Burkhard Müller-Ullrich / 07.09.2014 / 23:32 / 3 / Seite ausdrucken

Scheidung auf Schottisch

Angesichts der heutigen Scheidungsraten ist es kein Wunder, daß inzwischen auch immer mehr Landesteile, Volksstämme und Regionen an Trennung denken. Engländer und Schotten haben es zwar schon mehr als 300 Jahre miteinander ausgehalten, aber es war nicht gerade eine Liebesheirat, sondern da ist richtig Blut geflossen. Und gerade die Tatsache, daß man schon lange zusammen ist, bietet keinerlei Gewähr dafür, daß man es bleibt, sondern im Gegenteil: das Risiko steigt mit der Dauer der Beziehung.

Es mag zwar sonderbar und unpassend erscheinen, Nationen als Personen zu betrachten. Doch geht es in der Tat um Fragen, die eher dem Affektleben als der politischen Sphäre von Interessen und Ideologien zuzurechnen sind. Für die Schotten gibt es keinen rationalen Grund, der es als geboten erscheinen ließe, aus dem Vereinigten Königreich von Großbritannien auszutreten, genausowenig wie es einen solchen Grund für Tschechen und Slowaken gab oder für Flamen und Wallonen in Belgien gibt, von der Auflösung Jugoslawiens ganz zu schweigen.

Trotzdem feiert der Separatismus in unserer Zeit Triumphe, nachdem die Tendenz der letzten zwei Jahrhunderte immer auf Vergrößerung und Zusammenschluß von territorialen Einheiten gerichtet war. Und selbstverständlich hängt beides historisch zusammen: das Erstarken der Nationalstaaten und die Autonomiebestrebungen ihrer Teile. Heute entwickelt sich unter dem Horizont der Globalisierung und der europäischen Homogenisierung ein neues Selbstbewußtsein der Regionen, das mit dem alten Nationalstolz konkurriert.

Auf der Gefühlsebene ist das, wie wenn sich jemand von seinem Partner einzig und allein aus dem Bedürfnis nach Alleinsein lossagt. Die Ehe zwischen Engländern und Schotten ist nicht schlecht, es kommt zwar zu Zankereien wie in jeder Familie, aber im Grunde achtet und bis zu einem gewissen Grad mag man einander. Wäre da nur nicht dieses verzehrende Verlangen nach Autonomie. Man kann es in objektiven Kategorien gar nicht beschreiben. Es ist eine köstliche Phantasie, die in die Köpfe steigt und ungeahnte Wirkungskraft entwickelt.

Bis gestern hielten so gut wie alle Beobachter das schottische Unabhängigkeitsreferendum für chancenlos. Schon das Totschlagargument des Währungsverlustes schien den Fortbestand der britischen Union zu garantieren. Es werde doch niemand ernsthaft das Britische Pfund gegen etwas Unbekanntes eintauschen wollen, erklärten die Experten. Doch seit gestern gilt das nicht mehr. Die süße Lust, sich als Schotte sozusagen in der ganzen Vollständigkeit eines eigenen Staates zu erschaffen, überwiegt sämtliche Bedenken. Solche Trennungen bieten immerhin die Chance, daß es am Ende heißt: Wir wollen aber Freunde bleiben.

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Dr. Nathan Warszawski / 08.09.2014

Die geistige Elite Deutschlands predigt uns ununterbrochen, dass der Nationalstaat abgeschafft gehört. Die Gründung eines unabhängigen Schottlands wäre dann ein Anachronismus. Wie hoch ist der Anteil der Engländer in England? Wie hoch der Anteil der indigenen Deutschen in Berlin? Wollen die Schotten einen eigenen Staat, um ihre Generation reinzuhalten? Viel wahrscheinlicher fürchten sie sich vor einem kulturellen Identitätsverlust, wie er im Großraum London und manch anderen Städten in England stattfindet. Nicht jeder sehnt sich nach einer Scharia-Polizei, auch wenn nachts die Straßen sicherer werden sollten.

Martin Lahnstein / 08.09.2014

Unblutiges (Wieder-)Entstehen von Nationen hat was. Macht übt dann allenfalls die Tourismusbranche aus, Einfluss haben auch Folklore-Verbände. Ein “Neurussland” könnte in diversen Vergnügungsparks gleich mehrfach angeboten werden.  Man denke auch an Nationen in virtuellen Welten wie “secondlife”.

Franz Roth / 08.09.2014

Erstmal: Engländer und Schotten halten es seit ziemlich exakt 258 Jahren miteinander aus und nicht “seit über 300 Jahren”. Die Schlacht bei Culloden war im Jahr 1746 und erst in deren Folge wurde die Eingliederung des vordem selbstständigen Landes in ein englisch dominiertes Großbritannien besiegelt. Des weiteren ist Großbritannien kein Nationalstaat. Denn es gibt keine Nation der “Großbriten”. Es gibt Engländer, Schotten, (Nord-) Iren, Waliser und Kornische. Eine Nation macht sich u.a. daran fest, dass sie eine gemeinsame Sprache als Muttersprache hat. Und Englisch ist nur die Muttersprache der Engländer. Iren und Schotten sprechen Gälisch und auch Waliser und Kornische haben alte keltische Sprachen als Muttersprache. Dass alle natürlich (auch) englisch sprechen ist so ziemlich das gleiche, wie Bretonen, Flamen, Elsässer, Lothringer, Korsen, Basken, Katalanen, Italiener und Provençalen in Frankreich natürlich auch französisch sprechen. Diese sog. “Nationalstaaten” sind zu einem Großteil vom 17. bis hinein ins 20. Jahrhundert durch Annektionen, Abtretungen etc. entstanden. Sie haben mit den in ihnen lebenden Nationen zum Großteil herzlich wenig zu tun. Ein autonomes Schottland, das ist dann ein Nationalstaat. Wie es auch ein von Spanien unabhängiges Katalonien wäre.

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