Der große alte Mann der isländischen Literatur Thor Vilhjálmsson gehört hierzulande eher zu den Geheimtipps, obwohl seine Bedeutung kaum zu unterschätzen ist.
Der 1925 geborene Vagabund aus Überzeugung, Reisen war seine bevorzugte Lebensform, war es, der mit seinen zahlreichen Romanen, Erzählungen, Gedichtbänden, Dramen, Reise-, und Kunstbüchern maßgeblich zur Erneuerung der isländischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg beigetragen hat.
Schon sein erstes Buch, geschrieben während seines Paris- Aufenthalts setzte das Thema, das sich wie ein roter Faden durch sein Werk zieht: „Der Mensch ist immer allein“.
Auch der Held seines letzten Romans „Morgengebet“ Sturla Sighvatsson, ein Mitglied der mächtigen Sturlungen-Familie, die der Sturlunga saga ihren Namen gab, ist allein von Kindesbeinen an. Der Leser begegnet ihm zum ersten mal im Alter von neun Jahren auf einem Berg, hoch über dem väterlichen Anwesen. Von Beginn an wird man in die magische, von archaischen Gespenstern und Erscheinungen beherrschte Welt der Insel hineingezogen. Im Gegensatz zu seinem unsteten Leben ist der Erzählstil Vilhjámssons von einer ungewohnten Langsamkeit und Intensität. Mit der Akribie einer chinesischen Tuschezeichnung malt er die Details der Landschaft im Wechsel des Lichts und der Jahreszeiten, bis man das Gefühl hat, ganz in den Bildern aufzugehen. Der Roman ist eine Abfolge von Momentaufnahmen aus Sturlas Leben: eine beinahe tödliche Bootsfahrt im Sturm in seiner Jugend, seine Wanderungen als Krieger oder als Pilger nach Rom, seine Begegnung mit den Großen seiner Zeit, die Ehe mit einer Frau, die er begehrt hat, der er aber niemals nahe war, der Tod seines Bruders, , die verschiedenen Schlachtfelder, auf denen er die Alleinherrschaft über Island erringen wollte, sein endgültiges Scheitern in der letzten, entscheidenden Auseinandersetzung , in der Schlacht bei Orlygsstadir. Am Ende hat man das Gefühl, dabei gewesen zu sein, den unerträglichen Kontrast zwischen den sich in der Morgensonne wiegenden Blumen und den blutigen Fleischfetzen aus zerhackten Kriegerkörpern, die bald das goldschimmernde Idyll bedecken, selbst gespürt zu haben. Sturla zögert am Morgen seiner letzten Schlacht einen Augenblick, um seinen Männern ein wenig länger den Genuß der Schönheit ihrer Heimat zu gönnen. Dann aber gibt er das Signal zum Kampf, denn er ist zwar fähig, seine Fehler zu erkennen, nicht aber, sie zu korrigieren.
Morgengebet, um aus der Verlagswerbung zu zitieren, ist „eine einzigartige Verbindung von Historischem und Zeitlosen; dem Streben nach Idealen, dem Verhältnis von Irdischem zum Jenseitigen..“
Es führt den Leser in eine fremde Welt, die bald so vertraut wird, dass man anfängt, sich nach ihr zu sehnen.
Vilhjálmsson, dem alle, die ihn kannten, eine unglaubliche Vitalität und Präsenz bis in seine letzten Tage hinein bescheinigen, war es nicht mehr vergönnt, sein Buch auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu präsentieren. Er starb im März diesen Jahres 86ig jährig in Reykjavik.
Morgengebet ist der bleibende Beweis, dass die Europäische Literatur einen ihrer ganz Großen verloren hat.