Weil die Politik nicht handelt, wird die Zeit, das Ruder herumzuwerfen, immer knapper. Die moralische Erpressung hindert die Menschen am Widerstand. Während die Konflikte immer offensichtlicher werden, wird klar, dass wir nicht darauf vorbereitet sind. Letzter Teil der Reihe.
Entscheidend für die Gegenwart ist, dass es keinen politischen Willen zur Umkehr gibt und in den Medien nach wie vor alles dafür getan wird, die Probleme, wie Raspail in seinem Roman schreibt, mit Zuckergebäck zuzukleistern. Keiner der führenden Politiker oder Leitjournalisten wagt es, die aktuelle Dynamik bis an ihr Ende zu denken, niemand traut sich, die entscheidenden Fragen zu stellen. Naives Wunschdenken und ein abgeschwächtes „Wir-schaffen-das“ decken noch immer alle drängenden Fragen zu, obschon in der Bevölkerung der Unmut über die Zustände stetig wächst und immer mehr Kommunalpolitiker darauf verweisen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, die täglich Ankommenden zu versorgen, geschweige denn zu integrieren. Von Letzterem spricht sowieso kaum jemand mehr.
Das aktuell beklagte Erstarken sog. rechter oder populistischer Parteien in Ländern wie Italien, Schweden, Norwegen, Holland, Österreich oder Dänemark hat seinen Grund im Wesentlichen darin, dass die etablierten Parteien keine Antworten auf die aktuellen Probleme der massenhaften Zuwanderung haben oder sich ängstlich wegducken, um ja nicht dem Vorwurf des Rassismus oder der Unmenschlichkeit anheimzufallen. Der Aufstieg der in den Leitmedien gerne als populistisch abgewerteten Parteien geht nicht zufällig synchron mit einer schleichenden Auflösung der europäischen Nationalstaaten einher, deren Grundlage stets homogene Gesellschaften waren. Mit der Globalisierung und der Masseneinwanderung sind letztere im Verschwinden.
An ihre Stelle treten – das hat der Pulitzer-Preisträger Arthur Schlesinger bereits 1991 in seinem Buch The Disuniting of America für die USA beschrieben – separierte ethnische und religiöse Gemeinschaften, die Solidarität nur noch innerhalb ihrer Gruppe kennen und das in vielen Fällen auch nie anders gekannt haben: eines der größten Hindernisse für die Integration von Zuwanderern aus traditionalen Gesellschaften, die im Staat und seinen Organen vielfach nur einen abstrakten Feind sehen, der lediglich für die Bezahlung von Sozialleistungen gut ist. Man kann sich vorstellen, was es bedeutet, wenn partikularistische Interessen von ethnischen oder religiösen Gemeinschaften auf eine Gesellschaft treffen, die jeder lautstarken Minderheit, meist auf Druck linksgrüner Politiker und diverser Lobbys, vorauseilend Sonderrechte zuspricht.
Man liebt den Fernsten und hasst den renitenten Nachbarn
Dass diejenigen der deutschen Wähler, die sich nicht mehr von ihren politischen Repräsentanten vertreten fühlen und bei der nächsten Möglichkeit die AfD wählen, von den staatstragenden Medien als „rechtsextrem“ oder Nazis bezeichnet werden, war vorherzusehen. Wahlen in Demokratien haben aber auch den Sinn und Zweck, gegen alternativlose Bündnisse zu votieren. Insofern müsste die von der Ampelkoalition praktisch aufgegebene Bevölkerung, die nicht Teil der großen wirtschaftlichen Transformation des Green Deals oder der Willkommenskultur sein will, vollkommen autoritätsfixiert sein, würden sie immer noch Parteien wie die SPD wählen, die ihre Interessen längst einer anderen Klientel zugewandt hat.
Die aktuelle linksgrüne Regierung ist der Repräsentant eines von den realen Problemen des Landes längst abgehobenen Klasse. Die moralisch erhöhende Haltung, alle, die sich nicht den weltoffenen Chargon des Juste Milieu angeeignet haben, als rassistisch zu denunzieren, ist selbst im besten Sinne sozialrassistisch zu nennen. Die Abscheu auf alles Ländliche, Provinzielle, den apolitischen Arbeiter, den „kleinen Mann“, die Abwertung der Praktiker vor Ort, Polizisten, Lehrerinnen, die Verachtung der Kneipe oder des Stammtisches – dieser Hass, der sich in einem aggressiven Antirassismus manifestiert, ist in Deutschland weit verbreitet. Man liebt den Fernsten und hasst den Nachbarn, der sich der verordneten Willkommenskultur verweigert, mit aller sonst nicht vorhandenen Leidenschaft.
Die derzeitige Regierung, wie auch bereits in den Merkeljahren praktiziert, verweigert, was Politik auch definiert: den Einsatz von staatlicher, geregelter Macht, den Schutz der eigenen Grenzen und seiner Bürger. Macht und Machtpolitik hat in Deutschland einen schlechten Ruf. Machtausübung und Recht schließen sich aber nicht aus. Macht ist nicht Gewalt, wie Hannah Arendt in ihren Arbeiten zur politischen Philosophie immer wieder betont hat: Macht gehört in der Tat zum Wesen aller staatlichen Gemeinwesen, ja aller irgendwie organisierten Gruppen, Gewalt jedoch nicht. Macht als Medium der Politik stützt sich am Ende, auch wenn das heute in unserer Gesellschaft kaum mehr sichtbar ist oder sein darf, aber auf physische Gewalt. Auch ein Grenzschutz in demokratischen Ländern hat ohne faktische Machtmittel keinen Sinn. Wer das leugnet, muss konsequenterweise alle Kontrollen einstellen und jeden ins Land lassen („No Border“).
Politik, die ernsthaft Politik sein will, kommt ohne den Einsatz von Machtmitteln und der darin implizit beinhalteten Selbstbehauptung nicht aus. Natürlich werden viele Vertreter des „hellen Deutschland“ diese Aussage ablehnen und auf die postheroische Gesellschaft verweisen, die Europa längst kennzeichnet. Was aber, wenn ihre unbestreitbaren Vorteile und erprobten Handlungsabläufe auf essentielle Entscheidungen in Krisensituationen treffen? Die Entwicklung hin zu den postheroischen Gesellschaften des Westens geht nicht mit globalen Prozessen in weiten Teilen der Welt synchron, in denen ein exorbitanter Bevölkerungsüberschuss und das Erstarken des islamischen Fundamentalismus eine destruktive Dynamik entfalten, auf die wir keine Antworten haben.
In einer Krisensituation ist die gedankliche und praktische Tabuisierung von Handlungsmöglichkeiten unter Einsatz von Machtmitteln eine schwerwiegende Hypothek. Die gegenwärtigen Probleme der Masseneinwanderung sind eine ununterbrochene Folge von aufgeschobenen Entscheidungen, die danach durch alle möglichen rhetorischen Wendungen als legitim, notwendig und alternativlos erklärt werden. In Wirklichkeit wird nichts entschieden und der zeitliche Druck durch das Nicht-Handeln verstärkt. Der normale Bürger steht heute fassungslos vor einer untätigen Regierung, die die prekäre Situation im Einklang mit Medien, NGOs und Kirchenoberen weiter verschärft. Erinnern wir an dieser Stelle nochmals an Hannah Arendt:
„Was den Institutionen und Gesetzen eines Landes Macht verleiht, ist die Unterstützung des Volkes, die wiederum nur die Fortsetzung jenes ursprünglichen Konsenses ist, welcher Institutionen und Gesetze ins Leben gerufen hat.“
Nun ist ein Punkt erreicht, an dem die Ampelregierung zumindest mit verbalen Beruhigungsfloskeln reagieren muss. Das ansonsten vehement vermiedene Unwort „Kontrollverlust“ wird angesichts der derzeitigen steigenden Einwanderungszahlen aktuell von allen Parteien verwendet. Die Kommunen sind bereits restlos überfordert und verlangen einen Zuwanderungsstopp, da die Probleme vor Ort immer mehr eskalieren. Es braucht keine detaillierte soziologische Expertise, um zum Schluss zu kommen, dass Migranten aus kollektivistischen, zutiefst verrohten und korrupten Staaten wie Afghanistan, Syrien, Marokko oder dem Irak eine Gefahr für unsere Gesellschaft sein können, insbesondere da sie auf eine Justiz und eine Polizei treffen, die auf die gewaltsamen Auseinandersetzungen innerhalb ethnischer und religiöser Gruppen nicht vorbereitet ist.
Gewalttätige Formen der „Konfliktlösung“ werden zunehmen
Nimmt man noch die enttäuschten Erwartungen hinzu, das Ausharren in Massenunterkünften, das Fehlen einer Leistungs- und Arbeitskultur, Voraussetzungen, um in der westlich-säkularen Gesellschaft zu reüssieren, Sprachbarrieren und religiöse Dogmen, so ist es keine gewagte Prognose – und bereits täglich Realität –, dass in deutschen und westeuropäischen Städten in Zukunft gewalttätige Formen der „Konfliktlösung“ immer öfter der Fall sein werden. Noch werden die täglichen Übergriffe, wenn überhaupt, in den regierungstreuen Medien als „Einzelfälle“ verhandelt, die jede Gegenstimme als populistisch abwertet. Plötzlich sind derzeit aber Aussagen zu hören, die bis dato als AfD-Speech galten und in die rechtsextreme Ecke gestellt wurden.
Natürlich muss man die angekündigten verschärften Regeln und Einwanderungskontrollen kurz vor den Wahlen in Bayern und Hessen als Wahlkampftaktik betrachten, um die eigenen Wähler ruhigzustellen und sie nicht an die AfD zu verlieren. Wird sich aber unter dem Druck der Verhältnisse irgendetwas Konkretes ändern? Blicken wir zurück, dann wird seit der Ära Merkel über eine europäische Lösung gesprochen; wie wir heute wissen, ohne irgendeinen Effekt, betrachtet man die realen Entwicklungen der letzten Jahre. Die gerade beschlossene EU-Krisenverordnung und der wieder einmal angerufene Migrationspakt bleiben mit ziemlicher Sicherheit folgenlos. Auch der Versuch, Länder wie Tunesien mit Geld zu ködern oder diverse Staaten zur Rücknahme ihrer Bürger zu bewegen, muss als gescheitert gelten.
Im 21. Jahrhundert werden Migrationsströme auch als nicht-militärische, moralische Waffe eingesetzt, um auf internationale und nationale Machtverhältnisse in anderen Staaten Einfluss zu nehmen. Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Kelly Greenhill zeigt in ihrem Buch Weapons of Mass Migration, dass zwangsgesteuerte Migration oder Wanderungsbewegungen, die vorsätzlich ausgelöst oder manipuliert werden, dazu dienen, politische, militärische, beziehungsweise wirtschaftliche Zugeständnisse von einem Zielstaat oder mehreren Zielstaaten zu erreichen. Der bekannteste Vertreter einer solchen Politik war der inzwischen gestürzte und getötete libysche Staatspräsident Muammar al-Gaddafi. Er wusste um das Erpressungspotenzial der Drohung, afrikanische Flüchtlinge zu Tausenden über das Mittelmeer nach Europa zu schicken. Damit verschaffte er sich einen politischen Freiraum und großzügiges Entgegenkommen des Westens. Zumindest solange er nicht in Ungnade fiel und mit tatkräftiger Unterstützung aus dem Westen beseitigt wurde.
Anfällig für eine Politik der moralischen Erpressung
Die Folgen sind heute an den Stränden Libyens, Tunesiens sowie Süditaliens zu beobachten. Gaddafis Rolle hat inzwischen der türkische Staatspräsident Erdogan übernommen. Das zeigt nicht zuletzt der jüngste geopolitische Aufstieg der Türkei. Er hängt untrennbar mit der Flüchtlingskrise 2015 zusammen, da die Türkei spätestens mit dem Zustandekommen des damaligen „Flüchtlingsdeals“ ein gewichtiges Wort hinsichtlich der deutschen und europäischen Sicherheitslage mitzureden hat. Damit hat sich die Türkei vom Bittsteller vor den Türen der EU zu einem Forderungssteller verwandelt, wesentlich forciert durch die fatale Politik der Regierung Merkel.
Demokratien sind besonders anfällig für eine Politik der moralischen Erpressung. Die westlichen Regierungen haben unter dem Zeichen des moralischen Universalismus den Anspruch, die Menschenrechte weltweit zu schützen. Daher sind sie geneigt, allen moralischen Erpressungsversuchen nachzugeben. Allerdings rufen sie damit immer mehr den Unmut und den Widerstand innerhalb der eigenen Bevölkerungen hervor. So wird der gesellschaftliche Zusammenhalt weiter zerstört. Ein Vorgang, der sich seit dem Beginn der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 in ganz Westeuropa, speziell aber in der Bundesrepublik, eindringlich beobachten lässt.
Die moralische Schwäche des Westens und sein Desinteresse an der eigenen Kultur steht bei Raspail im Mittelpunkt seines Romans. In gewisser Weise ist das Heerlager der Heiligen eine literarische Adaption von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Der französische Monarchist Raspail sieht in der Verachtung des Eigenen, der Leugnung von Geschichte, Tradition und etablierter Werte den eigentlichen Grund für den Niedergang unserer Kultur. Das mag der Hörer für übertrieben halten, aber mit erstaunlicher Präzision nimmt Raspail die Reaktion der Medien, der Politik und der Kirchen angesichts der gegenwärtigen Migrationskrise vorweg. Die unheilvolle Symbiose von Medien und Politik, die moralische Überhöhung und die tägliche Propaganda, die den normalen Bürger von der Richtigkeit der Aufnahme aller Beladenen der Erde überzeugen will, hat Raspail vor 50 Jahren prophetisch vorhergesehen.
Kann Europa seine Grenzen vor dem Ansturm illegaler Einwanderer schützen?
Jeder Selbstbehauptungswille kommt heute unweigerlich in das Fahrwasser des Völkischen, Nationalistischen oder Rassistischen. Partikulare Bewegungen werden aber, wie die Wahlergebnisse in vielen europäischen Ländern zeigen, angesichts der Entwicklungen in den europäischen Staaten zunehmen. Die massive Spaltung innerhalb (nicht nur) der deutschen Gesellschaft in Fragen von Einwanderung und Migration ist vielleicht die verhängnisvollste Entwicklung seit dem Sommer 2015. Denn der moralische Universalismus muss, so Rolf-Peter Sieferle, die Realität verdrängen, da er sonst in sich zusammenbricht:
„Der Universalist verbindet Moral mit Illusion; der Nationalist dagegen Realismus mit Ressentiment. Der Hauptvorwurf, den der neutrale Beobachter dem Universalisten machen muss, zielt daher auf seine Illusionsfähigkeit, seine Identifikation von guter Gesinnung mit gutem Ausgang. Er schließt die Augen vor der Härte der Probleme, weil nur so sein konsequenter Moralismus möglich ist.“
Es genügt am Ende, einfache Fragen zu stellen. Niemand kommt etwa an der Frage vorbei, wie viele Einwanderer denn Deutschland aufnehmen und alimentieren kann. 1 Million, 5 Millionen, 10 Millionen? Selbst der naivste Zeitgenosse wird wohl zugestehen, dass es eine Grenze für die Aufnahme gibt. Wenn das aber breiter gesellschaftlicher Konsens ist – und davon kann man selbst in einem Land wie Deutschland ausgehen –, dann gibt es nur eine einzige relevante Frage zu stellen, neben der alle anderen Makulatur sind: Ist Deutschland, respektive Europa, in der Lage, seine Grenzen vor dem Ansturm illegaler Einwanderer zu schützen? An dieser alles entscheidenden Frage wird am Ende niemand vorbeikommen. Weitere Optionen sehe ich momentan keine, lasse mich aber gerne vom Gegenteil überzeugen.
Zum Teil irreversible Entwicklungen
Die andere, oft zitierte Lösungsmöglichkeit, die Ursachen für den Massenexodus in Ländern wie Syrien, Irak, Afghanistan oder Somalia zu beseitigen, halte ich angesichts der Erfahrungen der letzten Jahrzehnte für vollkommen unrealistisch und puren Populismus. Man kann wichtige und unangenehme Entscheidungen aufschieben, am Ende wird man sich ihnen trotzdem stellen müssen. Die Zeit wird aber immer knapper und es ist mehr als fraglich, ob eine Umkehr noch möglich ist, da zum Teil irreversible Entwicklungen angestoßen wurden.
Der bereits zitierte SPD-Politiker Martin Neuffer hat so zweifellos recht, wenn er bereits 1982 schreibt:
„Natürlich müssen wir helfen – sogar bis an die Grenzen unserer Leistungsfähigkeit und unter großen eigenen Opfern. Aber unser kleines Land kann nicht zur Zuflucht aller Bedrängten der Erde werden. Es bleibt uns keine andere Wahl, als das Asylrecht drastisch einzuschränken. Damit sollte aber nicht so lange gewartet werden, bis die ersten Millionen schon hier sind und die Binnenprobleme bereits eine unlösbare Größenordnung erreicht haben. Wir müssen die Frage unverzüglich diskutieren und entscheiden.“
Bis heute darf diese Frage in Deutschland aber noch nicht einmal gestellt werden. Ob sich das unter dem Druck der Verhältnisse ändern wird, muss offenbleiben.
Dieser Text ist ein Vortrag, den der Autor am 8. Oktober 2023 für die Reihe Audimax des Radiosenders „Kontrafunk“ gehalten hat.
Teil 1 finden Sie hier.
Teil 2 finden Sie hier.
Dr. Alexander Meschnig studierte Psychologie und Pädagogik in Innsbruck und promovierte in Politikwissenschaften an der HU Berlin. Auf Achgut.com analysiert er unter mentalitätsgeschichtlicher und psychologischer Perspektive die politische Situation Deutschlands.