Richard Wagner / 17.03.2010 / 07:52 / 0 / Seite ausdrucken

Leipzig liegt nicht am Meer

Morgen beginnt die Leipziger Buchmesse, und morgen wird man uns auch verraten, wer von der Shortlist den Preisträger geben wird. Ehrlich gesagt, es interessiert mich nicht wirklich. So muss ich auch gar nicht warten, bis morgen der Roman der Messe gekürt ist, und mich auch nicht an den Spekulationen, warum es nun dieser geworden ist, und nicht jener andere, obwohl es doch auch der andere hätte sein können, beteiligen.

Mich interessiert ein ganz anderes Buch, das dieser Tage erschienen ist, ohne auf die Shortlist zu kommen, und es auch nicht nötig hatte, man kann es ja auch so lesen. Die Rede ist von Hans Joachim Schädlich’s „Kokoschkins Reise “. Kokoschkin, der Held, ist ein Exilrusse und Amerikaner. Was interessiert mich an einer solchen Person?

Nun. Kokoschkin ist nicht einfach nur eine literarische Figur, er ist der Sohn eines real existierenden russischen Politikers. Sein Vater war führend bei den konstitutionellen Demokraten, kurz Kadetten, und als solcher Mitglied in der provisorischen Revolutions- Regierung Kerenski. Er wurde von den Bolschewiken ermordet. Über diese Vorgänge weiß man heute allgemein wenig. Dass die Geburtsstunde des Kommunismus als Machtinhaber eine Stunde der Gewalt war, wirft von Anfang an ein hartes Schlaglicht auf die Utopie, wie sie im 20. Jahrhundert zum Zuge kam, und von vielen Literaten auch unterstützt wurde. Das Buch ruft die allzu oft verharmlosten und vergessenen kriminelle Züge des Kommunismus in Erinnerung.

Die literarische Figur ist in einer hochkarätigen Exilszene verankert, die sich von Odessa über Berlin und Paris bis nach Amerika erstreckt. Kokoschkins Mutter ist eng befreundet mit Nina Berberova und deren Lebensgefährten, dem Dichter Chodassewitsch. Damit wird auf den die Kultur zerstörenden, den barbarischen Ansatz des Bolschewismus verwiesen, es ist aber auch eine Hommage an die große Chronistin des Exils Nina Berberova.

Eine ganz große Verbeugung gilt dem Schriftsteller Ivan Bunin, erster russischer Nobelpreisträger, und in der Sowjetunion persona non grata. Aus seinen Werken zitiert Schädlich sogar zwei längere Passagen. (Mit Quellenangabe!). Es sind zwei sehr private Stellen, in beiden geht es um Gefühle, um die Liebe. Anlass ist der Flirt mit der Tischnachbarin auf dem Schiff. Warum als Zitat, und warum von Bunin? Die Dame fragt: Wer hat es geschrieben?, und Kokoschkin antwortet: “Sie ahnen es. Bunin. Ich ziehe Sie in meine russische Welt.“ Was diese russische Welt einmal bedeutet hat, man kann es heute nur noch erahnen. Oder erschreiben, wie Schädlich.

Die im Lakonischen unübertreffliche Erzählung beinhaltet auch eine kurze Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Text ist trotz seiner vordergründigen Privatheit eminent politisch. Alle Großereignisse werden angesprochen, und, mit diesen in Verbindung, auch die Rolle von Schriftstellern. Manche von ihnen kommen gar nicht gut weg, Rolland beispielsweise, und ganz besonders Gorki, und das, mit gutem Grund. Sie haben sich bei den Verbrechern nützlich gemacht.

Nun ist die Sicht auf das Ganze gewissermaßen abgemildert durch die Orte der Diskussionen darüber, die Restaurants und Bars auf einem Luxusliner im Jahr 2005. Das ist eine vom Autor wohl ganz bewusst herbeigeführte künstliche Situation. Wer reist schon in dieser Zeit mit dem Schiff über den Atlantik? Geht es um eine aussterbende Spezies, und sind es die letzten clownesken Vertreter einer untergegangenen Welt? Der Nachspann, sozusagen?

Die Welt dieser Schiffe gehört der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts an. Auf solchen Schiffen waren Thomas Mann und Anna Seghers. Was ist diese Schiffsreise im nachhinein? Ist es mehr das Bild der Titanic oder die Rettung ins amerikanische Exil?

Kokoschkins Leben ist auf den ersten Blick gar nicht politisch. Er ist bloß mit einem untrüglichen Sinn für die Redlichkeit und für die persönliche Freiheit ausgestattet. So geht er als junger Mann aus Deutschland 1933 fort. Besonders aufschlussreich aber ist die kleine Szene 1968 in der Tschechoslowakei, als er sich am Vorabend des Einmarsches der Sowjettruppen überstürzt nach Österreich absetzt, er,  der amerikanische Tourist, als treibe ihn ein altes, schwer zu benennendes Gespür für die Gefahr.

Die Erzählung, die die Reisen Kokoschkins versammelt, ist letzten Endes auch eine Lebensreise durch das 20. Jahrhundert, von den Verschattungen des Altersgefühls geprägt. Sie spricht, mal mehr, mal weniger direkt, auch von den großen Gefahren und Gefährdungen. In den Schiffsgesprächen wird auch auf aktuelle Ausformungen der Gefahr angespielt. Islamismus etwa und politische Korrektheit. Was Kokoschkin davon hält? Was sein Gespür ihm sagt? Es ist nicht zuletzt auch eine Frage für uns. Übernehmen Sie, geneigter Leser.

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