Silvia Meixner / 04.12.2011 / 23:20 / 0 / Seite ausdrucken

Schau mir in den Ausschnitt, Kleiner

Wie kleine, wagemutige Perlen, die die Erdanziehungskraft verleugnen wollen, laufen die Wassertropfen an den Innenseiten der Glasscheiben nach unten, wo der uralte Fensterrahmen sie doch nur stoppen wird. Seit 1916 findet im Gasthaus „Zur Eisernen Zeit“ an kalten Winterabenden dieser Wettlauf ohne Gewinner statt. Die Gäste schauen zu oder sie schauen in ihr Bier oder sie schauen der Wirtin ins atemberaubende Dekollete. Oder sie essen etwas. „Hauerweine“ steht auf einem Schild über der uralten Theke, dass es so etwas noch gibt! Wo doch heute viele der österreichischen Winzer ohne die Prädikate „Nobel“ oder „Edel“ gar nicht mehr in den Weingarten gehen wollen und einen Gutteil ihrer Zeit offensichtlich damit verbringen, auf Partys den Eigenwert zu erhöhen.

Weinhauer ist kaum noch jemand; alle sind jetzt Promi-Winzer. In der „Eisernen Zeit“ waren sie vermutlich noch nie, denn dieser Ort ist nicht schick genug, um sogenannte „Prominente“ (halb Wien ist voll davon!) anzuziehen. Das ist gut so, denn deshalb trifft man hier nur weitgehend ehrliche, ungeschminkte Leute. Ebenso ehrlich ist die Abrechnung hier: Für zwei Semmelknödel mit Gulaschsaft stehen rührend-warmherzige vier Euro auf der Rechnung, das Gulasch kostet natürlich ein bisschen mehr, weil auch Fleisch drinnen ist, viele Stammgäste halten es für das beste von Wien. Oder sie bestellen gleich das „Marktfahrermenü“, das aus einem kleinen Gulasch, Gebäck (so nennt man in Wien die begleitende Schrippe) und einem Tee mit Zitrone besteht.

Das alkoholfreie Menü wurde für Menschen erfunden, die es im 21. Jahrhundert gar nicht mehr gibt, denn hier steht kein Marktfahrer auf, um nach einer kurzen Pause wieder seinen Geschäften nachzugehen. Hier, am Naschmarkt, Stand 316, will man an langen Winterabenden sitzenbleiben. Einfach nur sitzenbleiben. Die Zeit vergessen. Das Beisl heißt „Zur Eisernen Zeit“, weil man an diesem Ort im Ersten Weltkrieg Gold gegen Eisen für die damals benötigten Kanonen eintauschen sollte, das kleine Wirtshaus eröffnete im Jahr 1916.

Die Zeit, sie wird eisern, die geleerten Weingläser, sie werden mehr. Auf dem alten, geölten Schiffboden sitzt man auf alten Sesseln an alten Tischen und schaut auf den Tresen und vergilbte Wände. Das klingt schlimm, ist es aber nicht! Es ist wie mit zauberhaften Orten wie dem „Hawelka“ – würde man hier beherzt renovieren, könnte man den Laden gleich zusperren. Und deshalb möchten viele Gäste gern lange bleiben, aber irgendwann sperrt auch die „Eiserne Zeit“ zu. Im neuen, hippen Global-Cooking-Trend des Wiener Naschmarktes ist das kleine Gasthaus wie ein Ufo, das hier irrtümlich gelandet ist, aber bleibt, weil die Besucher so nett sind und der Commander sich in die Hauerweine und/oder die freundliche Wirtin verliebt hat.

Ein paar Schritte nur sind’s bis zur „Secession“, einem jener Orte, die im kommenden Jahr einen Ansturm erleben werden, denn hier unter anderem wirkte der große Gustav Klimt und der feiert 2012 seinen 150. Geburtstag (http://www.klimt2012.info). Er ist Mitbegründer der Wiener Secession, einer Vereinigung bildender Künstler, die am 3. April 1897 ihren Siegeszug antrat. Aus ihr sollte später die Wiener Variante des Jugendstils entstehen, der Secessionsstil. Koloman Moser, Josef Hoffmann, Joseph Maria Olbrich, Josef Engelhart und andere Künstler spalteten sich mit der neuen Bewegung vom Wiener Künstlerhaus ab, weil sie den vorherrschenden Konservatismus und den traditionellen Kunstbegriff ablehnten. Sie waren jung, sie wollten etwas Neues. Und gleich ein Haus dazu. 1898 wurde das Haus, nur einen Steinwurf vom berühmten heutigen Naschmarkt nach Plänen Olbrichs erbaut, in nur sechs Monaten war es fertig.

Die Wiener überschütteten es, da die meisten mit der neuen Kunstrichtung nur wenig anfangen konnten, mit Spott. „Ägyptisches Königsgrab“ klang vergleichsweise noch nett. Der Spottname „Krauthappl“, der sich über die goldene Kuppel des weißen Gebäudes lustig machte, blieb bis heute erhalten, kein Fremdenführer vergisst, ihn zu erwähnen. Das Krauthappl ist eine imposante Kuppel aus 3000 vergoldeten Blättern und 700 Beeren. Die Deutsche Wehrmacht steckte das Gebäude bei ihrem Abzug in Brand, die Wiener haben es wieder aufgebaut. Denn irgendwie hatten sie es, bei aller Kritik, doch auch liebgewonnen, das goldene Ding. Das alles sollte man wissen, bevor man nach dem Besuch des schönen Hauses, in dem immer noch Ausstellungen stattfinden, rübergeht, in die „Eiserne Zeit“. 

Silvia Meixner ist Wienerin, Journalistin und Herausgeberin von http://www.good-stories.de

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