„Wenn Wissen Macht ist, ist Unwissen Ohnmacht“, hat ein unbekannter Autor mal geschrieben. Ohnmacht heißt ja nicht nur „ohne Bewusstsein“, sondern auch ganz wörtlich „ohne Macht“. Das ist die Beschreibung des Zustandes, dass man nichts, aber auch rein gar nichts tun kann. Man muss „ohnmächtig“ zusehen, wie etwas geschieht, das man – eventuell oder tatsächlich – verhindern könnte, wenn man eingreifen könnte. Aber man kann nicht – aus welchen Gründen auch immer.
Dabei denke ich gar nicht an so extreme Fälle, dass der Ehemann gefesselt zusehen muss, wie seine Frau vergewaltigt und anschließend umgebracht wird. Oder die Kinder vor den Augen der Mutter erschossen oder erschlagen werden.
Mir schwebt vielmehr die Alltagssituation vor, dass man als Bürger der Politik vollkommen hilflos ausgeliefert ist. Dabei geht doch nach Artikel 20 Absatz 2 Satz 1 unseres Grundgesetzes alle Staatsgewalt vom Volke aus. Jedes Gerichtsurteil wird „im Namen des Volkes“ gesprochen. Und wie hieß (oder heißt?) es doch gleich: „Wir sind das Volk.“ Allerdings präzisiert die Verfassungsbestimmung die Aussage sofort durch den Satz „Sie [die Staatsgewalt] wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen … ausgeübt“, ansonsten durch die Repräsentanten von Legislative, Exekutive und Judikative. Machtausübung also nur alle vier (oder fünf) Jahre und nur mit der Möglichkeit, eine bestimmte Partei zu wählen oder den Kandidaten des Wahlkreises, dem man angehört.
Man wird verarscht und kann nichts tun
Als ich mich mal bei Bundestagspräsident Lammert darüber beklagte, dass die Verletzung des Amtseides bei Politikern keinerlei rechtliche Konsequenzen hat, erteilte mir seine Referentin Caroline Waldeck (die später ins Familienministerium wechselte, als Chefin des Redenschreiberteams und der Strategischen Planung, und zusammen mit Ministerin Kristina Schröder das Buch „Danke, emanzipiert sind wir selber“ schrieb) folgende Lektion in Staatsbürgerkunde (sie war damals, 2008, 31 Jahre alt):
„Zunächst möchte ich Sie darauf hinweisen, dass es keineswegs ohne Konsequenzen bleibt, wenn die Bürgerinnen und Bürger mit den Leistungen eines Politikers nicht zufrieden sind oder gar die Meinung vertreten, ein Politiker verletze seinen Amtseid. Unsere Verfassung gibt den Abgeordneten nur ein Mandat auf Zeit. Sind aber die Wähler der Auffassung, dass der Abgeordnete X sein Mandat nicht so ausgeführt hat, wie sie dies von ihm erwarten, so werden sie ihn nicht mehr wählen.“
Sie vergaß allerdings hinzuzufügen, dass die Möglichkeit – auch theoretisch – nur besteht, wenn es sich um den Abgeordneten des eigenen Wahlkreises handelt und dieser nicht über die Landesliste abgesegnet ist.
Das ist genau die Attitüde, die beim Bürger oder jedenfalls bei mir, dieses Ohnmachtsgefühl erzeugt: Du wirst verarscht, kannst aber nichts dagegen machen. Natürlich habe ich ihr geantwortet, aber das war mehr ein Akt psychischer Hygiene, ohne jede Wirksamkeit. Daran hätte sich auch nichts geändert, wenn sie wieder geantwortet hätte. Ich habe diese aalglatten Politgehilfen ja selbst hautnah erlebt. Von denen ist nichts zu erwarten, was in irgendeiner Weise ihrer Karriere schaden könnte. Verbal dagegen sind sie glühende Verteidiger von Demokratie, Meinungsfreiheit und Zivilcourage.
Ich kann kein Ei legen, aber ich weiß, wenn eines faul ist
Nun kann man dagegen einwenden: „Wenn dir das nicht passt, denn engagiere dich doch selbst politisch und arbeite an der Veränderung von innen.“ Ein scheinbar schlagendes Argument. Warum nur „scheinbar“? Weil es eben falsch ist. Jemand wie ich würde es in einer politischen Partei noch nicht einmal zum Kassierer im Ortsverein bringen. Es sei denn – es sei denn, er würde sich verbiegen, würde seine wahren Gedanken für sich behalten und mit den Wölfen heulen. Gut, könnte man ja mal versuchen und dann erst später die Katze aus dem Sack lassen. Ganz abgesehen davon, dass das einfacher klingt als es ist: Spätestens in dem Augenblick, in dem man die Maske fallen ließe, würde man abserviert. Ginge das nicht sofort, weil man schon zu weit oben ist, erfolgte die Demontage eben peu à peu.
Klar, die Schwäche dieser Argumentation liegt auf der Hand: Solange man’s nicht selbst ausprobiert hat, kann man es nicht mit letzter Gewissheit sagen. Außerdem gibt es eine Gefahr, die schwer zu kalkulieren ist: Wenn man sich lange genug verstellt und damit erfolgreich ist, merkt man die Verstellung eventuell selbst nicht mehr. Dann ist einfach keine Maske mehr da, die man fallen lassen könnte.
Okay, das ist alles spekulativ. Aber nicht jeder, der mit der Politik nicht einverstanden ist, muss deshalb gleich selbst in die Politik gehen. Oder wie Karl Kraus es formuliert hat: „Ich kann kein Ei legen, aber ich weiß, wenn eines faul ist.“ Es müsste also auch für den „normalen“ Bürger die Möglichkeit geben, mehr Einfluss zu nehmen, als dies derzeit der Fall ist. Ohnmacht kann auch gefährlich werden. Sie kann zu Magengeschwüren führen, diesen oder jenen aber auch zur Knarre greifen lassen oder, nicht ganz so dramatisch, in die Arme von „Rattenfängern“ treiben. Das ist dann ein Fall für Polizisten oder Psychologen, doch schwerlich für Politiker, wenn diese sich auch häufig lautstark einschalten. Sie haben sich aber viel zu lange verbogen, als dass sie ihre ausgetretenen Gedankenpfade noch verlassen könnten und sondern demzufolge meistens nur Wortmüll ab.
Wenn Ohnmacht gefährlich wird
Und dann gibt es noch eine ganz andere Ohnmacht, die ungleich furchtbarer ist: Wie mag sich ein Mensch fühlen, der unschuldig verurteilt wurde, wegen einer Straftat, die er gar nicht begangen hat? Und der seine Strafe auch noch verbüßt hat – bis zum letzten Tag?
Das ist sicher die schlimmste Form der Ohnmacht, weil sie dein Leben und meistens auch deine Familie zerstört und nach deiner Erlassung, wenn du dich nicht vorher umgebracht hast, nichts mehr so ist wie vorher. Doch damit nicht genug. Jetzt beginnt der demütigende Kampf mit der Versorgungsverwaltung um die Entschädigung, die ohnehin nichts wiedergutmachen kann und in der Regel nicht einmal ausreicht, die aufgelaufenen Kosten zu begleichen.
Ebenso schrecklich ist die, eingangs erwähnte, Ohnmacht eines Verbrechensopfers, das dem Täter hilflos ausgeliefert ist. Im Falle eines Mordes ist diese Ohnmacht mit Vollendung der Tat zwar beendet. Dafür leiden jetzt die Angehörigen, insbesondere der Ehepartner, die Eltern und Großeltern. Im Falle einer Vergewaltigung leidet aber auch das Opfer, auf Jahre, eventuell sein ganzes Leben lang. Weswegen ich bestimmte Formen der Vergewaltigung genauso entsetzlich finde wie einen Mord und deshalb auch genauso bestrafen würde. Also mit lebenslänglicher Freiheitsstrafe, die bei uns in der Regel ohnehin nur 15 Jahre dauert.
Wie man mit der „Ohnmacht“ fertig wird, hängt sicher von ihren jeweiligen Ursachen und der eigenen psychischen Verfassung ab. Ob man einem Betroffenen dabei helfen kann? Ich weiß es nicht.
In der nächsten Folge morgen lesen Sie: Im Strafverfahren haben wir es mit drei Kategorien von Betroffenen zu tun: dem Täter, dem Opfer und dem unschuldig Angeklagten und Verurteilten. Wie geht der Rechtsstaat, also ein Staat, dessen gesamtes Handeln durch das Recht begründet und begrenzt ist, mit den jeweils Betroffenen um?
Teil 2 dieser Serie finden Sie hier.