Fabian Nicolay / 03.10.2021 / 06:15 / Foto: wellcomeimages.org / 81 / Seite ausdrucken

Politiker Bashing und Pawlowsche Reflexe

Politiker sind auch Menschen, die zweifeln können, die verzweifelt nach Wegen suchen und scheitern dürfen. Das darf man ihnen nicht absprechen. Für deren Wirken sind im übrigen auch ihre Wähler verantwortlich.

Mittelmaß und Unfähigkeit sind beliebte Zuschreibungen, wenn „normale" Menschen über Politiker reden. Politiker-Bashing ist die verbale Rache von Leuten, die sich ohnmächtig fühlen gegenüber einer zu immer größerer Abgehobenheit neigenden politischen Elite, deren Legitimität in der Anhäufung von Versagen und Ignoranz zu schwinden scheint. Aber ist das wirklich so? Neigen wir nicht zu Pawlowschen Reflexen, wenn wir alle Figuren des politischen Theaters mit faulem Gemüse bewerfen, nur weil wir uns ihnen fremd fühlen? Oder sind wir tatsächlich schon so weit abgehängt, frustriert und resigniert, dass wir zu keiner Empathie-Leistung gegenüber den Volksvertretern mehr fähig sind? Auch darum ging es in der Wahl: Sich Menschen auszusuchen, denen man zutraut, den Auftrag zur Vertretung der eigenen Interessen zu erfüllen, und die man halbwegs sympathisch findet – auch wenn man später davon überzeugt ist, man hätte alles viel besser machen können.

Ja, es mutet lächerlich und verlogen an, wenn Politiker im Wahlkampf von „Augenhöhe“ sprechen, mit der man den Bürgern begegnen wolle. Solche Beschwichtigungs- und Beschwörungsformeln wurden schon zu oft von der Realität der Legislaturperioden entlarvt, in denen sich die Macht verselbstständigt hatte. Die größtmögliche Distanz zum Wahlvolk scheint geradezu zum Markenzeichen deutscher Politik geworden zu sein: Es wurde wenig erklärt, dafür übermäßig belehrt. Es wurde nicht diskutiert, es wurde exekutiert. Es wurde nicht abgewogen, was angemessen wäre, sondern noch „eine Schippe oben drauf gelegt“ von dem, was sich allerorten als Beschneidung der Freiheitsrechte herausstellte. Auch wenn sich mancher gewünscht hatte, dass diese Fehlentwicklungen per Urnengang eingeäschert würden ... Das Ergebnis der Wahl zeigt deutlich, dass in dieser Frage große Uneinigkeit im Wahlvolk vorherrscht.

Eine freie, demokratische Wahl bietet trotzdem immer die Möglichkeit, gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Dafür müssen gegensätzliche Spielkräfte gestärkt werden. Das ist am vergangenen Sonntag – wenn auch im Kleinen – geschehen. Der römische Philosophenkaiser Marc Aurel beschrieb das so: „Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. Wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann, der befiehlt es.“ Wer wählen geht, kann das. Es wäre eine fatale Unterlassung gewesen, wenn nicht am vergangenen Sonntag den „Volksparteien“ der Auftrag zum „Weiter so“ irgendwie entzogen worden wäre. Den kleineren Parteien aber haben die Wähler den Auftrag erteilt, die große Kompromissformel zu finden, die unser Land davor bewahren soll, zwischen puren Ansprüchen aus gesinnungsmoralischem Ökologismus und innovativ-wohlstandsorientiertem Industriestandort zerrissen zu werden. 

Die Qual der Wahl ist eine Metapher für die verdrießliche Tatsache, dass Kompromisse mit schmerzlichen Zugeständnissen verbunden sind. In einer sich immer mehr polarisierenden Welt tritt diese Kulturleistung leider immer mehr in den Hintergrund und wird diskreditiert als Schwäche oder Verrat an Idealen. Das gilt für die Vertreter der politischen Parteien, die dem Druck von wirkmächtigen „Narrativen“ (Klima, Gender, Corona) nicht standhalten, wie für die Bürger, die sich im Kampf um vermeintliche Wahrheiten in den Meinungslabyrinthen der Social-Media-Kanäle verirrt haben. 

So gesehen ist der Kompromiss als das Eingeständnis allgemein menschlichen Unvermögens zu sehen: Es gibt nicht die eine Wahrheit. Wer das behauptet, ist Ideologe oder Radikalgläubiger, aber nicht Demokrat. Politiker sind auch Menschen, die zweifeln können, die verzweifelt nach Wegen suchen und scheitern dürfen. Das darf man ihnen nicht absprechen. Das Problem sind die enormen Schäden, die ihr Wirken auslösen kann. Es ist aber ein kolossaler Irrtum zu glauben, nur Politiker seien verantwortlich: Jeder Wähler, der eine Partei oder Person wählt, übernimmt damit persönliche Verantwortung. Wer damals Angela Merkel gewählt hat und am vergangenen Sonntag ihre geistigen Nachfolger der beiden „großen“ Parteien, übernimmt die Verantwortung für deren Politik gestern und morgen. Wer Grün oder Gelb gewählt hat, möchte vielleicht vieles oder alles ändern, muss sich aber auch hier in ein paar Jahren fragen lassen, ob seine Wahl weise war.

Kompromisse sind schwer auszuhandeln und oft noch schwerer zu ertragen. Auch hier hatte der Stoiker Marc Aurel einen goldenen Gedanken: „Übe dich auch in den Dingen, an denen du verzweifelst.“

Foto: wellcomeimages.org CC-BY 4.0 via Wikimedia Commons

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Leserpost

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Hans-Peter Dollhopf / 03.10.2021

Herr Pfeiffer, Sie schreiben, dass Politiker “im Großen und Ganzen in ihrem politischen Handeln in etwa und offensichtlich eins sind mit denen, von denen sie an die Macht gewählt wurden.” Dazu müsste man tatsächlich eine Idee haben, was sich nun unter der Wasseroberfläche befindet. Verwechseln Sie die Spitze des Eisberges nicht mit dem Großen und Ganzen.

Max Anders / 03.10.2021

Wohl dem, der in Verkennung der aktuellen Situation immer noch an das Gute glaubt. Allein es wurde “diese Regierung” nicht abgewählt sondern lediglich umsortiert. Denn es besteht die Möglichkeit, daß sie genau so weiterwursteln darf, nur mit einem ausgewechselten Kapitän, der von der zweiten Reihe in die erste rutscht. Und wenn einer wie Lauterbach in seinem Wahlkreis Wuppertal mit 40% der Stimmen direkt gewählt wird, dann kann das nur an der tiefen Sympathie liegen, welche die Talbewohner der Wupper diesem Wesen entgegenbringen. Zwischen politischen Fehlern und fast schon bösartigem autoritärem gehabe liege Welten. Schlimm nur, daß zu viele Leute letzteres nicht erkennen wollen…

Peter Groepper / 03.10.2021

Herr Nicolay, “die Bürger, die sich im Kampf um vermeintliche Wahrheiten in den Meinungslabyrinthen der Social-Media-Kanäle verirrt haben” sind nicht im Sumpf der öffentlich rechtlichen vermeintlichen Einheitswahrheit erstickt.

Hans-Peter Dollhopf / 03.10.2021

Thomas Schmidt schreibt: “Deutsche Politiker dienen amerikanischen Interessen,” Wow! Habe ich Helge Lindh jetzt ehrlich gesagt nicht angesehen. Wie leicht werde ich doch hinter die Fichte geführt! Tz tz tz ...

Fred Burig / 03.10.2021

@Sabine Schönfelder: “...Dabei sein ist alles in einem totalitären System. Sind Sie auch dabei” Sehr geehrte Frau Schönfelder, ich glaube uns vereint noch mehr, als das Streben nach Freiheit und Gerechtigkeit, es geht um Wahrheit! Das verlogene System der politischen Machthaber lähmt den politischen Diskurs. Viele “Zielsuchende” wissen nicht, wen man noch trauen kann. Fast bin ich an den Punkt angelangt, dass das alles es nicht mehr ohne Gewalt geändert werden kann. Selbst wenn wir uns die Finger wund schreiben, es dringt nicht die in die Gehirne der Menschen ein. Aber “Resignieren” ist keine Option! Dann doch lieber die gewaltbereite Konfrontation. Und wenn es uns noch ein paar Jahre zufriedene Lebenszeit bringt, war es doch der Sache wert!  Und nochmal: Ich schätze Ihre Kommentare außerordentlich! Danke ! MfG

Günter Schaumburg / 03.10.2021

@Sabine Schönfelder. Danke, brauche nichts zu schreiben.

Stephan Maillot / 03.10.2021

Nüchtern betrachtet geht es doch um die Fähigkeit eines solchen Systems, überhaupt noch geeignetes Führungspersonal hervorzubringen. Der Begriff der Empathie geht in die Irre, so sehr allgemein ein empathisches gesellschaftliches Klima wünschenswert sein mag. Die Akzeptanz des Parteienstaates hängt daran, ob er der Aufgabe gerecht wird, Menschen an die Spitze zu bringen, die in der Lage sind die Politik des Staates führen. Ohne dass allzu großen Verwerfungen produziert werden. Die Toleranz der Menschen ist hier mutmaßlich zwar groß. Die meisten ahnen schon, dass sich in die Politik nicht nur Überflieger verirren, und in anderen Bereichen der Gesellschaft letztlich kreativer und klüger agiert wird. Aber ein gewisses Niveau dauerhaft zu unterschreiten, ist auf Dauer gefährlich, vor allem, wenn Diktaturen in einer weltweiten Systemkonkurrenz hier gefühlt besser abschneiden sollten.

Karla Kuhn / 03.10.2021

“Politiker sind auch Menschen, die zweifeln können, die verzweifelt nach Wegen suchen und scheitern dürfen.”  Natürlich sind sie in erster Linie Menschen und keinen Deut besser als der “Normalo.” Wenn die meisten Politiker allerdings länger als vier Jahre an der Mach sind, werden vermutlich viele/etliche größenwahnsinnig, bilden sich ein über anderen Menschen zu stehen, zumal viele/etliche nicht mal einen Berufsabschluß besitzen und mit jedem Jahr, in dem sie länger Macht “geschnuppert ” haben, scheinen sie immer mehr die Bodenhaftung zu verlieren. Und solche Typen wollen uns regieren ? Ihr einziger Auftrag, warum sie gewählt werden ist, daß sie zu UNSEREM WOHL regieren und dabe äußerst KORREKT mit den vom VOLK erarbeiteten Steuergeldern umzugehen haben !! “Für deren Wirken sind im übrigen auch ihre Wähler verantwortlich.”  Natürlich sind auch viele Wähler, die nicht nachdenken, die wahrscheinlich aus Bequemlichkeit oder weil sie einen großen Nutzen daraus ziehen oder aus einem anderen Grund immer wieder die selben Typen wählen,  mit verantwortlich. Aber Ihnen allein die Schuld in die Schuhe zu schieben,  wäre zu billig!  Die alleinigen VERANTWORTLICHEN sind und bleiben DIE !  POLITIKER, die ihre Macht mißbrauchen. Auch unter Helmut Schmidt ging sicherlich nicht alles “sauber” zu aber Schmidt hatte neben seinem eigenen Vorteil auch immer das Wohl des Volkes im Auge!  Hans Kloss, “Die Wahl wurde doch mit viel Enthusiasmus wahrgenommen - in manchen Wahlkreisen gab es 150%  Partizipation!”  Bettrifft das nicht BERLIN ?? Dort wo eh schon die “Sozialisten”  R-R-G regieren?? Scheint zu passen!  Honecker hatte auch immer 99,9 Prozent ! Rechnen scheint wirklich für etliche eine große Hürde zu sein.  Ben Goldstein, BITTE nicht das Wort “ELITE” verwenden!  Ich sehe weit und breit KEINE!  Volker Kleinophorst,  “Warum? Sie hat schon Alles verbraten.” Besser hätten Sie es nicht ausdrücken können. Robert Ballhaus, HERVORRAGEND !

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