Silvia Meixner / 07.06.2016 / 09:42 / 0 / Seite ausdrucken

Silvis Culture Club: Briefarbene Gardinen, wo Margo einst Tee trank

Ein schwüler Sommerabend in Berlin. Windstill, fast. Nur leise wehen die Gardinen. Sie sind briefarben. Gardinen wie Brie. Durchsichtig, aus jenem Stoff, der aussieht wie 300 Prozent Polyester. Briefarben, darauf haben sich die Gäste geeinigt. Der Ort strahlt immer noch Schrecken aus. Jene Art von Schrecken, über die so viel Gras wachsen kann, wie will; es wird immer schreckliche Erinnerung bleiben.

Aber die Frau, die mit Moderator Alexander Kissler an dem großen Tisch Platz genommen hat, hat Trost in Form ihres wunderbaren Buches mitgebracht: Cora Stephan, Achse-Autorin und Schriftstellerin, liest aus ihrem Roman „Ab heute heiße ich Margo“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch). Das Buch erzählt die Lebensgeschichten von zwei deutschen Frauen, es beginnt im Stendal der 30er-Jahre. Margo ist Lehrling in der Buchhaltung, Helene Fotografin. Sie lieben denselben Mann. Der Krieg trennt sie, die deutsche Teilung trennt sie noch unerbittlicher – und trotzdem bleiben sie beide miteinander verbunden, denn sie haben ein Geheimnis. Ein Teil des Buches spielt am Ort der Lesung, in der ehemaligen MfS-Zentrale, heute das Stasi-Museum. Hier trank eine der Frauen Tee mit Stasi-Hans. Und später hatte Erich Mielke in dem Gebäude sein Büro. Man kann es heute besichtigen. Wie gesagt, es ist ein Ort des Schreckens.

Während Cora Stephan liest, bewegt ein leichter Luftzug die briefarbenen Gardinen. Die Gedanken verlassen für ein paar Sekunden den Raum, huschen durch das Haus, durchstreifen den kargen Hof. Plattenbau an Plattenbau. In der Nachbarschaft steht ein riesiges Haus, in dem heute viele Flüchtlinge leben. In den Fenstern haben einige Wäsche zum Trocknen aufgehängt, andere die Flagge ihrer Heimat. Man möchte nicht wissen, was Erich Mielke darüber gedacht hätte.

„Dieser Stoff ist Hollywood!“, sagt Alexander Kissler über das Margo-Buch. Im Stasi-Museum in Lichtenberg fanden schon häufig Dreharbeiten statt, von „Weißensee“ bis „Das Leben der Anderen“. Regisseure, die das Glück hatten, nicht in der DDR zu leben, geben ihre Drehbücher dann gern vorab dem Museums-Chef Jörg Drieselmann zum Gegenlesen. Damit alles korrekt und geschichtstreu ist. Es sind oft die kleinen Nuancen, die zählen. Wie war das damals? Wie hat jemand wie Mielke gesprochen? Seit 16 Jahren ist er nun schon tot. Und gab es zu DDR-Empfängen wirklich bevorzugt Schnittchen mit Wurst statt mit Käse? Das skurrile Thema kommt auf, weil es bei der ganz wunderbaren Lesung nur ganz wunderbare Wurststullen gibt.

Das Museum ist ein erfolgreiches Haus, rund 110.000 Besucher zählt man hier im Jahr. Raum 512, der mit den briefarbenen Gardinen, kann man für Veranstaltungen mieten.  Holzvertäfelung, ein Tisch, an dem einst ein Polizeioberster saß, Originalstühle aus einem DDR-Kulturhaus. An der Wand hängt eine Uhr. Sie sieht aus, als würde sie schon seit Jahrzehnten hier ihren Dienst versehen. Aber Jörg Drieselmann hat sie nach der Wende bei ebay ersteigert. Sie tickt nicht mehr. Sie zeigt  5 vor 12.  

Silvia Meixner ist Journalistin und Herausgeberin von www.good-stories.de
 

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