Ulli Kulke / 29.01.2020 / 12:00 / Foto: Pixabay / 58 / Seite ausdrucken

“Nie wieder” mit geschlossenen Augen

Ist es nicht auch eine Form von Antisemitismus, wenn sehr große Teile der Öffentlichkeit meinen, sich über die Aussagen von Juden über ihre persönlichen Erfahrungen mit Antisemitismus einfach hinwegsetzen zu können. Nur um die eigene Agenda unbeirrt fortsetzen zu können? Man schaue sich diese Studie der Universität Bielefeld an (vor allem Seite 20/21) – und man versteht die Welt nicht mehr, jedenfalls nicht mehr weite Strecken der Debatte über Antisemitismus in den letzten Tagen.

Die Bielefelder hatten 2017 eine umfangreiche Befragung unter Juden über ihre Erfahrung mit antisemitistischen Attacken durchgeführt (versteckte Andeutungen, verbale Beleidigungen, körperliche Angriffe). Dabei ordneten in den zwölf Monaten zuvor betroffene Juden die jeweiligen Täter oder Tätergruppen ein: Schon Linksradikale wurden von den Opfern etwa um ein Fünftel häufiger als Rechtsradikale als Täter ausgemacht. Dreieinhalb mal so häufig wie von Rechtsradikalen aber sahen sich betroffene Juden von Muslimen angegriffen. Dreieinhalb mal so häufig.

Ja, der rechtsextreme Antisemitismus ist schlimm, ja man muss den Antisemitismus aus dieser Ecke bekämpfen, wie es auch, ja, noch viele weitere Gründe gibt, gegen diese Ecke insgesamt vorzugehen. Ein Thema, ganz klar, auch am Tag der Befreiung von Auschwitz. Es ist aber gerade an so einem Tag auch unerträglich, wenn in allen offiziellen und offiziösen Reden, wenn sie denn den rechten Antisemitismus explizit erwähnen, der linke Antisemitismus, vor allem aber der aus der muslimischen Ecke – ich meine den hier bei uns im Lande – einfach totgeschwiegen wird. Ist der denn an so einem Tag salonfähiger? Obwohl er dreimal so stark ins Gewicht fällt, jedenfalls wenn man sich nach den wissenschaftlich ausgewerteten Äußerungen der Betroffenen richtet?

Und alles das, nur weil es auch eine andere Statistik gibt, eine sehr merkwürdige allerdings, des BKA nämlich, die – wie deren Autoren ja selbst freimütig eingestehen –jeden Fall von Antisemitismus, den sie nach Ermittlungen nicht sicher einordnen können, automatisch dem rechten Lager zuordnet?

Scheuklappen, Verdrängung, Vertuschung

Es ist nicht zu fassen. Was ist das für ein Verhältnis zur Wahrheit, zu den Ursachen, zu den Hintergründen des heutigen Antisemitismus? Scheuklappen, Verdrängung, Vertuschung – alles im Namen unserer Verantwortung vor der eigenen Vergangenheit? Und dieser Blick weit an der Realität vorbei soll dieser Verantwortung gerecht werden, soll dem „Nie wieder“ dienen? Wenn wir uns da mal nicht vertun.

Die Bielefelder Forscher ordnen ihre Zahlen ein, relativieren hier und da, wie sich das für Wissenschaftler gehört. Es ändert nichts daran: Sie dokumentieren und belegen eine Situation, an der die Debatte der letzten Tage meilenweit vorbei läuft. 

Andere Untersuchungen kommen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Das American Jewish Committee hat im vergangenen Sommer in einem Tweet auf eine Statistik des AJC / Ramer Institute hingewiesen, laut der die Zahlen der Bielefelder Forscher insgesamt auf ganz Europa zu übertragen wären. Auch die EU selbst hat im Jahr 2018 eine umfangreiche Studie über den Antisemitismus in der Gemeinschaft durchgeführt, die zum einen, was ganz Europa angeht, ähnliche Aussagen trifft. Und, zum zweiten: Die Angaben auf S. 54, die sich in einer Tabelle speziell auf Deutschland beziehen, zeigen dieselbe drastische Tendenz beim muslimischen Antisemitismus hierzulande wie die Bielefelder Studie. Wenn auch die Linksradikalen laut dieser Studie eine – etwas – kleinere Rolle als die Rechtsradikalen spielen.

Es ist fast schon beschämend, wie der junge CDU-Politiker Philipp Amthor, der es jetzt gewagt hat, den Antisemitismus unter den hiesigen Muslimen auch nur zu erwähnen, sich von grünen und linken Politikern hat zurückpfeifen lassen, obwohl diese nichts anderes vorgebracht haben, als dass sich so etwas angesichts der gerade wieder gedachten sechs Millionen ermordeter Juden einfach nicht gehöre. Mit anderen Worten: In diesen Tagen gibt es einen zu verurteilenden Antisemitismus und einen, den man wie selbstverständlich verschweigen sollte, auch wenn er dreimal so gewichtig ist. Der Elefant im Raum eben.

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Leserpost

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Dirk Jürgens / 29.01.2020

Es ist noch schlimmer: Antisemitismus darf es nur unter Deutschen ohne Migrationshintergrund geben. Zugleich sind die muslimischen Migranten in Deutschland die eigentlichen, aktuellen “Opfer” dieses rein deutschen “Antisemitismus”, die es zu beschützen gilt. Wer’s nicht glaubt, lese sich die Verlautbarungen von Sawsan Chebli durch. Merke: Wenn sich eine Schule in Berlin “Schule mit Courage - Schule ohne Rassismus” nennt, sollte man dort seine Kinder auf keinen Fall als Deutscher ohne Migrahu und erst recht nicht als Jude anmelden.

Peter Wichmann / 29.01.2020

„Was ist das für ein Verhältnis zur Wahrheit, zu den Ursachen, zu den Hintergründen des heutigen Antisemitismus?“. Es ist ein „Verhältnis“, das bemerkenswerterweise auch befördert wird von den „nicht wirklich der jüdischen Basis nahen Funktionäre(n) des Zentralrats der Juden in Deutschland, die sich wie stets in den Gutmenschenchor der islam-affinen Regierungs-Initiatoren der muslimischen Massenmigration einreih(en).“ (Dr. Rafael Korenzecher, Herausgeber der Jüdischen Rundschau, in seiner in derselben veröffentlichten ´Kolumne´ vom 26. Elul 5778 / 6.9.2018).

Andreas Rühl / 29.01.2020

Mich stört an der Bekämpfung des Antisemitismus der Kampf. Von Kampf zu Krampf ist es nicht weit. Ich glaube keine Sekunde daran, dass sich Phänomene wie der Antisemitismus “bekämpfen” lassen, d.h. im Ergebnis: ausrotten. Geht es um den Hass auf Juden, alles Jüdische, Israel? Wie soll man “Hass” bekämpfen, das ist unmöglich. Die Ursachen derartiger “Weltanschauungen” sind auch durch bessere Information nicht zu beseitigen. Wenn ein Buch gegen einen Kopf knallt und es klingt hohl… Kurzum: Wenn überhaupt, gibt es derzeit nur 2 für mich reale und gesellschaftlich relevante Anknüpfungspunkte: Der erste wäre, die Berichterstattung und die Information über den Staat Israel zu entemotionalisieren und zu versachlichen. Hier wird - auch heute wieder hörbar - immer noch die muslimische Mär vom jüdischen Landräuber verbreitet. Der zweite Anknüpfungspunkt sind die Muslime in unserem Land. Allein der schieren Zahl wegen und der offenen Judenfeindlichkeit. Ewiggestrige, Verschwörungstheoretiker, Rassenwahnbeseelte: Die gibts leider auch, aber sie wirken nicht wirklich in die Gesellschaft hinein. Das tun aber die erklärten Feinde Israels, etwa Maas, das tun Bischöfe, die bei dem Besuch einer Moschee auf dem Tempelberg das Kreuz ablegen voller Respekt gegenüber einer judenfeindlichen Religion, die die Ausrottung der Juden fordert, das tun die zahllosen Blogger und Schreiberlinge, die von einem muslimischen Judenhass einfach nichts wissen wollen oder ihn verharmlosen, da er nicht “deutsch” ist oder christlich, also dem Schlund der Hölle entstammt. Der Judenhass unserer Tage ist das Ergebnis einer linksgrünen Gutmenschenideologie, das ist die eigentliche Ironie an dem Phänomen.

Peter Holschke / 29.01.2020

Daran sieht man, dass eine Recht-Links-Zuordnung beliebig ist und am Kern des Problems vorbeigeht. Was soll das überhaupt sein? Rechts? Links? Schlagworte ohne Unterfütterung mit handfesten Attributen. Für mich zählt Freiheit, Aufklärung, Friedensliebe, Freundlichkeit, Gerechtigkeit und (echte) Toleranz - eben Gleichheit im Recht. Das haben weder Nazis noch Kommunisten im Köcher. Antisemitismus ist die billige Grundlage für Totalitarismus aller Farbschattierungen.  Judenhass ist Ausgrenzung, und Ausgrenzung ist die psychische Essenz totaler Ideologien. Man könnte auch schreiben, totale Systeme benötigen Verfolgungswahn. Durchaus zweideutig. Sie geben vor verfolgt zu werden, verfolgen aber selbst.  Der jüdische Glaube ist der Ursprung des Christentums und der Moslems. Es ist der alte Glaube, der Glaube der Alten. Verfolgung hat etwas mit Nachfolge zu tun. Das Natürliche drehen die totalen Systeme um. Sie folgen nicht nach, sondern sie wollen Juden (zurück)verfolgen und daher geraten sie immer in Barberei. Die lebenden Juden müssen ungefragt als exponierte Minderheit für den Zusammenhalt solcher Systeme herhalten. Das bietet sich an, das sie eine Gruppierung mit sehr langen Traditionen sind, auf die sich zudem alle anderen berufen. Es könnten auch andere Gruppen sein, welche für Ausgrenzungszwecke herhalten könnten. Aber jeder willkürliche Gruppenbestimmung hat nie das Gewicht von Jahrtausenden. Ich preise Israel, dass es Atombomben hat.

Sabine Lotus / 29.01.2020

Böse Zungen behaupten, daß das die logische Konsequenz ist, wenn einer “wegen Auschwitz” in die Politik geht.

Fritz kolb / 29.01.2020

Der große Karl Lagerfeld hatte es ausgesprochen, viele andere, die es auch wissen, ziehen dagegen den Schwanz ein. So wie die „junge Hoffnung“ der CDU , Philipp Amthor auch. Arme Würmchen sind das alles.

beat schaller / 29.01.2020

Passt doch, Herr Kulke,  locker bleiben und einfach in die Glanzparaden der deutschen Regierungsindustrie einreihen. Es ist leider wirklich nur noch zum Kotzen. Hoffentlich explodiert die ganze Sache endlich, denn so wäre zu mindest eine Chance für eine Veränderung. b.schaller

Wolfgang Kaufmann / 29.01.2020

Deutsch sein heißt angeblich, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun. Nein, deutsch sein heißt vor allem, eine Sache um seiner selbst willen zu tun. – Von nicht eine Ahnung, zu allem eine Meinung; wie das Kind, das einzig die Ich-Funktion im Fokus hat, die Kundgabe der eigenen Gesinnung, die Ausdrucksfunktion: „Ich will!“. Im Ex-Cathedra-Journalismus der braunen, roten und grünen Sozialisten kommt noch die Appellfunktion hinzu: „Du sollst!“. – Die dritte Dimension der Sprache, die Darstellungsfunktion, bleibt völlig außen vor, denn diese würde funktionierende Regelkreise zwischen Theorie und Wirklichkeit erfordern; beim Deutschen ein Blinder Fleck. Hölderlin nannte uns tatenarm und gedankenvoll. Heute sind wir meinungsstark und ahnungslos.

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