In den letzten Jahrzehnten haben wir uns daran gewöhnt zu glauben, wir könnten die Welt frei gestalten. Mittlerweile hat sich dieser Glaube, der naturwissenschaftlich und mathematisch unbegründet ist, zu einem regelrechten Machbarkeitswahn entwickelt. Dieser Wahn ist gefährlich, weil er zu illusorischem politischen Handeln führt. Wie ist er entstanden und wo sehen wir seine Konsequenzen?
Der Machbarkeitswahn ist aus vielen Gründen entstanden. Ein sehr wichtiger Faktor ist die Prägung unseres öffentlichen Diskurses durch Geistes- und Sozialwissenschaftler, die, wenn man Wirtschaftswissenschaften, Psychologie und Jura dazurechnet, die Mehrheit unserer Uni-Absolventen und erst recht der gesellschaftlichen Elite ausmachen. Aus Sicht eines durchschnittlichen Geisteswissenschaftlers haben die Naturwissenschaftler und Ingenieure uns eine komfortable Welt hingestellt, die wir technisch beherrschen und in der sich Wohlstand und Konsummöglichkeiten immer weiter ausdehnen.
Doch in Wirklichkeit ist der Anteil der Natur, den wir technisch in den Griff bekommen können, winzig. Große Teile der unbelebten Natur und fast das gesamte Leben auf unserem Planeten können wir mathematisch nicht modellieren, was schon Henry Bergson zu Anfang des 20. Jahrhunderts erkannte. Denn der größte Teil unserer Umwelt und auch unser eigenes Leib-Seele-Kontinuum sind komplexe Systeme. Diese haben Eigenschaften, die sich der mathematischen Modellierung mit Differentialgleichungen und anderen prädiktiven Verfahren entziehen. Der Anteil der Natur, für den wir exakte Modelle berechnen können, ist sehr klein. Daher sind auch unsere technischen Möglichkeiten eng umschrieben: Systeme, die wir nicht modellieren können, können wir nicht technisch verändern.
Doch weil die Wirkung des wenigen an Modellierung, das wir leisten können, für das Leben des Einzelnen in den letzten 150 Jahren so bedeutsam war, glauben die meisten Menschen, die Technik könne Wunder vollbringen. Dies ist gefährlicher Machbarkeitswahn.
Betrachten wir drei Beispiele für die Gefährlichkeit dieses Wahns: Wirtschaftspolitik, Klimapolitik und Seuchenpolitik.
Erstes Beispiel. Als Geistes- und Sozialwissenschaftler 1993 die Einführung des Euros beschlossen, war die gemeinsame Idee, die politische Einigung Europas durch eine gemeinsame Währung zu beschleunigen. Kritiker warnten, dass ein gemeinsamer Währungsraum mit starken Diskrepanzen der Produktivität der Teilnehmer und großen Handelsbilanzungleichgewichten bei fehlender Deckung der Kapitalverkehrsdefizite (der US-Dollar ist dagegen durch die Goldreserven der Banken der einzelnen Bundesstaaten geschützt) und stark eingeschränkter Mobilität der Arbeitsbevölkerung (der US-Arbeitsmarkt ist fluide, der europäische nicht) scheitern müsse. Dies ist im Wesentlichen Grundwissen der Volkswirtschaftslehre.
Doch darauf wurde nicht gehört, sondern eine sozialtechnische Machbarkeit mit Hilfe der Zentralbank postuliert. Nun haben sich im Euroraum Billionen von Schulden aufgetürmt, die die privaten und staatlichen Schuldner den Gläubigern nie zurückzahlen können. Das größte nicht-kriegerische Sozialexperiment aller Zeiten steht kurz vor dem Scheitern, das sich unweigerlich vollziehen wird, falls die große Rezession im Herbst voll durchschlägt. Der Machbarkeitswahn könnte zum kollektiven Staatsbankrott der Euroländer führen, doch werden die sparsamen Nordländer, die Handelsbilanzüberschüsse erzeugt haben, den über Jahrzehnte akkumulierten Überkonsum der lateineuropäischen Länder bezahlen müssen. Wer leidet am meisten? Die Unterschicht. Die politischen Folgen dürften in allen Ländern sehr unangenehm werden.
Zweites Beispiel. Vor einigen Jahrzehnten kam man auf die Idee, der beobachtete Klimawandel, den niemand ernsthaft abstreitet, sei anthropogen. Diese Hypothese ist physikalisch nicht bewiesen oder beweisbar, da das Klima ein komplexes System ist, das sich über sehr lange Zeiträume entwickelt. Die momentane Klimaphase, das Känozoikum mit vereisten Polkappen ist weltgeschichtlich ein Ausnahmezustand, der seit 34 Millionen Jahren währt. Wir können das Klimasystem nicht mathematisch modellieren, weil es komplex ist und unsere Modelle diese Komplexität nicht abbilden können. Dennoch haben Geistes- und Sozialwissenschaftler (denn auch die meisten Klimaforscher gehören streng mathematisch betrachtet – anders als Geophysiker – in diese Kategorie, da sie keine seriösen mathematischen Modelle nutzen) beschlossen, dass der Klimawandel anthropogen sei.
Wieder wurde naturwissenschaftliches Wissen ignoriert
In Deutschland und der Schweiz hat man deswegen mit der “Klimarettung” begonnen, dem aus physikalischer Sicht völlig wahnhaften Unterfangen, mit technischen Mitteln das Klima der Erde zu ändern. Weil gleichzeitig die Kernenergie abgewickelt werden soll, bekommen wir bald Energiemangel. Wenn dieser Mangel zu den ersten Toten führt – wie bei einem längeren großflächigen Stromausfall – oder die Konsummöglichkeiten dadurch schwinden, wird man damit aufhören. Doch bis dahin geht der Machbarkeitswahn zur „Klimarettung“ weiter. Am meisten darunter leiden werden, wie fast immer, die Ärmsten in den „Entwicklungsländern“ und der prekären Schichten in den Industrieländern.
Drittes Beispiel. Im letzten Jahr ist in China das Grippe-Virus SARS-Cov2 auffällig geworden, das etwas infektiöser ist als Influenza, welches aber, wie wir seit Ende Februar durch die Daten der Diamond Princess wissen, höchstwahrscheinlich etwa so gefährlich wie dieses ist. Wie haben wir reagiert? Geistes- und Sozialwissenschaftler haben, unterstützt von einer kleinen, nicht-repräsentativen Minderheit von Virologen, die sich gegen den wissenschaftlichen Konsens gestellt haben, entschieden, das Virus zu „bekämpfen“. Nun wissen wir, dass ein Virus, das eine R-Rate von 3 hat und über Tröpfcheninfektion übertragen wird, sich nur stoppen lässt, wenn die Bevölkerung durchseucht ist oder ein Impfstoff gefunden wird. Bei der Durchseuchung, die maximal drei bis vier Monate dauert, fallen die Toten entsprechend der Mortalität an – daran kann man nichts ändern, man kann das Sterben nur ein wenig verzögern. Und sollte die Hochrisikogruppen möglichst schützen.
Eine Impfstoffentwicklung dauert bei sehr viel Glück hingegen nur zwei bis drei Jahre. Das ist Basiswissen der Virologie, Epidemiologie und Biotechnologie. Der Versuch der Bekämpfung des Virus ist also Ausdruck von Machbarkeitswahn. Wieder wurde naturwissenschaftliches Wissen ignoriert. Das Ergebnis: Kein einziger Toter wird verhindert, da ein alter Mensch, der an Immunversagen unter der Virusinfektion stirbt, nicht therapierbar ist, es also gar keinen Mangel an Therapieplätzen gab. Auf der anderen Seite wurden viele notwendige Therapien nicht durchgeführt oder verschleppt – mit tödlichen Folgen. Zusätzlich wurde die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Wer leidet am meisten? Die Ärmsten der Armen und die sozial Schwachen.
Wann endet die Herrschaft des Machbarkeitswahns? Wenn Scheitern auf breiter Front uns wieder Bescheidenheit und Demut lehren. Leider steht uns dieser schmerzhafte Prozess nun bevor. Danach werden Geistes- und Sozialwissenschaftler hoffentlich wieder etwas bescheidener auftreten. Möglicherweise wird man dann wieder aufmerksamer auf die nüchterne Stimme der Naturwissenschaftler hören, die sagen können, was man ausrechnen kann und was nicht und was man daher lieber nicht tun sollte.
Johannes Eisleben ist Arzt und Mathematiker und arbeitet als Systeminformatiker. Er lebt mit seiner Familie bei München.