Politiker sind auch Menschen, die zweifeln können, die verzweifelt nach Wegen suchen und scheitern dürfen. Das darf man ihnen nicht absprechen. Für deren Wirken sind im übrigen auch ihre Wähler verantwortlich.
Mittelmaß und Unfähigkeit sind beliebte Zuschreibungen, wenn „normale" Menschen über Politiker reden. Politiker-Bashing ist die verbale Rache von Leuten, die sich ohnmächtig fühlen gegenüber einer zu immer größerer Abgehobenheit neigenden politischen Elite, deren Legitimität in der Anhäufung von Versagen und Ignoranz zu schwinden scheint. Aber ist das wirklich so? Neigen wir nicht zu Pawlowschen Reflexen, wenn wir alle Figuren des politischen Theaters mit faulem Gemüse bewerfen, nur weil wir uns ihnen fremd fühlen? Oder sind wir tatsächlich schon so weit abgehängt, frustriert und resigniert, dass wir zu keiner Empathie-Leistung gegenüber den Volksvertretern mehr fähig sind? Auch darum ging es in der Wahl: Sich Menschen auszusuchen, denen man zutraut, den Auftrag zur Vertretung der eigenen Interessen zu erfüllen, und die man halbwegs sympathisch findet – auch wenn man später davon überzeugt ist, man hätte alles viel besser machen können.
Ja, es mutet lächerlich und verlogen an, wenn Politiker im Wahlkampf von „Augenhöhe“ sprechen, mit der man den Bürgern begegnen wolle. Solche Beschwichtigungs- und Beschwörungsformeln wurden schon zu oft von der Realität der Legislaturperioden entlarvt, in denen sich die Macht verselbstständigt hatte. Die größtmögliche Distanz zum Wahlvolk scheint geradezu zum Markenzeichen deutscher Politik geworden zu sein: Es wurde wenig erklärt, dafür übermäßig belehrt. Es wurde nicht diskutiert, es wurde exekutiert. Es wurde nicht abgewogen, was angemessen wäre, sondern noch „eine Schippe oben drauf gelegt“ von dem, was sich allerorten als Beschneidung der Freiheitsrechte herausstellte. Auch wenn sich mancher gewünscht hatte, dass diese Fehlentwicklungen per Urnengang eingeäschert würden ... Das Ergebnis der Wahl zeigt deutlich, dass in dieser Frage große Uneinigkeit im Wahlvolk vorherrscht.
Eine freie, demokratische Wahl bietet trotzdem immer die Möglichkeit, gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Dafür müssen gegensätzliche Spielkräfte gestärkt werden. Das ist am vergangenen Sonntag – wenn auch im Kleinen – geschehen. Der römische Philosophenkaiser Marc Aurel beschrieb das so: „Oft tut auch der Unrecht, der nichts tut. Wer das Unrecht nicht verbietet, wenn er kann, der befiehlt es.“ Wer wählen geht, kann das. Es wäre eine fatale Unterlassung gewesen, wenn nicht am vergangenen Sonntag den „Volksparteien“ der Auftrag zum „Weiter so“ irgendwie entzogen worden wäre. Den kleineren Parteien aber haben die Wähler den Auftrag erteilt, die große Kompromissformel zu finden, die unser Land davor bewahren soll, zwischen puren Ansprüchen aus gesinnungsmoralischem Ökologismus und innovativ-wohlstandsorientiertem Industriestandort zerrissen zu werden.
Die Qual der Wahl ist eine Metapher für die verdrießliche Tatsache, dass Kompromisse mit schmerzlichen Zugeständnissen verbunden sind. In einer sich immer mehr polarisierenden Welt tritt diese Kulturleistung leider immer mehr in den Hintergrund und wird diskreditiert als Schwäche oder Verrat an Idealen. Das gilt für die Vertreter der politischen Parteien, die dem Druck von wirkmächtigen „Narrativen“ (Klima, Gender, Corona) nicht standhalten, wie für die Bürger, die sich im Kampf um vermeintliche Wahrheiten in den Meinungslabyrinthen der Social-Media-Kanäle verirrt haben.
So gesehen ist der Kompromiss als das Eingeständnis allgemein menschlichen Unvermögens zu sehen: Es gibt nicht die eine Wahrheit. Wer das behauptet, ist Ideologe oder Radikalgläubiger, aber nicht Demokrat. Politiker sind auch Menschen, die zweifeln können, die verzweifelt nach Wegen suchen und scheitern dürfen. Das darf man ihnen nicht absprechen. Das Problem sind die enormen Schäden, die ihr Wirken auslösen kann. Es ist aber ein kolossaler Irrtum zu glauben, nur Politiker seien verantwortlich: Jeder Wähler, der eine Partei oder Person wählt, übernimmt damit persönliche Verantwortung. Wer damals Angela Merkel gewählt hat und am vergangenen Sonntag ihre geistigen Nachfolger der beiden „großen“ Parteien, übernimmt die Verantwortung für deren Politik gestern und morgen. Wer Grün oder Gelb gewählt hat, möchte vielleicht vieles oder alles ändern, muss sich aber auch hier in ein paar Jahren fragen lassen, ob seine Wahl weise war.
Kompromisse sind schwer auszuhandeln und oft noch schwerer zu ertragen. Auch hier hatte der Stoiker Marc Aurel einen goldenen Gedanken: „Übe dich auch in den Dingen, an denen du verzweifelst.“