Thilo Schneider / 19.03.2021 / 14:00 / Foto: Timo Raab / 33 / Seite ausdrucken

Maikes Grenze

Es gibt Geschichten, die kann man sich nicht ausdenken. Oder doch. Eine wahrhaft tragische Geschichte hat beispielsweise Maike Neuendorff sozusagen erfühlt. Sie war nämlich, aus dem Shithole-Country Deutschland kommend, plötzlich nach – bitte setzen Sie sich – ENGLAND geflüchtet. Also: fast geflüchtet. Ihr weißer Cis-Mann hatte dort eine, wie ich annehme, recht üppig dotierte Anstellung gefunden. Und hat sie, warum auch immer, mitgenommen. Sozusagen abgeschleppt.

Aber Maike Neuendorff hatte Glück. Nach 10 Jahren, zwei Geburten und einem „Master in Illustration am Camberwell College of Arts“ (auf Deutsch: „Malkurs bestanden“) ging es zurück in die gute alte Heimat. Wohin genau, verrät auch das Impressum ihrer Homepage nicht, ich vermute jedoch, es ging zurück in diese schreckliche Provinz, in der noch das Faustrecht herrscht. Berlin oder Wuppertal oder Uelzen oder so. Und deshalb kann die Maike jetzt von ihren Fluchterfahrungen in der FAZ unter dem Titel „Warum wir uns als Familie im Ausland fremd fühlten“ berichten. Angeteasert hat die FAZ den larmoyanten Artikel mit dem Text: „Es war eine schöne Zeit. Und doch erkannte sie: Auch wenn man die Sprache spricht, kann man sich fremd fühlen“. Oh ja! Geht mir beispielsweise bei jedem Offenbach-Besuch so. Auch wenn ich mittlerweile ein paar Schimpfworte auf Russisch, Arabisch und Türkisch kann. Die ich tunlichst nicht anwende. Ich bin ja nicht lebensmüde.

Auf Facebook wird die FAZ noch deutlicher: „Fern von Heimat, Familie, vertrauter Sprache und Kultur wurde ihr bewusst, wie das für Geflüchtete sein muss.“

Ich gebe zu, ich habe den kompletten Artikel nicht gelesen, denn bei einem derartigen Teaser kann mich nicht einmal die 30-Tage-FAZ-Schnuppermitgliedschaft davon überzeugen, mir einen Text zu geben, der so beginnt: „Wir waren noch keinen Monat verheiratet, als mich mein Mann in meiner Mittagspause anrief: ,Die Stelle in London wird frei, und wenn ich sie möchte, kann ich sie haben!‘ Das war nun wirklich eine verrückte Überraschung.“ Nun, ich vermute, dass es für jemanden, der bei einem internationalen Konzern arbeitet und auf „die Stelle in London“ schielt, keine wirkliche Überraschung ist, wenn diese innerbetrieblich ausgeschrieben wird und er diese angeboten bekommt. Eine „verrückte Überraschung“ wäre gewesen, wenn er erfahren hätte, dass die komplette Königsfamilie ausgerottet wurde und er als einziger Überlebender aus dem Stamm königlicher Bastarde nächste Woche in St. Pauls statt Westminster Abbey gekrönt wird. Aber ich schweife ab. Es geht ja um Maikes „bewusst werden, wie das für Geflüchtete sein muss“.    

Lange 30 Minuten gibt es nichts zu essen

Ich stelle mir vor, wie die Maike mit dem Maike-Mann bei Dünkirchen am Ärmelkanal steht und, wie weiland das Britische Expeditionskorps, auf irgendwelche Schlauchboote wartet, die in der Kanalmitte ein englisches NGO-Schiff anlaufen, das dann die Neuendorffs nach Dover schippert. Selbstverständlich hat das Schiff nicht genug Lebensmittel für alle geretteten Geflüchteten, lange 30 Minuten gibt es nichts zu essen, bis der Kreidefelsen auftaucht und Hoffnung verkündet. Kaum hat die „HMS George Floyd“ angelegt, steht Maike mit dem Maike-Mann in der Schlange zur Registrierung. Pech: Sie hat bei der Flucht aus der Lüneburger Heide ihren Personalausweis verloren, aber der Maike-Mann war pfiffig genug, seine eigene Identity-Card mit dem Handy zu fotografieren und außerdem hat er ja eine Arbeitserlaubnis und einen Job. „Ei has an Arbeit, ei has an Arbeit“, ruft er dem Polizeibeamten zu. Der kontrolliert kurz die Bescheinigung und packt die beiden dann in den Bus nach London.

Dort angekommen, geht es erst einmal in ein Zelt des Roten Kreuzes, es muss erst eine Bleibe gesucht werden. Das dauert jedoch Maike und dem Maike-Mann zu lange, und nach einer Stunde langen und bangen Wartens fackeln sie das Zelt ab. Sofort bemüht sich die „German refugees welcome“-NGO um eine Wohnung in der Londoner City, man muss seinen Wünschen nur Nachdruck verleihen.

Am nächsten Tag geht der Maike-Mann das erste Mal zur Arbeit – und Maike? Die hockt daheim und büffelt erst einmal Englisch. Sie will sich schließlich integrieren. Bevorzugt verlässt sie das Haus in der Morgendämmerung oder abends, wenn nicht so viele Engländer auf der Straße sind, die sie wegen ihrer nicht-roten Haare hänseln, und geht einkaufen. Gleich in der Nachbarschaft gibt es einen Aldi. Sicher, einen englischen Aldi, aber auf Bier – auch, wenn es englisches Bier ist – will sie ungern verzichten. Sie lernt einen Metzger kennen, der in einem Hinterhof gerne mal ein Schwein abschlachtet und ihr dann Schnitzel und Haxen verkauft, sie mag kein „Fish´n´Chips“. Der Maike-Mann auch nicht.

Ach, hier herrscht Linksverkehr?

Etwas unwohl ist ihr auch wegen und in der Deutschen Community in London. Sie fühlt den sozialen Druck, Dirndl und Zöpfe tragen zu müssen, obwohl sie das eigentlich nicht möchte. Aber der gebrochene Unterkiefer ihrer aus Greding stammenden Nachbarin ist ihr eine stetige Warnung. Sie sei „gegen eine Tür gelaufen“, sagt sie, die Nachbarin. Und so sitzt Maike tagein, tagaus zu Hause, während der Maike-Mann über Tage in einem der Büro-Türme der City malocht. Sie fehlen ihr, die gute Bergluft, das Rauschen der Tannen und der Geruch der Lüneburger Heideblumen. Am meisten aber vermisst sie die Spiele und die Atmosphäre auf dem Fußballplatz des FC Oldenstadt-Uelzen, englischer Fußball ist rau, rücksichtslos und langweilig. Sie lernt Englisch, gebiert zwei Söhne und macht einen Malkurs.

Aber es ist nicht das Gleiche. Sie ist keine Engländerin, und sie wird nie eine sein. Sie versteht die Umrechnungskurse von Euro in Pfund und umgekehrt nicht, und ihr einziger Versuch, einen PKW zu bewegen, endet fast in einem Frontalaufprall, weil sie vergessen hat, dass in England Linksverkehr herrscht. Seitdem benutzt sie in London an den wenigen Tagen, an denen sie sich vor die Türe traut, die unübersichtliche U-Bahn und verfährt sich öfter. Sie trägt jetzt stets Dirndl, um nicht von herumlungernden arbeitslosen Jungdeutschen wegen ihrer unzüchtigen Kleidung angesprochen zu werden. Ihr Lichtblick sind die zwei wöchentlichen Telefonate mit ihrer Familie, die in der Heide ziemlich zurückgeblieben ist und denen sie heimlich Geld überweist. Ansonsten malt sie und sieht über Satellit ARD und ZDF. Das BBC-Programm ist ihr, trotz ihrer mittlerweile recht annehmbaren Englisch-Kenntnisse, immer noch ein Rätsel. Sie sind fremd und seltsam, die Engländer. „Verrückt wie Märzhasen“, wie ihr Kaiser und Ehemann zu sagen pflegt. 

Endlich, nach zehn langen Jahren in der unverständlichen Fremde, in diesem so seltsamen und unnahbaren Kulturkreis, hat der Maike-Mann ein Einsehen und kehrt mit ihr in das von Angela Merkel verwüstete Deutschland zurück. Zurück zu Bier, Schweinsbraten und sonntäglichem Kirchgang, den sie doch so vermisst hat. Ja, Maike kann jetzt auch von ihrer Fluchterfahrung berichten und warum sie nie in England heimisch wurde. Eine tragische Geschichte mit einem guten Ausgang. Die Zeit in England hat sie geprägt, auch, wenn sie sich das nicht eingestehen mag. Denn wenn Maike heute das Haus verlässt, dann summt sie „Rule, Britannia!“

(Weitere rethilotische Geschichten des Autors unter www.politticker.de)

 

Von Thilo Schneider ist soeben in der Achgut-Edition erschienen: The Dark Side of the Mittelschicht, Achgut-Edition, 224 Seiten, 22 Euro

Foto: Timo Raab

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A. Tretzmueller / 19.03.2021

Lieber Herr Schneider. Ihre Artikel sind absolut brillant zu lesen, vor allem für jemanden, der mehr als 10 Jahren in London (und den Großteil seines Lebens außerhalb seines deutschsprachigen Heimatlandes) verbracht hat. Die in dem Artikel von Fr. Neuendorff dargelegte Einstellung ist aber leider kein Einzelfall. Ich nenne es das „Annette Dittert -Syndrom“. Wenn Sie das Buch „London Calling: Als Deutsche auf der Brexit-Insel“ der langjährigen Londoner ARD-Korrespondentin gelesen haben (oder einen ihrer Brexit Kommentare aus englischer Sicht über sich ergehen lassen mussten), dann können Sie sicher nachvollziehen, dass man hier oft aufschreien möchte: „You can get a German out of Germany, but you can’t get the German out of a German“.

R. Gutbrod / 19.03.2021

Klasse, Herr Schneider. Ich hab das in der FAZ angefangen zu lesen und dann recht schnell aufgehört. Jeder kann ja seinen Mist irgendwie loswerden. Aber daß die FAZ solch einer lächerlichen Figur auch noch eine Plattform für ihren geistigen Müll bietet zeigt, daß das Blatt schon länger am Ende ist. Ich bin ein alter weißer Mann (ü. 70), habe diese Zeitung (und andere Pressererzeugnisse, die ich heute nicht mal mehr zum Einpacken von Fischabfällen benutzen würde) auch jahrzehntelang parallel gelesen. Und schon in den 80ern angefangen abzuschaffen.  Traurig, traurig, traurig (Theo Lingen). Und ich habe mal gedacht, daß die dafür verantwortlichen Pressekonzerne, aufwachen, wenn man ihnen die Kohle entzieht.  Ätsch, Ätsch. Dann springt doch der Steuerzahler ein.  Also, ich will jetzt hier kein Verständnis für die RAF-Leute entwickeln. Gleichwohl beginne ich zu verstehen, daß die sich damals genau so ohnmächtig gefühlt haben müssen wie ich mich heute.

Wolf-Dieter Busch / 19.03.2021

Malkurs bestanden: Großartig!

K. Schmidt / 19.03.2021

Während den Massenbewegungen in den Jahren 15 und 16 stand immer sowas in den Zeitungen, wie das Leute von Italien nach Deutschland geflüchtet sind oder über den Ärmelkanal zu den Briten oder von Dänemark nach Schweden. Und einmal da ist sogar eine Familie von der Schweiz zurück nach Syrien “geflüchtet”.  Das stand wirklich so in den Zeitungen. So etwas prägt dann auch die deutsche Expat-Gattin, die sich wahrscheinlich nach der heimischen Ideologiebeschallung sehnt.

Jörg Eysfelder / 19.03.2021

Schneider, Mann Gottes…...ich kann nicht mehr; ich bekomme keine Luft mehr vor Lachen! Ganz grosses Tennis; vielen Dank für diesen Auftakt zum Wochenende. :-)

B. Dietrich / 19.03.2021

Hat mich schon diese zu Herzen gehende Fluchtgeschichte zu Tränen gerührt, so bin ich nach dem genialen “Rethilotius” endgültig kollabiert. Noch mehr solche Geschichten und mich trifft der Schlag – ‘mit und an Covid19’ natürlich…

Michael Palusch / 19.03.2021

“„Fern von Heimat, Familie, vertrauter Sprache und Kultur” EINSPRUCH! Heimat? Familie? Kultur? Ist das nicht Nazi? Jedenfalls wusste die FAZ noch am 31.08.2017 darüber zu berichten: Aydan Özoguz: ” „Eine spezifisch deutsche Kultur ist, jenseits der Sprache, schlicht nicht identifizierbar.“”  

Helmut Bühler / 19.03.2021

Eine schöne, zu Herzen gehende Geschichte. Mögen alle Geflüchteten, die bei uns ihr Leben fristen müssen, neue Hoffnung schöpfen: In spätestens 10 Jahren dürft Ihr wieder nach Hause.

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