sie immer häufiger stehen blieb und nachdachte. Als wir das Schulgebäude von Weitem sehen konnten, fühlte ich plötzlich eine kleine Hand, die in meine Hand glitt (Mein Herz tat einen Sprung). Sie war nun ganz still.
Eigentlich wären wir an diesem ersten Schultag mit der ganzen Familie zur Schule gekommen, um diesen besonderen Tag zu feiern, aber wegen der Corona-Maßnahmen durfte nur ein Elternteil mitkommen, ganz kurz, nur eine halbe Stunde. (Die Klasse wurde in zwei Gruppen halbiert, damit nicht zu viele Eltern auf einmal in den Räumen waren.) Dann musste man der nächsten Gruppe Platz machen und das Schulgebäude verlassen. Wir wurden darüber schon im Voraus per Mail informiert.
Das Schulgebäude erinnerte mich ein wenig an eine Grundschule. Die Wände waren bunt, meistens gelb, blau oder orange gestrichen. Es hingen fröhliche Bilder an den Wänden und viel Selbstgebasteltes. Die Tische und Stühle waren alle niedrig. In jedem Klassenraum standen viele Regale und Schränke, aus denen Material für die Schulstunden quoll. Auf dem Boden der Flure waren Pfeile aufgeklebt, welche die Laufrichtung der Kinder anzeigen sollten. Wir wurden durch die Räume geschleust und von der Lehrerin durch die einzelnen Etappen gejagt. Fotos wurden geschossen, Hände gewaschen, Familienbilder gemalt und so weiter. Alles in einem Eiltempo und von vielen hektischen Anweisungen der Lehrerin begleitet, die wollte, dass wir binnen 30 Minuten fertig seien und auf keinen Fall zu lange in einem größeren Pulk herumstanden – um Cluster zu vermeiden.
Das Weinen früh eindämmen
„Die Rückkehr wird schwierig, wir müssen uns darauf vorbereiten“, hatte unser Präsident Emmanuel Macron uns schon zu Beginn des Sommers gewarnt. Nun war es soweit. Aber sind Frankreichs Schulen vorbereitet? Eine Freundin von mir, die an öffentlichen Schulen Englisch lehrt, meinte, die Schulen seien in der Art der Auslegung der Abstandsregelungen auf sich gestellt. Der Bildungsminister Jean-Michel Blanquer hatte nach dem Confinement (Lockdown) eine Maskenpflicht für alle Kinder ab elf Jahren eingeführt. In der Zwischenzeit hatten einige Ärzte und Lehrervertreter einen öffentlichen Brief in der Tageszeitung Le Parisien veröffentlicht, worin gefordert wurde, dass Kinder bereits ab sechs Jahren, also ab der école primaire, Masken tragen sollten.
„Es darf nicht alles von der 'Gesundheitsrealität' (réalité sanitaire) erdrückt werden“, verteidigte der Bildungsminister im Journal du dimanche jedoch seine Entscheidung, jüngeren Kindern diese Masken nicht zuzumuten, da kleinere Kinder sich auch schnell mal die Masken vom Gesicht reißen würden und damit natürlich auch die Lehrkräfte überfordert seien. Heute ist es jeder Schule überlassen – auch abhängig davon, ob sich die Schule in einem offiziellen Risikogebiet befindet oder nicht –, die Maskenpflicht ab sechs Jahren einzuführen. Zum Glück sind in der Vorschule nur die Erwachsenen, also das Personal, verpflichtet, die Maske zu tragen, denn ich hätte mir nicht vorstellen können, dass meine kleine Tochter die Maske auch nur eine halbe Stunde freiwillig anbehalten hätte.
Dass wir in zwei Gruppen aufgeteilt waren, hatte theoretisch auch seinen Vorteil. Ich hatte nämlich gehört, wenn ein Kind weinen sollte, dass dann die anderen Kinder – aus Solidarität oder wegen Gruppendruck – auch weinen würden und dass dann die ganze Klasse weinen würde. In kleinen Gruppen konnte man also – ganz wie bei den Viren-Clustern – das Weinen früh eindämmen. Doch in der Praxis war es schrecklich. Alle Kinder weinten wie auf Knopfdruck los. Meine Tochter war die Einzige, die nicht weinte, sie saß aber mit großen Augen inmitten der weinenden Kinder und blickte etwas verstört drein. Ganz im Bann der neuen Eindrücke hatte sie wohl einfach vergessen zu weinen. Die Lehrerin gab mir zu verstehen, dass ich bitte schnell den Klassenraum verlassen sollte, um den Abschied nicht unnötig in die Länge zu ziehen.
Statt Leichtigkeit eine tiefe Melancholie
Ganz aufgewühlt verließ ich das Schulgebäude. Irgendwie hatte ich mich nach all den Monaten der Corona-bedingten Klausur mit meiner Familie immer so sehr auf diesen Schulstart gefreut, weil dies auch etwas Entlastung für mich bedeutete, mehr Selbstbestimmung und schließlich auch die Möglichkeit, endlich wieder meiner Arbeit nachgehen zu können. Doch als ich dieses kleine Mädchen mit ihrer roten Brille und ihren zwei braunen Flechtezöpfen in ihrem Schmetterlingskleid in dem Haufen heulender Kinder zurücklassen musste, zog sich mir das Zwerchfell zusammen. Wie konnte es sein, dass dieses kleine Wesen, das vor etwas mehr als drei Jahren ganz blutverschmiert mit einem Notkaiserschnitt aus mir herausgeholt worden war, jetzt plötzlich so ein großes Mädchen war? Ach, es tat doch ziemlich weh.
Und als ich wieder nach Hause ging, stellte sich anstelle der Leichtigkeit, die ich eigentlich voller Vorfreude seit Wochen erwartet hatte, eine tiefe Melancholie ein. Und als ich zu Hause meinen Mann sah, heulte ich los.
Als wir am Nachmittag alle gemeinsam unsere Kinder abholten, lief sie uns strahlend entgegen. Die Lehrerin nickte uns und den anderen Eltern freundlich zu. Trotz der Abstandsregelungen und trotz der Masken, welche die Lehrerinnen den ganzen Tag tragen mussten, schien mir die allgemeine Stimmung sehr gelöst. Mir schien, Eltern und Lehrer waren froh, den ersten Tag ohne schlimmere Katastrophen überstanden zu haben. Auch schienen wir alle erleichtert über die mehr oder weniger zurückgewonnene Normalität, die „Rückkehr“ zu einer Art Alltag.
Das Jahr 2020 hatte meiner Tochter einen skurrilen Start in eine sehr lange Schulzeit beschert. Ich hätte ihr einen entspannteren Anfang gewünscht, irgendwie normal und ohne hektische und maskierte Lehrerschaft, die offensichtlich etwas mit den Hygiene- und Abstandsregeln überfordert war. Und doch konnte ich die Lehrerinnen auch gut verstehen. Für sie war es sicher auch nicht leicht, neben der allgemeinen Hektik, die so ein beginnendes Schuljahr mit sich brachte, auch noch die ganzen neuen Verordnungen zu respektieren. Hinzu kam, dass sie ja auch den ganzen Tag Masken trugen, was sicher auch nicht einfach war.
Als ich meine Tochter auf dem Heimweg fragte, wie der heutige Tag denn gewesen sei, meinte sie zufrieden: „Heute gab es frîtes zu mittag.“ – Wir hatten wohl beide den ganzen Tag an etwas anderes gedacht. „La rentrée se passe plutôt bien“, konstatierte mein Mann und zwinkerte mir zu.
Kathi Garnier, geb. 1981 in Baden-Württemberg als Tochter polnischer Einwanderer und ehemaliger Solidarność-Aktivisten. Sie studierte Philosophie und Gender Studies in Münster, Berlin und Paris. Sie lebt heute in Frankreich. Neben Familie und Beruf beschäftigt sie sich in ihrem Blog „On n'en fait pas un fromage“ mit Literatur und gesellschaftlichen Themen.