Am vierten Wochenende hintereinander gehen zigtausende Franzosen auf die Straße, um gegen Macrons Politik zu demonstrieren. Bei uns vor dem Haus ging es schon gegen acht Uhr morgens los. Zwei Autos mit Banlieue-Kennzeichen parkten in der kleinen Straße hinter unserem Haus und neun vermummte Gestalten torkelten ziemlich besoffen aus den Wagen und zerschmetterten ihre Billig-Whiskey-Flaschen an den eisernen Fensterläden unseres Hauses, die unser Concierge, Monsieur Gaston, in weiser Voraussicht fest verschlossen hatte.
Die Pariser haben schnell gelernt. Ein Blick auf unsere Avenue zeigte ein vorher noch nie gesehenes Bild: Es parkten keine Autos an den Straßenrändern. Normalerweise steht mein Auto in der zweiten Reihe, wenn ich meine Köfferchen in den Kofferraum laden will. Die Geschäfte, Brasserien und Restaurants sind geschlossen, viele Geschäfte mit Holzplatten verbarrikadiert oder mindestens die Waren ausgeräumt. Unser kleiner Quartier-Markt, der sieben Tage die Woche geöffnet hat, ist erstmalig komplett von der Straße verschwunden.
Was treibt die Franzosen in ihren gelben Warnwesten auf die Straße? Die Politik der Regierung Macron hat die Franzosen zutiefst enttäuscht. Reformen ja, aber sie müssen Sinn machen. Das Lebenskonzept vieler Mittelschichtfamilien ist in Gefahr zu kippen. Familien mit mehreren Kindern sind in Frankreich die Regel. Sie können sich die für deutsche Verhältnisse horrenden Mieten im Zentrum nicht leisten und sind in die immer noch teuren Vorstädte ausgewichen. Sie kommen gerade so über die Runden. Ein Häuschen auf Kredit, dafür wird täglich zweimal eine einstündige Fahrt zur Arbeit in Kauf genommen. Es wurde mit gutem Gewissen ein Diesel gekauft, der war nämlich billiger im Verbrauch und sollte die Umwelt weniger mit CO2 belasten – so tönten die Eliten vor einigen Jahren. 70 Prozent der PKWs sind daher heute Diesel und älter als acht Jahre.
Dann kam die Nullzinspolitik und mit ihr die schleichende Inflation, die immer größer werdende Löcher ins Portemonnaie der Familien knabbert. Der Diesel ist plötzlich out und der Kraftstoff wird teurer und teurer. Schon heute kostet ein Liter an der Bezahlautobahn zwei Euro. Und der hochgelobte Diesel wurde von denselben Leuten, die ihn noch vor fünf Jahren empfohlen hatten, ohne jedes Schuldgefühl zum Umweltschädling erklärt.
Mit Macron kamen grüne und linke weltfremde Ideen
Dann wurde Macron gewählt, um Le Pen zu verhindern. Strategisches Wählen zahlt sich aber für die Wähler nie aus. Denn mit Macron kamen viele grüne und noch mehr linke weltfremde Ideen. Macron und seine Mitstreiter wollen Probleme lösen, die keiner hat. Macron will sie mit dem Geld lösen, das die kleinen Leute nicht haben. Daher rief die Straße den Eliten zu: „Ihr redet vom Ende der Welt, wir aber reden vom Ende des Monats“.
Macron „verkündete“, weitere Ökosteuern einzuführen. Er will Strom und Kraftstoff verteuern. Er will gut funktionierende Kraftwerke abschalten und überall Windräder aufstellen lassen. Für die Franzosen sind Windräder hässliche Monster, welche sie in ihren schönen Landschaften nicht ausstehen können. Und überhaupt – wozu? Bei der Erreichung der CO2-Ziele liegt Frankreich in Europa auf dem achten Platz, Deutschland hingegen, weit abgeschlagen, auf Platz 24. Das liegt an der Kernenergie, die Macron ohne Sinn und Verstand reduzieren, aber nicht abschaffen will. Es ist für einen Franzosen schwierig, da einen Sinn hineinzuinterpretieren.
Die untere Mittelschicht in Frankreich weiß nicht mehr, wie sie ihren bescheidenen Lebensstandard bestreiten soll oder wo das Schulgeld herkommen soll. Das Vorbereitungsjahr auf eine der wichtigen Elite-Unis kostet für einen Abiturienten deutlich mehr als 10.000 Euro. Und natürlich sollen die Kinder studieren dürfen – alle drei. Macron hat nicht verstanden, dass er mit seiner Politik direkt die französischen Familien seiner Leistungsträger angegriffen hat. Er versteht es nicht, weil er keine Geldsorgen hat – seine Frau entstammt dem französischen Geldadel mit dickem Schweizer Konto. Macron hat keine Kinder und damit keine Ahnung von der Lebensrealität seiner Steuerzahler.
In den vergangenen drei Wochen hat Macron einen weiteren gigantischen Fehler gemacht. Zwei Wochen lang hat er sich über die Forderungen der Bürger in Schweigen gehüllt, dann arrogant hinweggesetzt und sich am Ende sogar lustig gemacht. Er sagte spöttisch: „Wir lösen die Probleme vom Ende des Monats und die vom Ende der Welt“.
Erst nach der Gewaltorgie begann die Regierung einzulenken
Während Macron sich letztes Wochenende vor seinen G20 Politiker-Kollegen mit seinen grünen Ambitionen beim Buenos-Aires-Gipfel großtat, brannte in Paris die Hütte. Die Casseurs hatten sich unter die Demonstranten gemischt und große Schäden angerichtet, sogar Nationalsymbole geschändet. Und nun, erst nach der Gewaltorgie, begann die Regierung einzulenken. Allerdings kakophon: Am Dienstag: Steuererhöhungen ausgesetzt für drei Monate, einen Tag später für sechs Monate und dann nach einem weiteren Tag um ein Jahr verschoben. Damit erkannte auch der letzte Franzose, dass die Regierung mit ihrem Einlenken NACH der Gewalt ein Zeichen gesetzt hat: Um sich Gehör zu verschaffen, braucht der Bürgerprotest Gewalt. Damit hatte letztendlich die Macron-Regierung die Casseurs erst legitimiert. Das ist nicht nur meine Ansicht, das ist mehrfach im französischen Fernsehen so geäußert worden.
Ein verstörendes Erlebnis hatte ich heute in der Rue Courcelles, etwa zwei Kilometer vom Demo-Brennpunkt Etoile entfernt. Eine Gruppe marodierender Nordafrikaner aus den Banlieues zog durch die Straße und demolierte Bushaltestellen und Autos, indem sie Spiegel abtraten und Scheiben einschlugen. Als sie versuchten, einen Smart umzuwerfen, verfluchte der Wagenbesitzer sie aus sicherer Entfernung von seinem Balkon aus. Ein paar Gilets Jaunes wollten sich ihnen in den Weg stellen und riefen: „Gilets Jaunes tun so etwas nicht“. Sie wurden augenblicklich von den Randalierern mit Tritten und Schlägen angegriffen und konnten gerade so flüchten. Ich begriff: Ohne Polizeischutz haben normale Bürger echten Gewalttätern kaum etwas entgegenzusetzen. Die Decke unserer Zivilisation ist zu dünn, und uns wurde die Gewalt abtrainiert.
Die Vorgehensweise der Ordnungskräfte an diesem Wochenende war vollkommen anders als letzten Samstag. Es gab heute in Paris offiziell 8.000 Demonstranten und 9.500 Ordnungskräfte von Gendarmerie und Polizei. Dabei muss man wissen, dass die Gendarmerie eine Armeeeinheit ist. Die Gendarmen waren mit gepanzerten Fahrzeugen ausgerüstet. Es waren auch berittene Staffeln im Einsatz; Reiter sind sehr effektiv, die Randalierer flüchteten in heller Panik vor den Pferden. Das Vorgehen der CRS-Kräfte war heute viel offensiver als in den letzten Wochen. Weiträumig waren sensible Bereiche abgesperrt. Aufflackernde Scharmützel wurden durch schnelles Vorrücken im Keim erstickt, die Feuerwehr konnte unter Polizeischutz in Brand gesetzte Dinge schnell löschen. Es gab über 1.000 Festnahmen und mehrere hundert Verhaftungen. Dreißig Menschen wurden verletzt. Insgesamt ist es an diesem Samstag sehr viel friedlicher abgegangen als letzte Woche.
Ein gutaussehender Blender
Auf den Champs-Elysées standen sich heute wieder Demonstranten und Polizei direkt gegenüber, friedlich und sich auf kürzeste Distanz unterhaltend. Da wurde sogar heftig geflirtet. Beide Seiten hegen nämlich große Sympathie füreinander. Die Gilets Jaunes, weil die Polizei sie vor den Randalierern schützt und die Polizei, weil die Demonstranten auch ihr Anliegen vertreten. Eine Polizeigewerkschaft hat sich der Bewegung schon angeschlossen. Ebenso Schüler und Studenten sowie die Bauern. Die Regierung ist in einem Dilemma. Die Demonstranten wollen „Macron soll zurücktreten“. Die Polizei will jede weitere Randale kategorisch unterdrücken.
Sollte es gelingen, dass die Demonstrationen friedlich weiter anwachsen, wird es für die abgehobenen französischen Etablierten und ihre weltfremden Projekte sehr ungemütlich. Die Glaubwürdigkeit von Macrons Regierung ist futsch, er wurde als das erkannt, was er ist – ein gutaussehender Blender. Dann heißt es womöglich bald wirklich: „Macron Demission“.
Manfred Haferburg ist Autor des Romans „Wohn-Haft“, der nun endlich auch im KUUUK-Verlag als Taschenbuch für 20 Euro erschienen ist.