Der linke Antisemitismus hat seine Wurzeln in der linken Besessenheit vom Aufstand der Unterdrückten. Seit der Emanzipation der westlichen Arbeiter weckt der rückwärtsgewandte Islam die kritiklose Sympathie der Linken.
Am 9. November 1969 deponieren Mitglieder der linksextremen Tupamaros Westberlin eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus, die während einer Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht 1938 explodieren soll. Zum Glück für die Anwesenden ist der Zünder nicht intakt und so kommt niemand zu Schaden. In einem Bekennerschreiben der Gruppe heißt es unter „Schalom + Napalm“:
„Jede Feierstunde in Westberlin und in der BRD unterschlägt, dass die Kristallnacht von 1938 heute täglich von den Zionisten in den besetzten Gebieten, in den Flüchtlingslagern und in den israelischen Gefängnissen wiederholt wird. Aus den vom Faschismus vertriebenen Juden sind selbst Faschisten geworden, die in Kollaboration mit dem amerikanischen Kapital das palästinensische Volk ausradieren wollen.“
Nach dem Massaker der Hamas an Zivilisten in Israel am 7. Oktober 2023 vergingen nur wenige Tage, und die über 1.400 jüdischen Opfer – erschossen, vergewaltigt und bei lebendigem Leib verbrannt – waren vergessen. Stattdessen setzte das Klagen über die Lage der palästinensischen Zivilbevölkerung ein, eine Bevölkerung, die in weiten Teilen ein paar Tagen zuvor die Ermordung Unschuldiger frenetisch in den Straßen Gazas gefeiert hatte. Jetzt waren sie in den Augen der Weltmeinung wieder ausschließlich die Opfer einer überlegenen israelischen Militärmacht.
Dass unmittelbar nach den Massenmorden der Hamas von einer Mitschuld Israels die Rede war – UN-Generalsekretär Gutierres sprach davon, dass der Angriff nicht in einem „luftleeren Raum“ erfolgte –, passte in das übliche Narrativ: die Palästinenser als Opfer der jüdischen Politik. Die Juden sind – siehe das Eingangszitat – selbst zu Faschisten geworden die – auch ein Gemeinplatz – einen Genozid an den unschuldigen Palästinensern begehen, der wohl einzige Genozid in der Geschichte, bei dem die Bevölkerungszahl sich nicht verringert, sondern vervierfacht hat.
Hass auf alles Jüdische
Der aktuell oft gehörte Vorwurf, Israel sei ein Apartheidstaat und verübe einen Massenmord an der arabischen Bevölkerung, hat auf Seiten der Linken eine lange Vorgeschichte. Viele Mitglieder der Roten Armee Fraktion (RAF), etwa Baader, Ensslin und Meinhof, wurden in arabischen Ausbildungscamps auf den bewaffneten Kampf gegen die „Zionisten“ vorbereitet. Ein Hauptziel ihrer Aktionen lag darin, Flugzeuge der israelischen El Al zu kapern, Piloten, Stewardessen und Passagiere zu ermorden und den jüdischen Staat zu erpressen, um Gefangene freizubekommen.
Ein tief sitzender Hass auf alles Jüdische fand in der Erklärung der RAF nach dem Anschlag auf die israelische Olympia-Mannschaft 1972 in München seinen deutlichen Ausdruck. Die Ermordung der israelischen Sportler durch das palästinensische Kommando „Schwarzer September“ galt in den Augen der RAF als „gleichzeitig antiimperialistisch, antifaschistisch und internationalistisch“. „Israels Nazifaschismus“ habe nur erhalten, was er verdiene. Die von vielen Linken noch heute verehrte Ulrike Meinhof verstieg sich sogar zu der These, die israelische Regierung habe ihre Sportler „verheizt wie die Nazis die Juden“.
Im Prinzip haben wir es hier mit einer einfachen Schuldumkehr zu tun, die psychische Entlastung bringt. Wenn das einstige Opfer heute eine große Schuld auf sich lädt, sind wir als ehemalige Täter davon befreit, denn es zeigt nur deutlich, dass die Juden „nicht besser“ als wir sind, im Gegenteil: „Wir“ haben unsere historische Lektion längst gelernt, während sich die Juden nach Auschwitz immer noch als lernresistent erweisen. Indem man die israelische Politik mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleichsetzt, wird die historische Verantwortung für die Verfolgung der Juden verkleinert.
Die Deutschen, „die aus ihrer Geschichte gelernt haben“, werten sich, wie auch in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 zu beobachten, selbst zu den moralisch besseren Menschen auf. Die eigene Schuld kann psychisch bewältigt werden, indem man die Opfer des Holocaust nun selbst der Täterschaft überführt, da die Juden ihre (arabischen) Nachbarn unterdrücken und sich wie Kolonialherren, ja schlimmer noch, wie Nazis benehmen. In den Augen vieler Deutscher ist Israel ein Apartheidstaat, der die Palästinenser seit ewigen Zeiten unterdrückt, ihnen ihr Land genommen hat und sie in ihrer Entfaltung behindert. Die „Heiligsprechung“ der Palästinenser durch die europäische und amerikanische Linke dauert nun schon Jahrzehnte an und selbst die grausamsten Taten, wie die vom 7. Oktober, ändern daran nichts.
„Emotionalisierte Solidarität mit den sogenannten Unterdrückten“
In dieser Logik geht die begehrte Opferposition auf die Palästinenser und generalisiert auf alle Muslime über. Das erklärt auch die ungeheure Nachsicht, die man den größten Massakern und Anschlägen der Islamisten entgegenbringt, denn sie sind ja selbst nur der Ausdruck der Verzweiflung eines durch Israel (und die USA) drangsalierten Volkes und insofern folgerichtig, da nur noch Gewalt und Terror ihnen Gehör verschafft. Für die in den westlichen Universitäten blühenden „Post Colonial Studies“ gilt Israel als Kolonialmacht und seine Bewohner als „weiß“, also per se als schuldig. Das weit verbreitete Narrativ, das sich quer durch unsere Gesellschaften zieht, ist die psychisch tief verankerte Vorstellung von Unten und Oben, Arm und Reich, das Gefühl auf Kosten Anderer zu leben, auf die einfache und eingängige Formel gebracht: „Da wir so reich sind, sind sie so arm.“
Der „Antikolonialismus“, der auf die Verbrechen der weißen Europäer – und Israel gilt als „weißes Land“ – zielt, deren Expansion sozusagen das Grundübel in die Welt brachte, bedient sich dieser Formel auf exzessive Weise und besteht im Kern, so der Althistoriker Egon Flaig, aus einer „emotionalisierten Solidarität mit den sogenannten Unterdrückten“ die jederzeit abgerufen werden kann. Zwar ist die religiös begründete Erbsünde heute in den westlichen Ländern nicht mehr von Bedeutung, sie kehrt aber, gewissermaßen säkularisiert, in Schuldbekenntnissen für die Benachteiligten und Unterdrückten, etwa in Afrika oder der islamisch-arabischen Welt, zurück. Der israelische Autor Mordechay Lewy schreibt in seinem Aufsatz „Orient und Okzident“:
„Der Antikolonialismus, der Antikapitalismus und der Affekt gegen die Globalisierung speisen sich aus solchen Schuldgefühlen, die man gegenüber der Dritten Welt empfindet. Trotz seines Erdölreichtums ist der Orient in dieses Opferbild eingeschlossen. Damit hat er Anteil an der Schlüsselgewalt der zu vergebenden Absolution.“
„Der Islam, zur Religion der Armen erhoben“
Symbolisch dafür steht eine kurz nach dem 7. Oktober stattfindende Sitzblockade vor dem Auswärtigen Amt, bei der etwa 100 junge Menschen gegen die deutsche Unterstützung Israels demonstrierten. Ihr Motto lautete: Free Palestine from German guilt, was schon ziemlich genau der rechtsradikalen Forderung, sich endlich vom Schuldkult zu verabschieden, entspricht. Die jungen Antisemiten mit Immatrikulationshintergrund treffen derzeit auf eine Menge Gleichgesinnte: Araber, Türken, linke Politiker, LGBTQ-Bewegte aber auch biedere Bürger, die lautstark die Verbrechen der Israel Defense Forces (IDF) beklagen und die Juden als die neuen Nazis sehen, die nichts aus ihrer Geschichte gelernt haben.
Die Solidarität mit Palästina wird lautstark skandiert und Israel als Kindermörder denunziert. Dabei kommt es vielfach zu absurden Szenen, so sah man etwa bei den Massenaufmärschen gegen den israelischen Staat Plakate mit der Aufschrift: „Queers for Palestine.“ Dass die hier Protestierenden im Gazastreifen unter der Herrschaft der Hamas kaum einen Tag überleben würden, dieser offensichtliche Widerspruch fiel niemandem der Beteiligten auf.
Die populäre linke Erzählung vom Aufstand der Unterdrückten fand, nachdem der Proletarier abgedankt hat, im Palästinenser und allgemein im Islam ein neues revolutionäres Subjekt. Der mit der Revolution im Iran in das westliche Bewusstsein tretende Islam kann als die Fortschreibung der großen Erzählung von der Erhebung der Erniedrigten und Beleidigten interpretiert werden. Die iranische Revolution war streng antiwestlich, antikapitalistisch und antiamerikanisch ausgerichtet. Der französische Soziologe Pascal Bruckner verweist zu Recht auf den fast nahtlosen Übergang der Linken vom Kommunismus zum Islam als Ersatzobjekt der eigenen Wunschphantasien:
„Ein Teil der amerikanischen und europäischen Linken hat sich zur Verteidigung dieses rückwärtsgewandten Islams mobilisieren lassen. Man könnte das die neobolschewistische Bigotterie der verirrten Anhänger des Marxismus nennen. Die Linke, die alles verloren hat, die Arbeiterklasse und die dritte Welt, klammert sich an diese Illusion: Der Islam, zur Religion der Armen erhoben, wird für die desillusionierten Kämpfer zur letzten Utopie, zum Ersatz für Kommunismus und Entkolonialisierung.“
„Steigender anti-muslimischer Rassismus“
Auch wenn der Iran danach, wie davor schon die meisten Tropensozialismen und Drittweltdiktaturen, seine ehemaligen Bewunderer enttäuscht hat, das Bild der islamischen Welt ist bis heute – siehe etwa die erfolgreichen Bücher des ehemaligen CDU-Politikers Jürgen Todenhöfer oder des als Islamexperten hofierten Michael Lüders – eines des Opfers jahrzehntelanger imperialer Dominanz und Gewalt geblieben, mit den Palästinensern als neuer Gallionsfigur. Die Gender-Ikone der Linken, Judith Butler, kann deshalb öffentlich erklären: „Ja, ich glaube, es ist extrem wichtig, Hamas und Hisbollah als soziale, progressive Bewegungen zu verstehen, die zur Linken gehören, die Teil der globalen Linken sind.“
Nicht umsonst bejubelte die linke und zutiefst rassistische „Black Lives Matter“-Bewegung das palästinensische Massaker durch die Hamas in Israel auf ihrer Website, und auch für die antikapitalistischen Klimahysteriker von „Fridays for Future” (FFF) ist Israel ein Land des „Neokolonialismus“ und der „Apartheid“. Schon einige Monate vor dem Angriff der Hamas, Anfang 2023 schrieb FFF offiziell in den sozialen Medien: „Wir als Fridays for Future, als antikoloniale, internationalistische Klimagerechtigkeitsbewegung, stehen vereint auf der Seite der Palästinenser und des palästinensischen Widerstands gegen diese unmenschlichen Verbrechen. Viva Palästinensische Freiheit! Yallah Intifada!“
Nach dem Massaker vom 7. Oktober konnte sich auch die Klima-Ikone Greta Thunberg nicht zurückhalten und leitete auf Instagram einen Aufruf zum Generalstreik für Gaza weiter (Achgut berichtete). Zumindest distanzierte sich aber der deutsche Ableger von FFF, namentlich Luisa Neubauer, von ihrer weltweiten Schwesternorganisation, beklagte aber zugleich den „steigenden anti-muslimischen Rassismus“ in Deutschland.
Israel ist der Kolonialherr
Entscheidend für die Sicht der politisch Linken ist heute, dass der Staat Israel als ein (weißes) Kolonialprojekt betrachtet wird, was Selbstmordattentate und grausamste Anschläge gegen ihn legitimiert, da den unterdrückten Arabern gar keine andere Wahl bleibe. Die sogenannte „Postcolonial Studies“ folgen der einfachen und manichäischen Formel einer Spaltung der Welt in den reichen Norden und den armen Süden, in Unterdrücker und Unterdrückte, in denen die Rollen ein für allemal klar verteilt sind. Oben und Unten, Täter und Opfer sind in dieser Logik trennscharf zu unterscheiden, Ambivalenzen und sichtbare Widersprüche werden einfach beiseitegeschoben.
Israel ist der Kolonialherr und seine Staatsgründung ein (neo)kolonialer Akt, der im Kern die (halluzinierte) Vernichtung der Palästinenser zum Ziel hat. In Deutschland sind sehr viele Bürger der Meinung, dass Israel derzeit in Gaza zahlreiche Verbrechen an unschuldigen Zivilisten verübt und die Welt dazu schweigt. Die dem Angriff der IDF vorangegangenen grausamen Taten der Hamas sind inzwischen kaum mehr Thema und längst – unter dem Druck der Straße und der Massenproteste in unseren Städten – vom palästinensischen Leid abgelöst. Für viele postkoloniale Linke (nicht nur in Deutschland) verkörpert Israel das Böse schlechthin.
Der vielbeschworene Antikolonialismus dient dabei der Rechtfertigung palästinensischen Terrors, denn es ist ja das unterdrückte Opfer das sich mit allen Mitteln gegen einen übermächtigen Gegner wehrt. Das Fatale ist, dass der Israelhass, der von den linken Anhängern der „Decolonize-Bewegung“ ausgeht, in den letzten Jahren Universitäten, Publizistik, die (sozialen) Medien und Kultureinrichtungen erfasst hat und auf breite Zustimmung stößt, wie jede Recherche etwa auf Facebook, Twitter (X) oder in den Leserkommentaren der Zeitungen zum gegenwärtigen Krieg Israels gegen die Hamas zeigt. Von einer Solidarität mit Israel und der jüdischen Bevölkerung sind wir weit entfernt, und es ist insbesondere die Linke, die nicht verstehen will, dass es schon längst nicht mehr alleine um die israelische, sondern auch um unsere Zukunft geht, wenn es uns nicht gelingt, den islamistischen Terror einzudämmen.
Dieser Text erschien zuerst in der Dezemberausgabe der Jüdischen Rundschau.
Dr. Alexander Meschnig studierte Psychologie und Pädagogik in Innsbruck und promovierte in Politikwissenschaften an der HU Berlin. Auf Achgut.com analysiert er unter mentalitätsgeschichtlicher und psychologischer Perspektive die politische Situation Deutschlands.